BT-Drucksache 17/10078

Entwicklungszusammenarbeit mit Nicaragua

Vom 22. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10078
17. Wahlperiode 22. 06. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko,
Niema Movassat, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Entwicklungszusammenarbeit mit Nicaragua

Im Januar 2012 präsentierte die Bundesregierung die neue Länderliste für die
Entwicklungszusammenarbeit (EZ) des Bundesministeriums für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Das volle Instrumentarium der bila-
teralen EZ soll demnach nur noch in der Zusammenarbeit mit 50 Kooperations-
ländern zum Einsatz kommen. Die Auswahl dieser Länder wurde laut BMZ
nach den Kriterien Leistungsfähigkeit, Regierungsführung und Rahmenbedin-
gungen, Armut und Bedürftigkeit, Arbeitsteilung (mit anderen Geberländern)
sowie deutsche Interessen getroffen. Auch die Menschenrechtssituation in ei-
nem potenziellen Kooperationsland und die Relevanz für globale öffentliche
Güter flossen, laut BMZ, in die Auswahl ein.

Neben den Kooperationsländern mit bilateralen Länderprogrammen (Katego-
rie 1) wurden solche mit fokussierter regionaler oder thematischer Zusammen-
arbeit (Kategorie 2) sowie weitere Kooperationsländer (Kategorie 3) bestimmt.

Die Zusammenstellung der Kooperationsländer in den unterschiedlichen Kate-
gorien lässt allerdings den Verdacht zu, dass in erster Linie politische Vorlieben
der Bundesregierung und wirtschaftliche Interessen der deutschen Industrie den
Ausschlag bei der Auswahl gegeben haben. Rohstoffreiche Länder in Zentrala-
sien fanden Eingang in Kategorie 1, ohne dass nachvollziehbar wäre, inwiefern
sie die oben genannten Kriterien (insbesondere hinsichtlich Regierungsführung,
aber auch hinsichtlich Armut und Bedürftigkeit) erfüllen. Eine Präzisierung
ihrer Auswahlkriterien blieb die Bundesregierung schuldig.

Der Verbleib von Honduras in Kategorie 1 bei gleichzeitiger Herabstufung von
Nicaragua in Kategorie 2 hat weithin Verwunderung ausgelöst. Bei mehreren
Gelegenheiten begründete die Bundesregierung die Herabstufung von Nica-
ragua mit der schlechten Regierungsführung, insbesondere im Zusammenhang
mit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im November 2011, bei denen
Präsident Daniel Ortega und die Regierungspartei FSLN (Frente Sandinista de
Liberación Nacional) mit großer Mehrheit von den Wählerinnen und Wählern
bestätigt worden waren, mit autoritären Tendenzen und mangelnder Entwick-
lungsorientierung. Diese Argumente überzeugen nicht.
Die Politik der nicaraguanischen Regierung ist durchaus entwicklungsorientiert.
In den letzten sechs Jahren konnte der GINI-Koeffizient, der die soziale Un-
gleichheit misst, erheblich reduziert werden. Die Sozialprogramme der Regie-
rung tragen zur Überlebenssicherung bislang marginalisierter Bevölkerungs-
gruppen bei. Die hohe Zustimmung gerade der ärmeren Bevölkerungsschichten
zu dieser Politik kam in den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen deutlich
zum Ausdruck. Auch wenn von vereinzelten Unregelmäßigkeiten ausgegangen

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wird, haben internationale Wahlbeobachter, auch die der EU, nicht den Vorwurf
der Wahlfälschung erhoben.

Angesichts der Zusammenarbeit mit Regierungen, die über eine wesentlich frag-
würdigere Legitimation verfügen und in deren Ländern wesentlich weniger Ent-
wicklungsfortschritt festzustellen ist, entsteht der Eindruck, dass unterschiedliche
Maßstäbe angelegt werden, um solche Regierungen unter Druck zu setzen, die
die neoliberalen Entwicklungsvorstellungen des Bundesministers für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung nicht teilen.

Im Nachbarland Honduras sind seit dem Putsch vom 28. Juni 2009 bis zum heu-
tigen Tage gravierende Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung.
Kleinbauern, die gegen Landraub kämpfen, Aktivisten sozialer Bewegungen
und kritische Journalisten werden bedroht und ermordet. Es herrscht allgemeine
Straflosigkeit. Ungeachtet dessen wird Honduras in der BMZ-Länderliste in
Kategorie 1 geführt. Der Putsch von 2009 gegen eine demokratisch legitimierte
Regierung war von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
seinerzeit äußerst wohlwollend kommentiert worden. Protagonisten des Put-
sches waren von der Stiftung nach Deutschland eingeladen worden, wo sie in
Räumlichkeiten des Deutschen Bundestages auftreten konnten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche deutschen Interessen (siehe oben genannter Kriterienkatalog) flossen
in die Einstufung von Honduras in Kategorie 1 und von Nicaragua in Kate-
gorie 2 der BMZ-Länderliste ein?

2. Kann die Bundesregierung die Bewertung von Honduras und Nicaragua hin-
sichtlich ihrer Leistungsfähigkeit (siehe oben genannter Kriterienkatalog) an-
hand konkreter Indikatoren darstellen?

3. Kann die Bundesregierung die Bewertung von Honduras und Nicaragua hin-
sichtlich ihrer Regierungsführung (siehe oben genannter Kriterienkatalog)
anhand konkreter Indikatoren darstellen?

