BT-Drucksache 16/9483

Den Prozess von Annapolis durch eigenständige Initiativen unterstützen

Vom 4. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9483
16. Wahlperiode 04. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Diether Dehm, Heike Hänsel, Inge Höger, Dr. Hakki Keskin, Katrin Kunert,
Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich
und der Fraktion DIE LINKE.

Den Prozess von Annapolis durch eigenständige Initiativen unterstützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Weiterhin eskaliert seit vielen Jahren die Gewalt im Nahen Osten. Friedensini-
tiativen die mit den Namen Oslo, Madrid und Sharm el Sheikh verbunden sind,
blieben ohne Erfolg. Die Annapolis-Konferenz im November 2007 stieß auf
tiefe Skepsis aber auch auf große Erwartungen. Unabhängig von dieser Bewer-
tung bleibt die Anforderung auf substantielle und ernsthafte Verhandlungen über
die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates, der mit Israel in
friedlicher Nachbarschaft lebt.

Die EU und Deutschland spielen zurzeit im Nahost-Friedensprozess keine pri-
märe Rolle. Deutschland kann einen Beitrag leisten, dass die Zweistaatenlösung
im öffentlichen Bewusstsein Israels verankert wird. In Israel und in Palästina
muss Deutschland für den Gewaltverzicht werben.

Die Grundbedingungen für einen Erfolg der Verhandlungen zwischen Israel und
Palästina sind, dass das Nahost-Quartett Bezug nimmt auf das Völkerrecht und
insbesondere das humanitäre Völkerrecht, allem voran die 4. Genfer Konvention
zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten sowie die einschlägigen Reso-
lutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Das bedeutet, dass sich das
Nahost-Quartett uneingeschränkt für den Stopp des Siedlungsbaus, die Wieder-
herstellung der Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung, die Be-
endigung des Mauerbaus auf palästinensischem Gebiet und die Einstellung von
Angriffen auf die israelische Zivilbevölkerung durch militante Palästinenser
einsetzen muss.

Um diesen Prozess zu begleiten, ist ein verstärktes internationales Monitoring
notwendig. Dabei dürfen die Entwicklungen nicht nur beobachtet werden, son-
dern das Nahost-Quartett sollte im Sinne des Völkerrechts steuernd eingreifen.
Ferner ist eine rasche Aufbauhilfe für die palästinensische Wirtschaft sowie

Hilfe beim Aufbau staatlicher Institutionen notwendig. Die EU muss sofort ihr
Versprechen zum Wiederaufbau der palästinensischen Wirtschaft umsetzen,
damit die Menschen wieder Hoffnung in die Zukunft setzen. In Annapolis haben
sich die USA zum Monitoring der neuen Friedensbemühungen verpflichtet. Das
müssen die USA auch einlösen.

Israels Ministerpräsident Ehud Olmert stellt die Existenz eines künftigen, eigen-
ständigen palästinensischen Staates nicht mehr infrage. Viele Handlungen

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Israels sprechen aber eine andere Sprache. Der Siedlungsbau, die vollständige
Kontrolle und Abriegelung Gazas, die Aufrechterhaltung der über 600 Straßen-
sperren in der Westbank und die gezielten Tötungen gefährden die jüngsten
Friedensbemühungen. Der Frieden wird ebenso gefährdet durch die vom
Gazastreifen ausgehende Gewalt, wie der Raketenbeschuss gegen und die
Selbstmordanschläge in Israel.

Ein palästinensischer Staat muss über all jene Attribute verfügen, die mit dem
klassischen Begriff der Souveränität verbunden sind: ein zusammenhängendes
Staatsterritorium, Staatsorgane und Staatsbürgerschaft. Das kann nur erreicht
werden, wenn der künftige Staat Palästina souverän und lebensfähig ist. Ein
nicht lebensfähiger palästinensischer Staat untergräbt die Aussichten auf einen
dauerhaften Frieden in der Region. Ein erneutes Scheitern der Verhandlungen
zwischen Israel und den Palästinensern wäre eine Katastrophe.

