BT-Drucksache 16/8812

Entwicklung braucht Bildung - Den deutschen Beitrag erhöhen

Vom 11. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8812
16. Wahlperiode 11. 04. 2008

Antrag
der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm,
Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Cornelia Hirsch, Inge Höger, Dr. Hakki Keskin,
Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich und
der Fraktion DIE LINKE.

Entwicklung braucht Bildung – Den deutschen Beitrag erhöhen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Freie Teilhabe an Bildung ist ein Menschenrecht. Das Bildungsniveau entschei-
det maßgeblich über die persönlichen Voraussetzungen im Erwerbsleben. Nach
einer Weltbank-Studie aus dem Jahr 2002 besteht ein messbarer Zusammenhang
zwischen Armut und Länge der schulischen Ausbildung. Demnach beträgt bei
jungen Frauen in Ländern mit niedriger Wirtschaftskraft der durchschnittliche
Einkommensunterschied pro Schuljahr zwischen 10 und 20 Prozent.

Dort, wo viele Kinder keine Schule besuchen können, grassiert der Analphabe-
tismus. Nach Angaben der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung,
Wissenschaft und Kultur (UNESCO) gibt es immer noch mindestens 780 Mil-
lionen Jugendliche und Erwachsene, die nicht lesen und schreiben können. Auch
verbreiten sich Krankheiten schneller in Ländern mit Defiziten bei der Grund-
bildung. Eine Studie der Globalen Bildungskampagne, die in über 120 Ländern
von Nichtregierungsorganisationen getragen wird, kommt auf Basis der verfüg-
baren Vergleichsdaten (2004) zu dem Ergebnis, dass die weltweite Versorgung
mit Grundbildung die Neuinfektionen mit dem Aids auslösenden HI-Virus jähr-
lich um 700 000 senken könnte.

Dem Aufbau eines funktionierenden Bildungswesens kommt bei der Über-
windung von Unterentwicklung mithin eine Schlüsselrolle zu. Aus dieser Er-
kenntnis heraus verständigten sich im April 2000 die Regierungen von mehr als
164 Staaten auf dem Weltbildungsforum in Dakar auf sechs Entwicklungsziele
im Bildungsbereich, die durch gemeinsame Anstrengungen bis zum Jahr 2015
erreicht werden sollen:

– Ausweitung und Verbesserung der frühkindlichen Betreuung und Erziehung;

– Sicherstellung einer obligatorischen, gebührenfreien und qualitativ guten
Grundschulbildung für alle Kinder;
– verbesserter Zugang von Jugendlichen und Erwachsenen zu Erwerb fördern-
den Lehrangeboten und lebenspraktischen Kenntnissen („life skills“);

– Halbierung der Analphabetenrate unter Erwachsenen bis 2015 und Sicherung
eines angemessenen Grundbildungsniveaus;

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– Überwindung der Benachteiligung von Mädchen in Grund- und Sekundar-
bildung bis 2005, allumfassende Gleichberechtigung im gesamten Bildungs-
wesen bis 2015;

– Verbesserung der Qualität der Bildung, insbesondere in den grundlegenden
Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen.

Zwei Ziele von Dakar – die Forderungen nach einer Grundschulausbildung für
alle Kinder sowie nach der Aufhebung der Benachteiligung von Mädchen und
Frauen – haben die Vereinten Nationen im Jahr 2000 in den so genannten
Millenniumszielen übernommen. Die G8-Staaten haben auf ihren Gipfeltreffen
seit 2001 regelmäßig die Bekenntnisse zu den Zielen des Weltbildungsforums
und den Millenniumszielen bekräftigt, ohne dabei konkrete Umsetzungspläne
vorzulegen. Auch hatten diese Bekräftigungen weder Einfluss auf die Gestal-
tung der von den G8 dominierten Welthandelsgespräche im Rahmen der WTO,
noch auf die generelle Ausrichtung der Weltbank-Förderpolitik, deren auf
Deregulierung und Marktöffnung ausgerichtete Politik vielfach eine eigen-
ständige Entwicklung funktionierender Bildungssysteme in den Entwicklungs-
und Schwellenländern erschwert hat.

