BT-Drucksache 16/9423

Präsident Medwedew beim Wort nehmen

Vom 4. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9423
16. Wahlperiode 04. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Burkhardt Müller-Sönksen, Harald Leibrecht, Florian Toncar,
Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher,
Patrick Döring, Jörg van Essen, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth),
Dr. Edmund Peter Geisen, Joachim Günther (Plauen), Heinz-Peter Haustein,
Elke Hoff, Birgit Homburger, Hellmut Königshaus, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin,
Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Michael Link (Heilbronn), Markus Löning, Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt,
Jan Mücke, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper,
Gisela Piltz, Jörg Rohde, Marina Schuster, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Rainer Stinner, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing,
Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Präsident Dmitrij Medwedew beim Wort nehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Dmitrij Medwedew wurde bei den russischen Präsidentschaftswahlen am
2. März 2008 zum Nachfolger von Wladimir Putin gewählt. Mit der Amts-
einführung Dmitrij Medwedews am 7. Mai 2008 endete die Amtszeit von Präsi-
dent Wladimir Putin.

Die ausgehende Präsidentschaft Präsident Wladimir Putins verlief aus Sicht des
Deutschen Bundestages sowohl mit Blick auf eine notwendige konstruktive
Zusammenarbeit in internationalen Fragen als auch mit Blick auf die innerrussi-
sche Entwicklung enttäuschend. Der Deutsche Bundestag hat mit Sorge wahr-
genommen, dass unter dem Prinzip der so genannten gelenkten Demokratie in
den letzten Jahren Rückschritte zu verzeichnen waren, die insbesondere die
Situation der Menschenrechte, die Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien
und die Entwicklung echter demokratischer Strukturen und Mechanismen in
Russland betreffen. Gleiches gilt für die zunehmende Zahl fragwürdiger Justiz-
entscheidungen, die Lage der Medien und der Nichtregierungsorganisationen
oder die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit im Vorfeld der Duma- und
der Präsidentschaftswahlen.
Angesichts vielfältiger internationaler Probleme, wie der Situation auf dem
Balkan, im südlichen Kaukasus, im Iran, in vielen Regionen Afrikas sowie
insbesondere bei Fragen der internationalen Abrüstung und Rüstungskontrolle
bedarf es dringend verstärkter Kooperation und gemeinsamer Initiativen. Dies
gilt besonders für die Kooperation zwischen Russland und der Europäischen
Union, die der Deutsche Bundestag in kultureller, wirtschaftlicher und auch
politischer Hinsicht als natürliche Partner sieht. Trotzdem ist das derzeitige Ver-

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hältnis zwischen Russland einerseits und Deutschland wie Europa andererseits
von der gewünschten „Strategischen Partnerschaft“ noch weit entfernt. Eine
echte „Strategische Partnerschaft“ kann sich aus Sicht des Deutschen Bundes-
tages nur auf einer gemeinsamen Wertebasis entwickeln, die sich sowohl in Fra-
gen der internationalen Zusammenarbeit wie auch im innenpolitischen Handeln
widerspiegelt. Den Grundsätzen der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der
freien Marktwirtschaft misst der Deutsche Bundestag besondere Bedeutung zu.
Rechtsstaatliches Handeln nach innen fördert auch das Vertrauen von außen.

Der Deutsche Bundestag verfolgt das Ziel und fordert die Bundesregierung und
den neuen russischen Präsidenten in gleicher Weise auf, zu einer Kultur der Ver-
trauensbildung zurückzukehren, und zwar sowohl im bilateralen wie auch im
multilateralen Rahmen. Eine konstruktive Zusammenarbeit im Rahmen eines
neuen europäisch-russischen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens so-
wie die zukunftsorientierte Zusammenarbeit in der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) können hierfür einen geeigneten
Rahmen darstellen.

Der Deutsche Bundestag betrachtet es als wichtiges Zeichen zur Bereitschaft
für eine solche konstruktive Zusammenarbeit, dass sich Präsident Dmitrij
Medwedew während seines Wahlkampfes mit deutlichen Worten zur umfas-
senden Modernisierung seines Landes bekannt hat, und zwar nicht nur in der
ökonomischen Dimension, sondern auch mit Blick auf die Entwicklung des
Rechtsstaates und der Demokratie nach westlichem Verständnis.

