BT-Drucksache 17/10093

Regulierungslücken auf den Warenderivatemärkten schließen - Finanzspekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln unterbinden

Vom 26. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10093
17. Wahlperiode 26. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Lothar Binding (Heidelberg),
Ingrid Arndt-Brauer, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Dr. h. c. Gernot Erler,
Petra Ernstberger, Martin Gerster, Iris Gleicke, Dr. Barbara Hendricks,
Petra Hinz (Essen), Dr. Bärbel Kofler, Ute Kumpf, Thomas Oppermann,
Joachim Poß, Dr. Sascha Raabe, Stefan Rebmann, Karin Roth (Esslingen),
Annette Sawade, Bernd Scheelen, Frank Schwabe, Wolfgang Tiefensee, Ute Vogt,
Manfred Zöllmer, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Regulierungslücken auf den Warenderivatemärkten schließen –
Finanzspekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln unterbinden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit einigen Jahren kommt es weltweit zu erheblichen Preisschwankungen auf
den Rohstoffmärkten. Insbesondere Grundnahrungsmittel wie Getreide, Mais
und Reis waren jüngst von extremen Preisschwankungen und einer verheeren-
den Preishausse betroffen. Gründe für die signifikanten Preisschwankungen lie-
gen einmal bei verändertem Angebots- und Nachfrageverhalten auf den Kassa-
märkten. Diese beruhen beispielsweise auf einer wachsenden Weltbevölkerung,
veränderten Essgewohnheiten, wetterbedingten Einflussfaktoren, Geldmengen-
wachstum oder steigenden Energiepreisen. Ein weiterer Grund für volatile
Preise liegt in der besorgniserregenden Zunahme von reinen Spekulationsge-
schäften auf den Warenterminmärkten.

Tatsächlich ist das Engagement der Finanzindustrie auf den Rohstoffmärkten
einschließlich Indexfonds und Zertifikaten von 26 Mrd. US-Dollar im Jahr
2003 auf über 400 Mrd. US-Dollar im Jahr 2011 gestiegen. Laut Deutscher
Bundesbank sind Rohstoffmärkte als Folge der Suche nach Renditen inzwi-
schen Ziel umfangreicher Finanzanlagen, wobei sich an dieser zunehmenden
Finanzialisierung nicht nur Hedgefonds und Indexfonds, sondern auch große
internationale Banken sowohl als Eigenhändler als auch als Marktmacher im
außerbörslichen Bereich (OTC) betätigen. Ähnlich wie die Entwicklung auf
den Finanzmärkten im Allgemeinen entfernt sich durch den enormen Zustrom
von Kapital auch die Preisbildung auf den Warenderivatemärkten immer stärker
von den realwirtschaftlichen Fundamentaldaten. Diese Entkopplung, die u. a.
an der mangelnden Konvergenz der Terminpreise zu den Spotpreisen zum Aus-

druck kommt, führt zu verheerenden sozialen, ökonomischen und stabilitäts-
politischen Verwerfungen, die dringend einer politischen Regulierung bedür-
fen. Denn wesentlich gravierender als die fehlende fundamentale Nachvollzieh-
barkeit sind die negativen Auswirkungen der zunehmenden Finanzspekulation
auf den Warenderivatemärkten in der realen Welt, d. h. im Alltag vieler Men-
schen.

Drucksache 17/10093 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Extrem steigende Nahrungsmittelpreise haben in erster Linie katastrophale
Folgen für große Teile der Entwicklungsländer und schließlich auch für die
politische Stabilität. Denn gerade für die rund zwei Milliarden Menschen in den
Entwicklungsländern, die den größten Teil ihres Einkommens für Grundnah-
rungsmittel ausgeben müssen, bedeuten Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln
gravierende Einschränkungen bis hin zu Erkrankung und Tod. Diese negativen
Konsequenzen aus der zunehmenden Nahrungs- und Rohstoffspekulation las-
sen sich schon heute beobachten: Während sich an der Rohstoffbörse in Chicago
beispielsweise Reis um 38 Prozent, Weizen um 46 Prozent und Mais seit 2009
sogar um 100 Prozent verteuert haben, ist laut dem jüngsten Report zur globa-
len Ernährungssituation der Vereinten Nationen die Zahl der Hungernden im
Jahr 2010 um 10 Prozent auf 925 Millionen gestiegen. Diese Entwicklung birgt
nach Einschätzung des scheidenden Weltbank-Chefs Robert Zoellick nicht nur
die Gefahr von zunehmendem menschlichem Leid, sondern auch von sozialem
Aufruhr und neuen Hungerrevolten.