Seit Annapolis hat sich auch die politische Landschaft in der Region verändert.
Die arabischen Staaten sind enger zusammengerückt. Sie sind bereit, positiv auf
die neue Initiative von Annapolis einzugehen. Die Einbeziehung der arabischen
Länder in diesen Prozess erfordert allerdings, dass Israel auf Syrien zugeht und
ernsthaft verhandelt – auch über die Rückgabe der Golanhöhen. Frieden mit Da-
maskus ist von höchster Bedeutung für die regionale Stabilität. Die Isolations-
politik gegenüber Syrien hat nicht zu positiven Ergebnissen geführt.

Die Verhandlungen zwischen Israel und Palästinensern brauchen einen konkre-
ten zeitlichen Rahmen, wenn bis Ende 2008 Ergebnisse erreicht werden sollen.
Es geht auch darum, die sofortige und parallele Stabilisierung der Lage in den
palästinensischen Gebieten einschließlich Gaza voranzutreiben. Die EU kon-
zentriert sich auf wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen und den Aufbau des Sicher-
heitssektors. Viele der Hilfsmaßnahmen können allerdings nur dann greifen,
wenn die politischen Rahmenbedingungen für die Entwicklung der palästinen-
sischen Gebiete verbessert werden. Israel muss beginnen, sich aus den palästi-
nensischen Gebieten zurückzuziehen.

Wichtige Beiträge für eine politische Wende in Richtung Verständigung und He-
rausbildung der neuen Staatlichkeiten und einer Nachkonfliktphase können von
nichtparlamentarischen Bewegungen ausgehen. Die Resolution 1325 (2000) des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN), welche die Bedeutung von
Frauen in der Konfliktvermittlung betont, ist auch für den Verhandlungsprozess
zwischen Israel und Palästina von erheblicher Bedeutung. Daher müssen Frauen
nach den Standards der VN-Resolution einbezogen werden.

Für die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung ist keine spürbare Verbes-
serung ihrer Lebensumstände eingetreten. Im Gegenteil: Die Lebensbedingun-
gen verschlechtern sich dramatisch. Menschenrechtsorganisationen sprechen
von einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen. Deutsche und europäische
Politik soll sich dafür einsetzen, dass die Absperrung und die gegen den Gaza-
streifen verhängte Wirtschaftsblockade aufgehoben werden. Die innere palästi-
nensische Aussöhnung sollte von internationalen Kräften gefördert werden.
Eine andauernde Isolation der Hamas stärkt lediglich die radikalen Kräfte und
fördert die gegen Israel gerichteten Selbstmordanschläge und Raketenbe-
schüsse.

Eine internationale Handlungsoption bestünde in der Unterstützung und Stär-
kung des innerpalästinensischen Dialogs. Der Hamas sollte ein Dialogangebot
unterbreitet werden, das auf beiderseitigen Gewaltverzicht und die Anerkennung
Israels und Palästinas zielt. Das ist auch das Ergebnis der Gespräche des Ex-US-
Präsidenten Jimmy Carter mit der Hamas-Führung.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich dafür einzusetzen, dass die EU im Nahost-Quartett die Initiative ergreift,

1. für die Einhaltung des Völkerrechts insbesondere der 4. Genfer Konvention
zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten sowie der einschlägigen
Resolutionen des Sicherheitsrates zu sorgen;

2. den zeitlichen Rahmen, in dem Verhandlungen über zentrale Fragen abge-
schlossen werden sollen, einzuhalten, um Vertrauen in den Prozess zu stär-
ken. Dafür ist ein internationales Monitoring sicherzustellen;

3. stärker und eigenständiger darauf hinzuwirken, dass Israel die Politik der sys-
tematischen Abriegelung und Kontrolle der palästinensischen Gebiete auf-
gibt und der israelischen Regierung folgende den Frieden fördernde Maßnah-
men und Regelungen nahe zu legen:

● Aufhebung der Unterscheidung zwischen den Zonen A, B und C und so-
fortige Übergabe an die Palästinensische Autonomiebehörde;

● jeglichen Siedlungsbau und Landkonfiskation in den besetzten Gebieten
stoppen;

● schrittweise Aufhebung der Straßenblockaden, Öffnung der Grenze zu
Gaza und Übergabe der Grenzkontrollpunkte an die palästinensische
Regierung;