In seiner am 15. Februar 2008 im russischen Krasnojarsk gehaltenen Rede auf
dem V. Wirtschaftsforum mit dem Titel „Russland 2008–2020“ hat sich Präsi-
dent Dmitrij Medwedew deutlich für Fortschritte Russlands in den Bereichen
der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ausgesprochen und
entsprechende Verbesserungen unter seiner Präsidentschaft angekündigt. So
hieß es wörtlich:

,Unsere Politik muss auf einem Prinzip basieren, das aus meiner Sicht – un-
geachtet seiner Offensichtlichkeit – das Wichtigste in der Tätigkeit eines jeden
modernen Staates ist, der hohe Lebensstandards anstrebt. Dieses Prinzip lautet:
„Freiheit ist besser als Unfreiheit“.

Es handelt sich um Freiheit in all ihren Erscheinungsformen – persönliche Frei-
heit, wirtschaftliche Freiheit und schließlich Freiheit der Selbstfindung.

Die Erreichung einer Harmonie zwischen Freiheit und Rechtsordnung ist mei-
nes Erachtens das Wichtigste in der jetzigen Phase. Bereits Katharina die Große
schrieb zu diesem Thema: „Die Freiheit ist die Seele von allem, ohne Freiheit ist
alles tot. Ich will, dass man sich den Gesetzen unterwirft, aber nicht (den Geset-
zen) von Sklaven“.

Die Freiheit ist untrennbar von der tatsächlichen Anerkennung der Macht des
Gesetzes durch die Bürger. Sie bedeutet nicht Chaos, sondern die Achtung der
in einem Land etablierten Ordnung. Der Vorrang des Gesetzes muss einer un-
serer bedeutendsten Werte werden.

Ich habe mich mehrfach zu den Wurzeln des Rechtsnihilismus in unserem Staat
geäußert, der weiterhin ein charakteristisches Merkmal unserer Gesellschaft ist.
Wir müssen die Verletzung des Gesetzes aus unseren Nationalgewohnheiten,
denen unsere Bürger in ihrem tagtäglichen Tun folgen, verbannen und damit
erreichen, dass Gesetzesverstöße nicht die einen reich machen und die anderen
moralisch verderben.

Alle Gesetzesinitiativen und -entwürfe zu anderen Rechtsvorschriften sollten
sich meines Erachtens der öffentlichen Diskussion und der gesellschaftlichen

Begutachtung stellen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9423

Die Missachtung des Gesetzes führt stets zur Missachtung der Rechte anderer
Menschen und zur Nichteinhaltung eigener Verpflichtungen. Um welche glei-
chen Chancen kann es sich denn handeln, wenn jeder weiß, dass immer der im
Recht sein wird, der die „schärferen Zähne“ hat, und nicht der, der das Gesetz
achtet?

Die zweite und offenbar einzige positive Variante besteht darin, die Situation im
Bereich der Rechtsanwendung grundlegend zu verändern.

Und wir müssen mit uns selbst anfangen. Wir alle – Staatsbeamte und Milizio-
näre, Richter und Staatsanwälte, Geschäftsleute, jeder an seinem Arbeitsplatz.

Dann werden sich die Bürger als Herren ihres Landes fühlen. Sie werden immer
in der Lage sein, ihre Ehre und Würde, Freiheit und Sicherheit zu verteidigen.
Und sie werden wissen, dass sie der Staat vor der Willkür, der Schrankenlosig-
keit, die in der Gesellschaft herrscht, schützt.

Diesem Weg muss eine für alle sichtbare Verbesserung der Arbeit des Justizsys-
tems zugrunde liegen. Alles muss getan werden, damit die Menschen glauben,
dass ein Gericht der Ort ist, an dem gerechte Entscheidungen getroffen werden,
an dem sie Schutz vor Rechtsbrechern finden können, ob es nun ein Straßen-
rowdy oder ein Beamter ist.

Alle Verwaltungsverfahren müssen in Dienst- bzw. Geschäftsordnungen der
staatlichen Organe und Behörden verankert werden und so bürgernah wie mög-
lich sein. Und nicht um noch mehr bürokratisches Papier zu erzeugen, sondern
damit die Bürger die Pflichten eines konkreten Beamten kennen und eine realis-
tische Chance haben, eine widerrechtliche Tätigkeit oder Unterlassung anzu-
fechten.

[…]

Und schließlich als sechster und wohl mit wichtigster Punkt. Bei der Umsetzung
dieser Maßnahmen müssen wir der schwersten Krankheit, die sich in unserer
Gesellschaft breit gemacht hat, den Kampf, und zwar einen richtigen Kampf,
ansagen – der Korruption. Ein Nationalplan zur Korruptionsbekämpfung soll in
einem besonderen Verfahren erarbeitet und realisiert werden.