Ungeachtet dessen gibt es in einigen Ländern seit Verkündung dieser Ziele Fort-
schritte zu verzeichnen – insbesondere dort, wo Regierungen Schulgebühren ab-
geschafft haben. In Tansania etwa stieg die Zahl der im Jahr 2003 eingeschrie-
benen Schüler um insgesamt 3,1 Millionen, nachdem die Eltern nicht mehr für
den Schulbesuch ihrer Kinder zahlen mussten. Ähnliche Entwicklungen ließen
sich in Kenia, Malawi, Burundi und Uganda beobachten. Insgesamt sind zwi-
schen den Jahren 2000 und 2005 rund 37 Millionen Kinder zusätzlich einge-
schult worden, in der Mehrzahl Mädchen.

Doch Fortschritte in einzelnen Ländern können nicht darüber hinwegtäuschen,
dass die Welt als ganzes noch weit von den gesteckten Zielen entfernt ist. Ein in
diesem Jahr veröffentlichter Bericht der UNESCO geht auf Grundlage von amt-
lichen Zahlen aus dem Jahr 2004 davon aus, dass allein in Afrika von geschätz-
ten 111 Millionen Kindern im Grundschulalter 34 Prozent keine Möglichkeit
haben, zur Schule zu gehen. Der aktuelle Jahresbericht der Globalen Bildungs-
kampagne stellt fest, dass unter Beibehaltung des aktuellen Umsetzungstempos
fast alle Entwicklungsländer die genannten sechs Ziele des Weltbildungsforums
von Dakar verfehlen werden. Laut UNESCO wird im Jahr 2015 in mindestens
67 Ländern nach wie vor nicht einmal die allgemeine Grundschulbildung ge-
währleistet sein. Dem Bericht zufolge seien viele Länder so weit von diesem
Ziel entfernt, dass sie es nach derzeitigem Stand „nicht einmal in achtzig Jahren
erreichen werden“.

Gewachsene Einschulungsraten allein beheben darüber hinaus nicht die gravie-
renden Mängel in der Qualität der Ausbildung. Die systematische Moder-
nisierung der Lehrpläne, der Ausbau der verfügbaren Klassenzimmer und die
Bereitstellung guter Lehrunterlagen sind unabdingbare Voraussetzungen, um
wirkliche Bildungserfolge zu erzielen. In den Schulklassen Kameruns steht bei-
spielsweise für die Unterrichtsfächer Mathematik und Englisch im Durchschnitt
pro 100 Kinder jeweils weniger als ein Lehrbuch zur Verfügung.

Von besonderer Bedeutung für die Qualität des Unterrichts ist die Zahl der Lehr-
kräfte. Denn ohne ausreichend Lehrpersonal sind die Klassenfrequenzen viel zu
hoch. Dies drückt den Lernerfolg und damit die Motivation. Viele Millionen
Kinder verlassen jährlich die Schule frühzeitig und ohne Grundschulabschluss.
Dies ist ein deutlicher Hinweis, dass wachsende Einschulungsraten nur dann
nachhaltige Erfolge zeitigen, wenn sie auch von wachsenden Gesamtausgaben
für Bildung begleitet werden. Langfristige Investitionen in Lehrgehälter, zusätz-
liche Stellen für Lehrkräfte und Fortbildungsmaßnahmen sind unabdingbare

Voraussetzung, wenn quantitative Fortschritte auch mit einer qualitativen Ver-
besserung für die Masse der Bevölkerung einhergehen sollen. Nach Schätzun-

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gen der UNESCO müssen in Schwarzafrika bis 2015 zusätzlich 1,6 Millionen
Lehrkräfte eingestellt werden, damit jedes Kind eine angemessene Grundschul-
bildung erhalten kann. Weltweit belaufen sich die notwendigen Mittel zur Finan-
zierung des Ziels einer Grundschulbildung für alle zwischen 2005 und 2010 auf
jährlich 9 Mrd. US-Dollar. Das sind deutlich weniger als 0,1 Prozent der globa-
len Militärausgaben.

