BT-Drucksache 17/10524

Besteuerung von im Ausland lebenden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern (Nachfrage zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/10292)

Vom 22. August 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10524
17. Wahlperiode 22. 08. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Sevim Dag˘delen, Dr. Rosemarie
Hein, Harald Koch, Petra Pau, Paul Schäfer (Köln), Frank Tempel, Kathrin Vogler,
Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Besteuerung von im Ausland lebenden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeitern
(Nachfrage zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage auf
Bundestagsdrucksache 17/10292)

NS-Opfer, die von den Nazis zur Zwangsarbeit ins Reichsgebiet verschleppt
worden waren, können Anspruch auf Leistungen der Deutschen Rentenver-
sicherung haben. Seit 2005 unterliegen Renten an Bezieher im Ausland der
Steuerpflicht in Deutschland. Gesetzliche Regelungen, NS-Opfer hiervon aus-
zunehmen, haben sich als unzureichend bzw. zu uneindeutig erwiesen. Ins-
besondere in Belgien hat der Versand von Steuerbescheiden an NS-Opfer er-
hebliche Verärgerung hervorgerufen.

Die Fragesteller hatten sich bereits in einer Kleinen Anfrage nach der Proble-
matik erkundigt, die Ausführungen der Bundesregierung in ihrer Antwort auf
Bundestagsdrucksache 17/10292 lassen jedoch einige Fragen offen, die auch
eine Nachfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke beim Bundesministerium der
Finanzen nicht vollständig klären konnte.

Unklar ist insbesondere die Frage, ob sämtliche ehemaligen Zwangsarbeiterin-
nen und Zwangsarbeiter steuerbefreit sind, oder nur diejenigen, die als NS-Ver-
folgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt sind.

Einerseits weist die Bundesregierung in ihrer Vorbemerkung darauf hin,
Rechtsgrundlage für die Befreiung von Sozialversicherungsrenten an „Geschä-
digte“ des Nationalsozialismus sei § 3 Nummer 8a des Einkommensteuerge-
setzes (EStG). Dieser sieht eine Befreiung nur für Verfolgte „im Sinne des § 1
des Bundesentschädigungsgesetzes“ vor. Dieser wiederum beschränkt den Ver-
folgtenstatus auf Personen, die „aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen
den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der
Weltanschauung“ verfolgt worden sind. Dies ist eine sehr enge Definition.
Zahlreiche Zwangsarbeiter wurden nicht aus den zitierten Gründen deportiert,
sondern schlicht aus kriegswirtschaftlichen, weil das Deutsche Reich ihre
Arbeitskraft erpressen wollte. In der Logik des Festhaltens an der engen Defini-

tion des § 3 Nummer 8a EStG und § 1 BEG stünde demnach die Aussage der
Bundesregierung, „Zwangsarbeit für sich genommen führt … nicht zur Steuer-
freiheit einer Sozialversicherungsrente, schließt diese aber auch nicht aus.“

Andererseits gibt die Bundesregierung in ihrer Antwort zu Frage 3 zu erkennen,
von diesen engen Voraussetzungen abzurücken: „Die Steuerfreiheit wird in al-
len Fällen gewährt, in denen eine NS-Schädigung vorliegt. Einer formalen An-

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erkennung als Verfolgter bedarf es nicht.“ Und in der Antwort zu Frage 5 heißt
es: „Eine Unterscheidung von ‚anerkannten‘ und ‚nicht anerkannten‘ Zwangs-
arbeitern wird nicht vorgenommen.“

Auf Nachfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke zur Handhabung der genannten
Rechtsgrundlagen führte das Bundesministerium der Finanzen mit Schreiben
vom 31. Juli 2012 aus: „Erfahrungsgemäß haben nicht alle Verfolgten im Sinne
des § 1 BEG formal um eine Anerkennung ersucht. Diesem Personenkreis wird
die Steuerbefreiung nach § 3 Nummer 8a Einkommensteuergesetz (EStG)
ebenfalls gewährt, wenn sie die sachlichen Voraussetzungen des § 1 BEG erfül-
len.“

Diese Aussage erweckt nun wieder den Eindruck, dass an der engen Definition
des BEG doch festgehalten werden solle. Mithin würden NS-Opfer, die „nur“
deswegen deportiert worden sind, weil sie jung, kräftig, gesund und für die
Nazi-Kriegswirtschaft verwertbar waren, weiterhin nicht steuerbefreit. Dazu
müssten sie dann zusätzlich „rassisch“, politisch, religiös oder weltanschaulich
verfolgt worden sein.