Es ist auch wichtig zu verstehen, dass der Zugang zur Justiz, die Möglichkeit,
seine Rechte zu vertreten und seine Freiheiten zu genießen, die Erfolge bei der
Korruptionsbekämpfung untrennbar mit dem Recht der Bürger auf zuverlässige
Information verbunden sind. Wir müssen die tatsächliche Unabhängigkeit der
Medien schützen, die ein Feedback zwischen der Gesellschaft insgesamt und
den Machtorganen gewährleisten.

Die Schlüsselpriorität unserer Arbeit in den kommenden vier Jahren wird die
Gewährleistung einer echten Unabhängigkeit des Justizsystems von der Legis-
lative und der Exekutive, die Gewährleistung der professionellen Arbeit dieses
Justizsystems sowie eines gerechten und für alle gleichen Zugangs zur Justiz
sein.

Dafür sind politischer Wille und Zivilcourage notwendig. Sowohl ich als auch
die Führung des Landes haben diesen politischen Willen.‘

Der Deutsche Bundestag unterstützt ausdrücklich die von Präsident Dmitrij
Medwedew in seiner Rede in Krasnojarsk am 15. Februar 2008 getroffenen
Ankündigungen, nimmt ihn diesbezüglich beim Wort und wird die Umsetzung
dieser angekündigten Reformen konstruktiv begleiten. Positive Erfahrungen wie
die des deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialoges können auch der Unterstüt-
zung von Rechtsstaatsreformen in Russland zugute kommen. Zudem gilt es, die
zivilgesellschaftliche Dimension der Zusammenarbeit, wie sie derzeit unter

anderem im Petersburger Dialog institutionalisiert ist, weiter zu vertiefen.

Drucksache 16/9423 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
II. In diesem Sinne fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf,

1. auf einen zügigen Abschluss des europäischen Partnerschafts- und Koope-
rationsabkommens mit Russland hinzuwirken, das alle relevanten Bereiche
der wirtschaftlichen wie politischen Kooperation umfassen soll;

2. im bilateralen und insbesondere im multilateralen Rahmen eine Kultur der
Vertrauensbildung und der verstärkten Kooperation anzustreben;

3. im Sinne dringend notwendiger Initiativen im Bereich der Abrüstung und
Rüstungskontrolle national das Ratifikationsverfahren zum angepassten
Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) einzulei-
ten, sowie bei den NATO-Partner für weitere nationale Ratifikationen zu
werben;

4. die originär europäischen Sicherheitsinteressen im EU-Rahmen stärker zu
diskutieren und zum Beispiel bei der Frage des geplanten US-amerikani-
schen Raketenabwehrschildes eine Position der europäischen NATO-Mit-
glieder herzustellen und zu vertreten, die auch den russischen Sicherheits-
interessen angemessen Rechnung trägt;

5. sich gegenüber Russland für eine schnelle Ratifizierung des 14. Zusatzpro-
tokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention einzusetzen;

6. Präsident Dmitrij Medwedew in seinen Bemühungen um eine Stärkung des
Rechtsstaates in Russland zu unterstützen und diesbezüglich beratende
Hilfe anzubieten;

7. Präsident Dmitrij Medwedew auf den durch die Ermordung der Journalistin
Anna Politkowskaja und den Umgang mit dem ehemaligen Yukos-Chef
Michail Chodorkowski entstandenen großen Vertrauensverlust in den
Augen der Öffentlichkeit in Europa hinzuweisen und eine transparente und
rechtsstaatlich einwandfreie Aufklärung der beiden Fälle einzufordern;

8. Russland aufzufordern, Vertretern internationaler Organisationen den unge-
hinderten Zugang zu russischen Gefängnissen zu ermöglichen und Verstöße
gegen die Menschenrechte in russischen Gefängnissen intern konsequent zu
verfolgen;

9. sich gegenüber der russischen Regierung für gleichberechtigte privatwirt-
schaftliche Investitionen in Russland sowie in der EU einzusetzen und
Rechtssicherheit für in Russland tätige europäische Unternehmen sicher-
zustellen;

10. gegenüber Russland auf die Bedeutung von unabhängigen Nichtregierungs-
organisationen für eine demokratische und zivilgesellschaftliche Moder-
nisierung hinzuweisen und auf eine Änderung der bestehenden Gesetzes-
lage hinzuwirken, die die Arbeit in- und ausländischer NGO (Non-Govern-
mental Organization) wieder erleichtert;

11. in Gesprächen mit Russland immer wieder auf die Bedeutung freier und
unabhängiger Medien hinzuweisen und die diesbezügliche Arbeit des
OSZE-Medienbeauftragten zu unterstützen.

Berlin, den 4. Juni 2008

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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