Die negativen Auswirkungen der Finanzspekulation mit Rohstoffen und Nah-
rungsmitteln zeigen sich zunehmend auch bei vielen Industrie- und Nahrungs-
mittelunternehmen. So haben viele Unternehmen immer häufiger mit steigen-
den Kosten – und aufgrund der deutlich erhöhten Volatilität – mit signifikanten
Kalkulations- und Planungsproblemen zu kämpfen. Dies führt dazu, dass die
grundsätzlich wichtige Funktion von Warenterminmärkten, nämlich Unterneh-
men u. a. gegen zukünftige Preisrisiken abzusichern, zunehmend durch reine
Finanzspekulation konterkariert wird, da das verstärkte Engagement der Finanz-
industrie auf den Rohstoffmärkten nicht mehr nur die notwendige Liquidität,
sondern eine zunehmende Instabilität mit langfristig zunehmenden Kosten der
Absicherung und eine weitere Quelle der Unsicherheit für reale Produktionsent-
scheidungen und damit für die Konjunkturentwicklung bedeutet. Gleichzeitig
muss sichergestellt werden, dass dem Absicherungsinteresse von Produzenten
und Unternehmen auf den Warenterminmärkten entsprochen wird. Die Ausge-
staltung der Mindesthaltefristen und Positionslimits muss derart erfolgen, dass
die Absicherung physischer Geschäfte für die Realwirtschaft möglich bleibt.
Hubert Weber, Präsident des europäischen Kaffeegeschäfts Coffee, Kraft Foods
Europe warnt beispielsweise offen vor neuen Preisblasen, die die gesamte Welt-
wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen können. Unterstützt wird er hierbei von
Raimund Röseler, Exekutivdirektor der Bankenaufsicht der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht, der auch erst kürzlich vor einer neuen Spekula-
tionsblase gerade auf den Rohstoffmärkten warnte.

Der Deutsche Bundestag begrüßt daher die prinzipiellen Bestrebungen der
Europäischen Kommission, u. a. durch die Überarbeitung der Richtlinie über
Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II) die Regulierung der Warenderivate-
märkte zu stärken. Hierbei ist es besonders wichtig, dass die Vorschläge der
Kommission nicht aufgeweicht, sondern im Sinne einer vorsorgenden und ein-
heitlichen Regulierung an einigen Stellen konkretisiert und erweitert werden.
Dies gilt insbesondere für die Einführung von wirksamen Positionslimits, für
die es nach Einschätzung viele Experten, u. a. für eine ehemalige Direktorin am
Chicago Board of Trade, keine Alternativen gibt, um exzessiver Spekulation
und marktdominierender Konzentration vorzubeugen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich auf internationaler Ebene, insbesondere im Rahmen der G20, aktiv dafür
einzusetzen, dass die bereits beschlossenen Maßnahmen zur Regulierung der
Warenderivatemärkte zuverlässig umgesetzt werden, und darüber hinaus
sicherzustellen, dass die Kooperation und Regulierung auf internationaler
Ebene, insbesondere im Finanzstabilitätsrat (FSB), kontinuierlich gestärkt

werden;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10093

2. sich im Rahmen der Überarbeitung der MiFID II darüber hinaus dafür einzu-
setzen,

a) dass die geregelten Märkte sowie die Betreiber von multilateralen Han-
delssystemen (MTF) und Organisierten Handelssystemen (OTF), im Vor-
aus festgelegte Positionslimits für die Zahl der Kontrakte verhängen, die
jedes Mitglied, jeder Teilnehmer und ggf. jede Händlerklasse auf dem
Markt über einen bestimmten Zeitraum eingehen kann, um zu verhin-
dern, dass exzessive Finanzspekulation auf den Warenderivatemärkten
die Konjunktur negativ beeinflusst, den Hunger in Entwicklungsländern
verstärkt und Heizkosten erhöht;