Den Fragestellern liegt der Fall des polnischen Staatsbürgers J. G. vor. Als
16- Jähriger war er von der deutschen Besatzungsmacht verschleppt und zur
Zwangsarbeit in der Landwirtschaft verpflichtet worden. Sein Antrag auf Steu-
erbefreiung wurde vom Finanzamt Neubrandenburg mit Bescheid vom 31. Juli
2012 abgelehnt, weil es nicht erkennen konnte, dass er „als Geschädigter … im
Sinne des § 3 Nr. 8a EStG anzuerkennen sei.“ Der Antragsteller konnte zwar
bislang nicht den Nachweis führen, Zwangsarbeiter gewesen zu sein, wohl
aber, zu den sogenannten Displaced Persons (DP) gehört zu haben. Es ist histo-
risch unstrittig, dass die absolute Mehrzahl der DP Zwangsarbeiter, Zwangsver-
schleppte oder KZ-Häftlinge waren, und von daher nicht einsichtig, dass dem
Antragsteller die verbliebenen Zweifel an seiner Schädigung durch die Nazis
zum Nachteil gereichen.

Eine Ungleichbehandlung „anerkannter“ und „nicht anerkannter“ NS-Opfer ist
politisch und moralisch unsinnig. „Geschädigt“ durch NS-Unrecht waren auch
solche Personen, die nicht die Anforderungen des BEG erfüllen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Kann die Bundesregierung definitiv zusichern, dass die Renteneinkünfte
sämtlicher Personen, die der zuständigen Finanzbehörde glaubhaft machen
können, dass sie von den Nazis zur Zwangsarbeit gezwungen worden sind,
von der Steuer befreit werden, unabhängig davon, ob ihnen dieses Unrecht
aus Gründen der politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus
oder aus Gründen der „Rasse“, des Glaubens oder der Weltanschauung zu-
gefügt worden ist oder sie in diesem Sinne die „sachlichen Voraussetzun-
gen“ des BEG erfüllen, also einfach aufgrund der Tatsache, dass sie aus egal
welchen Gründen zur Zwangsarbeit gezwungen worden waren?

2. Falls die Bundesregierung die vorangegangene Frage nicht mit ja beantwor-
tet, unter welchen Voraussetzungen werden die Sozialversicherungsrenten
für ehemalige Zwangsarbeiter von der Steuer befreit, und welche Gründe
kann es geben, Anträge auf Steuerbefreiung abzulehnen (bitte möglichst
vollständig auflisten)?

3. Was genau meint die Bundesregierung, wenn sie formuliert, die Einkom-
mensteuerbefreiung gelte für Personen, die „die sachlichen Voraussetzungen
des § 1 BEG erfüllen“?

a) Welche Voraussetzungen sind damit gemeint?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10524

b) Inwiefern beschränken sich die Voraussetzungen auf „rassische“, politi-
sche, religiöse, weltanschauliche Gründe bzw. umfassen auch eine anders
(„unpolitisch“) motivierte Verpflichtung zur Zwangsarbeit?

c) Wer genau nimmt heute, über 40 Jahre nach dem BEG-Schlussgesetz, die
Prüfung vor, ob die „sachlichen Voraussetzungen“ des BEG vorliegen?

d) Hat die Bundesregierung Überlegungen angestellt, dem Deutschen Bun-
destag eine Klarstellung von § 3 Nummer 8a EStG vorzuschlagen, um
von der engen Definition des BEG abzurücken und eindeutig zu regeln,
dass jede Person, die von den Nazis zur Zwangsarbeit verpflichtet wor-
den war, von der Steuerpflicht auf daraus resultierenden Sozialrenten
auszunehmen ist, und wenn nein, warum nicht?

4. Definiert die Bundesregierung den Begriff „NS-Schädigung“ (Antwort der
Bundesregierung zu Frage 3 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE.
auf Bundestagsdrucksache 17/10292) im Sinne der genannten engen Krite-
rien des BEG oder darüber hinausgehend und bezieht sie ihn auch auf Per-
sonen, die von den Nazis aus anderen als den im BEG genannten Gründen
(politisch, „rassisch“, weltanschaulich) verfolgt bzw. geschädigt worden sind?

5. Was meint die Bundesregierung, wenn sie schreibt: „Zwangsarbeit für sich
genommen führt daher nicht zur Steuerbefreiung einer Sozialversicherungs-
rente, schließt diese aber nicht aus“?

a) Warum führt nicht schon Zwangsarbeit „für sich“, wenn sie von den
Nazis erzwungen wurde, zur Steuerbefreiung, obwohl sie doch zweifellos
in jedem Fall ein NS-Unrecht darstellt und für die betroffenen Personen
eine Schädigung war?

b) Welche Fälle, in denen die Nazis Menschen zur Zwangsarbeit verpflich-
teten, stellen aus Sicht der Bundesregierung kein Unrecht dar, das eine
Steuerbefreiung rechtfertige (bitte möglichst vollständig und abschlie-
ßend darstellen)?

6. Was genau will die Bundesregierung mit ihrer Formulierung, der Begriff
Zwangsarbeit erlaube „keine trennscharfe Abgrenzung zwischen NS-Ge-
schädigten und Kollaborateuren“, sagen?