Auch wenn die Regierungen der Entwicklungsländer in keiner Weise zur
Lösung der Bildungskrise aus der Verantwortung entlassen werden können,
müssen die entwickelten Industriestaaten ihren am Bruttonationaleinkommen
bemessenen fairen Anteil zur Finanzierung der global vereinbarten Aufgaben
beitragen. Nicht alle Entwicklungsländer sind indes in ein gut koordiniertes Netz
bilateraler Geber eingebunden.

Mit der unter Federführung der Weltbank eingerichteten „Education for All – Fast
Track Initiative“ (FTI) besteht neben den bilateralen Bemühungen seit April 2002
auch ein multilateraler Kanal zur Mobilisierung und Koordinierung von Ressour-
cen. Die FTI verlangt vor der Aufnahme eines Entwicklungslandes die Vorlage
eines nach ihren Kriterien glaubwürdigen und seriösen Plans zur Verbesserung
des eigenen Bildungssektors. Im Gegenzug können Entwicklungsländer mit
wenig bilateralen Gebern zur Finanzierung ihres Bildungsplans auf Gelder aus
dem „Catalytic fund“ der FTI rechnen. Daneben existiert mit dem „Education
Programme Development Fund“ ein kleinerer FTI-Fonds, der zur Finanzierung
technischer Zusammenarbeit bei der Bildungsplanung vorgesehen ist. Bislang
sind 31 Entwicklungsländer als FTI-Partner anerkannt. Bis Ende 2008 soll die
Mitgliedszahl auf 60 steigen.

Trotz aller Bekenntnisse der G8-Staaten zur FTI als bedeutsamstes multilatera-
les Instrument zur Finanzierung der globalen Bildungsziele wies dessen Finan-
zierung allein im Jahr 2007 ein Defizit von rund 500 Mio. US-Dollar auf. Wenn
all jene Länder rasch aufgenommen werden, die bereits den Aufnahmekriterien
entsprochen haben, dann wird diese Lücke bis Ende 2008 voraussichtlich auf
800 Mio. US-Dollar anwachsen.

Diese Vernachlässigung der multilateralen Verpflichtungen wird durch die Ver-
säumnisse auf der bilateralen Ebene verschärft. Mit Ausnahme einiger kleinerer
Staaten wie die Niederlande, Finnland oder Luxemburg haben alle OECD-
Staaten, die sich zur Bereitstellung der global notwendigen Ressourcen bereit
erklärt haben, von der Globalen Bildungskampagne diesbezüglich schlechte
Noten bescheinigt bekommen. Insbesondere die Bundesregierung steht ent-
gegen den eigenen Beteuerungen schlecht da. Auf der Brüsseler Bildungskonfe-
renz vom Mai 2007 sagte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung (BMZ) die Bereitstellung von 8 Mio. Euro für den
„Catalytic Fund“ der FTI zu – die Niederlande wollen bis 2009 hingegen
470 Mio. Euro einstellen. Gemessen am Bruttonationaleinkommen läge nach
Berechnungen der Globalen Bildungskampagne der als „fair share“ bezeichnete
angemessene Anteil Deutschlands zur Finanzierung der bildungspolitischen
Millenniumsziele bei jährlich 777 Mio. US-Dollar oder derzeit rund 563 Mio.
Euro. Tatsächlich brachte die Bundesrepublik Deutschland im Durchschnitt der
Jahre 2004/2005 davon bestenfalls 39 Prozent auf – wenn man von der groß-
zügigen Annahme ausgeht, dass ein Drittel der unspezifizierten Gelder für Ent-
wicklungshilfe im Bereich Bildung in die Förderung von Grundbildung fließen.