b) dass geregelte Märkte sowie die Betreiber von MTF und OTF, die Waren-
derivate zum Handel zulassen oder mit ihnen handeln, zusätzlich zu den
im Voraus festgelegten Positionslimits weitere Kontrollen auf die Posi-
tionen anwenden, die erforderlich sind, um das ordnungsgemäße Funk-
tionieren der Märkte sicherzustellen und insbesondere das Potenzial für
Manipulationen des Marktes für das Derivat oder den Basiswert durch
Halter umfangreicher Positionen zu verringern und dafür zu sorgen, dass
Marktteilnehmer die Vorkehrungen treffen, die nötig sind, um einen Kon-
trakt gegebenenfalls physisch abzuwickeln;

c) die Kriterien für den Erlass von Positionslimits auszuweiten, um sicher-
zustellen, dass alle Ausführungsplätze über notwendige Obergrenzen ver-
fügen, die dazu dienen, die Liquidität zu unterstützen, Marktmissbrauch
zu verhindern, geordnete Preisbildungs- und Abrechnungsbedingungen
zu garantieren und insbesondere Marktverzerrungen effektiv vorzubeu-
gen; außerdem sollten die Limits für alle Abwicklungsformen (physisch
und mit Barausgleich) und für Auslieferungsmonate, Einzelmonate und
alle Handelsmonate gesetzt werden;

d) dass die von der Europäischen Kommission bereits vorgeschlagenen
Informations- und Meldepflichten, insbesondere die Veröffentlichungs-
pflicht von Handelsplätzen, die Einzelheiten ihrer Positionen in Echtzeit
zu melden, einschließlich aller im Namen ihrer Kunden gehaltenen Posi-
tionen, konsequent umgesetzt werden, und ggf. weitergehende Regelun-
gen vorzuschlagen, die dazu dienen, die Transparenz auf den Waren-
derivatemärkten zu erhöhen;

e) eine eindeutige Definition für Bona-fide-Gegengeschäfte (realwirtschaft-
liche Absicherungsgeschäfte) festzulegen, um dem begründeten Absiche-
rungsinteresse von Produzenten, Industrieunternehmen, Rechnung tragen
zu können;

f) den Tatbestand der Nebengeschäfte klar zu fassen, um exzessive Finanz-
spekulation zu erschweren und gleichzeitig dem begründeten Absiche-
rungsinteresse von Industrieunternehmen Rechnung tragen zu können;

g) den Anwendungsbereich bei der Regulierung des Hochfrequenzhandels
(HFH) weit zu fassen und effektive Mindesthaltefristen einzuführen, um
extreme Effekte ohne ökonomischen Vorteil frühzeitig zu unterbinden
und riskante Ansteckungseffekte auf andere Märkte einzuschränken;

h) dass bei Verstößen gegen die MiFID wirkungsvolle Sanktionen und Maß-
nahmen zur Anwendung kommen, insbesondere der Entzug der Zulas-
sung des Instituts, vorübergehende Verbote und die Verhängung von
Geldstrafen, um eine abschreckende Wirkung auf breite Kreise zu ge-
währleisten;

3. im Rahmen der Überarbeitung der Marktmissbrauchsrichtlinie (MAD) sicher-

zustellen, dass die Definition der Insiderinformation an die Besonderheiten
des Warenderivatemarktes angepasst wird und verbleibende Regulierungslü-

Drucksache 17/10093 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
cken, insbesondere hinsichtlich des Spotmarktes, ggf. durch weitere Verord-
nungen geschlossen werden;

4. sich aktiv für den Aufbau eines globalen Informationssystems über Lagerbe-
stände und Erntemengen von u. a. Weizen, Mais, Reis und Sojabonen einzu-
setzen, um sicherzustellen, dass das Horten von Rohstoffen durch Hedge-
fonds und andere Finanzmarktakteure zielgerichtet unterbunden werden
kann;

5. die für die Regulierung der Warenderivatemärkte zuständige EU-Wertpapier-
behörde ESMA entsprechend zu stärken und ggf. mit notwendigen, auch prä-
ventiven, Eingriffsbefugnissen auszustatten, um eine zielgerichtete Aufsicht
der Warenderivatemärkte durch eine einheitliche Wettbewerbs- und Regulie-
rungssituation zu gewährleisten und Aufsichtsarbitrage vorzubeugen.

Berlin, den 26. Juni 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.