Will sie damit an die sowjetische Politik der Nachkriegszeit anknüpfen, die
sowjetischen Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeitern „Kollabora-
tion“ vorgeworfen hat, oder will sie sagen, dass es Kollaborateure gegeben
hat, die (zu einem späteren Zeitpunkt) ebenfalls zur Zwangsarbeit verpflichtet
worden waren?

7. Mit welchen Ländern hat die Bundesrepublik Deutschland Doppelbesteue-
rungsabkommen vereinbart, die eine Besteuerung der Renten im Ausland
wohnhafter Personen ermöglichen?

8. Wie viele Personen umfasst die von der belgischen Regierung übermittelte
Namensliste ehemaliger Zwangsarbeiter?

a) Wie viele von diesen Personen hatten bereits Steuerbescheide erhalten,
und sind die Beträge mittlerweile komplett zurückerstattet, und wenn
nein, warum nicht?

b) Bei wie vielen dieser Personen wurden die Anträge auf Steuerbefreiung
abgelehnt, aus welchen Gründen, und welche Konsequenzen zieht die
Bundesregierung hieraus?

9. Mit welchen anderen Staaten hat die Bundesregierung in dieser Sache Kon-
takt aufgenommen?

a) Welche anderen Regierungen haben Amtshilfe geleistet?
b) Welche anderen Regierungen haben Namenslisten übermittelt?

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c) Wie viele Personen umfassen diese Listen jeweils, wie viele von diesen
Personen haben bereits Steuerbescheide erhalten, und bei wie vielen
haben diese Bestand?

d) Bei wie vielen dieser Personen lehnt die zuständige Finanzbehörde die
Steuerbefreiung ab?

10. Die Anträge auf Steuerbefreiung wie vieler Personen, bei denen die Tat-
sache, dass sie von den Nazis zur Zwangsarbeit verpflichtet worden sind,
unstrittig ist, sind nach Kenntnis der Bundesregierung von der zuständigen
Finanzbehörde abgelehnt worden?

a) Aus welchen Gründen erfolgte die Ablehnung (bitte nach den wichtigs-
ten inhaltlichen Gründen aufgliedern)?

b) In welchen Ländern wohnen die Betroffenen (bitte vollständig nach An-
zahl der Ablehnungsbescheide angeben)?

c) Will die Bundesregierung, ggf. im Einvernehmen mit dem Land Meck-
lenburg-Vorpommern oder anderen Bundesländern, hieraus Konsequen-
zen ziehen, und wenn ja, welche?

11. Werden Anträge aus Belgien anders entschieden als Anträge aus anderen
Ländern, weil es in Belgien besonders viel Aufmerksamkeit um die Be-
steuerung der Zwangsarbeiter-Renten gegeben hat, und wenn ja, inwiefern,
und auf welcher Rechtsgrundlage?

12. Wie viele der in Belgien lebenden Personen, die Leistungen nach dem Bun-
desversorgungsgesetz beziehen, erhalten diese aufgrund einer freiwilligen
Verpflichtung zur Wehrmacht, zur Waffen-SS oder zu einer Polizeieinheit,
und wie hoch sind ihre heutigen monatlichen Bezüge (bitte detailliert auf-
listen, da die zur Beantwortung nötige manuelle Aktenauswertung von den
Fragestellern angesichts der geringen Fallzahl von 57 Berechtigten für zu-
mutbar gehalten wird)?

13. Welches Vorgehen ist vorgesehen gegenüber Antragstellern, bei denen es
Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit
NS-Geschädigte sind, dies aber nicht lückenlos nachweisen können, wie
etwa DP?

14. Aus welchen Gründen wurde der Antrag auf Steuerbefreiung des in der
Vorbemerkung genannten ehemaligen polnischen Zwangsarbeiters nach
Kenntnis der Bundesregierung abgelehnt?

a) Zweifelt die zuständige Finanzbehörde daran, dass der Mann von den
Nazis zur Zwangsarbeit verpflichtet worden war?

b) Zweifelt sie daran, dass der Mann zu den DP gehört hat, oder zweifelt
sie daran, dass DP in aller Regel als NS-Geschädigte anzusehen sind?

c) Beruht die Ablehnung des Antrags darauf, dass der Mann nicht nach § 1
BEG „anerkannt“ ist und, nach Einschätzung der Finanzbehörde, auch
nicht anerkannt worden wäre, hätte er einen Antrag gestellt?

15. Steht die Entscheidungspraxis des Finanzamtes Neubrandenburg nach Ein-
schätzung der Bundesregierung in Übereinstimmung mit den von der Bun-
desregierung genannten Grundsätzen, und inwiefern und mit welchem Ziel
steht sie diesbezüglich mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern in Kontakt?

Berlin, den 22. August 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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