● für Palästina ein zusammenhängendes Territorium im Westjordanland auf
der Grundlage der Grenzen von 1967 mit der Möglichkeit eines Gebiets-
austausches sowie gesicherte und frei zugängliche Verkehrswege zwi-
schen diesem und dem Gazastreifen zu garantieren;

● die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Staates Palästina zu garantieren;
das bedeutet auch, die Kontrolle über die Grenzen und über die eigenen
Ressourcen wie Land und Wasser;

4. eine Einbeziehung der Hamas-Bewegung in den Friedensprozess zu fordern
und mögliche Formen des Dialogs zu prüfen. Voraussetzung dafür ist die
Beendigung des Raketenbeschusses auf Israel durch die Hamas. Die ägyp-
tischen Vermittlungen, die zu einer Feuerpause zwischen Hamas und Israel
führen sollen, sind zu begrüßen. Sie sollen zur Einstellung der Gewalt auf
beiden Seiten führen;

5. die Palästinenser dazu aufzufordern, den gefangenen israelischen Soldaten
Shalid umgehend freizulassen;

6. den Aktionsplan der EU, der sich vorrangig auf vier Bereiche konzentriert
– Stärkung der Eigenkräfte der palästinensischen Privatwirtschaft, Maßnah-
men zur Etablierung eines modernen und demokratischen palästinensischen
Sicherheitsapparats, die Verbesserung des Universitäts- und Schulsystems
und die Unterstützung der Reform staatlicher Strukturen – ohne Verzögerun-
gen zu implementieren. Kern deutscher und europäischer Bemühungen sollte
der industrielle Aufbau Palästinas sein, und Hand in Hand mit dem wirt-
schaftlichen Aufbau muss auch der Aufbau eines Sozialstaates in Palästina
erfolgen;

7. von Israel Sicherheitsgarantien zu verlangen, dass mit Geldern der EU
errichtete Projekte nicht Gegenstand militärischer Maßnahmen werden;

8. die Einberufung einer Annapolis-Nachfolgekonferenz „Nahost“ in Moskau
zu unterstützen. Diese Konferenz hätte zur Aufgabe, den bereits erreichten
Stand der Verhandlungen zu bilanzieren sowie den Verhandlungsprozess für
eine Einbeziehung Syriens in eine Nahost-Friedensarchitektur anzustoßen.

Dies bedeutet, dass Verhandlungen zwischen Israel und Syrien aufgenommen
werden müssen, auch über die Rückgabe der Golanhöhen;

Drucksache 16/9483 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
9. ein deutsch-israelisch-palästinensisches Jugendwerk zur israelisch-paläs-
tinensischen Aussöhnung ins Leben zu rufen;

10. eine internationale Konferenz zur Stärkung der Sicherheit, wie sie von der
Bundesregierung für den Juni 2008 in Berlin angeregt wurde, durchzufüh-
ren. Auf dieser Konferenz sollten auch Aspekte eines Gewaltverzichtsver-
trages zwischen Israel und Palästina erörtert werden. Gegenseitige Sicher-
heit gehört zu den Grundbedingungen für Frieden im Nahen Osten. Ein
Gefangenenaustausch ist anzustreben;

11. Projekte ins Leben zu rufen oder zu fördern, die zu einer Kultur des Frie-
dens und des Gewaltverzichts beitragen können. In diesem Zusammenhang
sind Projekte zur Friedenserziehung an palästinensischen und israelischen
Schulen wesentlich. Feindbilder müssen abgebaut und Gewalt darf nicht
verherrlicht werden. Noch immer wird z. B. in palästinensischen Schul-
büchern in der Auseinandersetzung mit Israel Gewalt verherrlicht und der
Feind enthumanisiert. In israelischen Schulbüchern fehlt ein objektiver
Umgang mit der Vertreibung und Flucht der palästinensischen Bevölkerung
nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948. Schulbücher sollten zur Ver-
breitung der Ideen des friedlichen und toleranten Miteinanders beitragen,
um den Friedensprozess zwischen beiden Bevölkerungen zu befördern.

Berlin, den 4. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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