4. Wie hat die Bundesregierung den Faktor Armut und Bedürftigkeit (siehe
oben genannter Kriterienkatalog) bei der Kategorisierung von Honduras und
Nicaragua gewertet?

5. Welche Erwägungen haben die Bundesregierung dazu geführt, die Men-
schenrechtslage und die Regierungsführung in Honduras ausreichend positiv
einzuschätzen, sodass das Land Aufnahme in Kategorie 1 der BMZ-Länder-
liste finden konnte?

6. Angesichts der hohen Zahl politisch motivierter Morde und der allgemeinen
Straflosigkeit in Honduras, kommt die Bundesregierung dennoch zu der Auf-
fassung, die Menschenrechtslage in Honduras sei günstiger zu bewerten als
in Nicaragua (bitte begründen)?

7. Mit welchen Gesprächspartnern innerhalb der Regierungen, Institutionen
und Zivilgesellschaften in Honduras und Nicaragua hat sich die Bundesregie-
rung in der Vorbereitung der Entscheidung über die Einstufung der beiden
Länder als Kooperationsländer getroffen?

8. Kann die Bundesregierung die Ergebnisse dieser Gespräche im Hinblick auf
die Beurteilung der Voraussetzungen der beiden Länder (insbesondere hin-
sichtlich Regierungsführung, Menschenrechte und Leistungsfähigkeit) für
die Einstufung als Kooperationsländer darstellen und diese den einzelnen
Gesprächspartnern zuordnen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10078

9. Ist die Bundesregierung der Meinung, dass es ihr zusteht, die Außenpolitik
eines möglichen Kooperationslandes (in diesem Fall Nicaragua) zu bewer-
ten (bitte begründen)?

10. Welche Rolle spielt die außenpolitische Ausrichtung Nicaraguas (An-
lehnung an Venezuela und Russland, Integration im Rahmen von ALBA –
Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América, Bolivianische
Allianz für Amerika) für die Bewertung der Potenziale einer deutsch-nica-
raguanischen Entwicklungszusammenarbeit?

11. Welche Bewertung wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen ist in die
Entscheidung für die Herabstufung Nicaraguas in der Länderliste eingeflos-
sen?

12. Welche Rolle spielt die Entwicklung des GINI-Koeffizienten in einem
potenziellen Kooperationsland bei der Einschätzung der Entwicklungsorien-
tierung seiner Regierung, und wie floss diese Erwägung in die Bewertung
von Nicaragua und Honduras ein?

13. Wie erklärt sich die Bundesregierung die hohe Zustimmung der Nicaragua-
nerinnen und Nicaraguaner zu ihrem Präsidenten und der FSLN, die sich in
den Wahlen im November 2011 ausdrückte und die auch von solchen Wahl-
beobachtern nicht grundsätzlich angezweifelt wurde, die von vereinzelten
Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen berichteten?

14. Hält die Bundesregierung die Wahlen in Honduras vom November 2009,
die unter der Putsch-Regierung abgehalten und von vielen demokratischen
Kräften boykottiert worden waren, für eine ausreichende Legitimations-
grundlage für eine Zusammenarbeit mit Honduras in Kategorie 1 der Län-
derliste (bitte begründen)?

15. Wie bewertet die Bundesregierung den Verlauf der jeweils letzten Präsi-
dentschafts- und Parlamentswahlen in Kirgistan, Usbekistan, Tadschikis-
tan, Afghanistan, Pakistan und der Demokratischen Republik Kongo (alles
Länder der Kategorie 1) im Vergleich zu Nicaragua?

16. Wie und nach welchen Indikatoren bewertet die Bundesregierung die
Regierungsführung in Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan, Afghanistan,
Pakistan und der Demokratischen Republik Kongo (alles Länder der Kate-
gorie 1) im Vergleich zu Nicaragua?

17. Welche privatwirtschaftlichen Akteure sind in den letzten verbleibenden
EZ-Schwerpunkten der Bundesregierung in Nicaragua, die Zusammenarbeit
im Wassersektor, eingebunden (bitte konkrete Projektpartnerschaften mit
privatwirtschaftlichen Akteuren nennen)?

18. Inwiefern plant die Bundesregierung, im Rahmen der Zusammenarbeit mit
Nicaragua im Wassersektor, weitere privatwirtschaftliche Akteure einzubin-
den (bitte konkrete Bereiche/Tätigkeitsfelder für mögliche Projektpartner-
schaften mit privatwirtschaftlichen Akteuren nennen)?

19. Was versteht die Bundesregierung unter „strategisch wichtigen Partnern“ in
der Zivilgesellschaft, mit denen sie nach eigenem Bekunden in Nicaragua
zusammenarbeiten will?

Welchen strategischen Überlegungen folgt die Auswahl solcher Partner?

20. Kann die Bundesregierung die Kriterien für die Zusammenarbeit mit Orga-
nisationen der Zivilgesellschaft im Rahmen des FCASC (Fondo Común de
Apoyo a la Sociedad Civil Nicaragüense) und des FED (Fondo para la Equi-
dad y los Derechos Sexuales y Reproductivos) darstellen?

Drucksache 17/10078 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
21. Kann die Bundesregierung ihre Vorstellungen von den „demokratischen Al-
ternativen“, die die Bundesregierung nach eigenem Bekunden im Rahmen
der Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Partnern fördern will, dar-
stellen?

22. Welche Rolle sollen nach Meinung der Bundesregierung die deutschen Stif-
tungen beim Aufbau solcher „demokratischer Alternativen“ in Nicaragua
spielen?

Berlin, den 19. Juni 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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