Das genaue Defizit wird durch die kreative Buchführung in der deutschen Ent-
wicklungszusammenarbeit allerdings vertuscht. Für die Erreichung des Millen-
niumsziels einer umfassenden Grundbildung kündigte die Bundesregierung
2002 an, den deutschen Beitrag für Grundbildung bis 2007 auf jährlich 120 Mio.
Euro zu verdoppeln. Doch selbst diese hinter den Erfordernissen zurückblei-

bende Summe wurde verfehlt. Der Anteil für Grundbildung in der multilateralen
Hilfe wird nicht klar ausgewiesen. Die bilaterale Hilfe wird in den Bilanzen der

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Bundesregierung systematisch aufgebläht. 2005 wurden 985 Mio. Euro der
bilateralen Leistungen für den Gesamtsektor Bildung ausgewiesen. Davon ent-
fielen allerdings 745 Mio. Euro auf die Anrechnung der Studienplatzkosten
ausländischer Studierender in Deutschland. 2005 wurden nicht mehr als 57 Mio.
Euro im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit für Grund-
bildung zur Verfügung gestellt – was einem Anteil von unter 1 Prozent der auf-
gebrachten Mittel entsprach.

Die verfügbaren Zahlen verdeutlichen, dass Anspruch und Wirklichkeit der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit in wenigen Bereichen derart auseinan-
derklaffen wie im Bereich der Förderung der globalen Grundbildung. An diesem
Punkt herrscht ein dringender Handlungsbedarf. Zudem muss die Bundes-
regierung Initiativen ergreifen, um die Rahmenbedingungen der Entwicklungs-
zusammenarbeit im Bildungsbereich grundlegend zu ändern.

II. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– in einem ersten Schritt den im Rahmen der Vereinten Nationen zugesagten
Verpflichtungen nachzukommen und entsprechend den von der Globalen
Bildungskampagne auf Grundlage von UNESCO-Zahlen berechneten an-
gemessenen Anteil („fair share“) zur Finanzierung der bildungspolitischen
Millenniumsziele zu leisten;

– Bildung zum Bestandteil der Regionalkonzepte des BMZ für Afrika zu
machen und die Anzahl der Partnerländer mit einem bildungspolitischen
Schwerpunkt zu erhöhen;

– den gegenwärtigen Kovorsitz in der FTI zu nutzen, um kurzfristig auf eine
rasche Schließung der bestehenden Finanzierungslücke durch alle beteilig-
ten, insbesondere aber die großen Geberländer hinzuwirken;

– perspektivisch auf eine grundlegende Änderung der Weltbankpolitik zu drän-
gen und sicherzustellen, dass die Vergabe von Darlehen und Fördermitteln
in den Partnerländern tatsächlich eigenständige Entwicklungsprozesse stimu-
lieren, dass Finanzzusagen für den Aufbau von Bildungssystemen in der Ent-
wicklungszusammenarbeit nicht an Forderungen wie Privatisierungen
öffentlicher Einrichtungen oder die Senkung der öffentlichen Ausgaben
geknüpft werden, sowie darauf zu drängen, neben der Grundbildung auch
den Ausbau der Sekundarstufen, der höheren Bildung und der Berufsbildung
vorangetrieben wird;

– die im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit für die Förderung der
Grundbildung bereitgestellten Mittel in den öffentlich zugänglichen Haus-
haltsplänen präzise auszuweisen;

– auf die bilanztechnische Verrechnung der geschätzten Studienplatzkosten
ausländischer Studierender in Deutschland mit der geleisteten öffentlichen
Entwicklungshilfe (ODA-Quote) zu verzichten, und stattdessen diesen Pos-
ten gesondert aufzuführen;

– sicherzustellen, dass künftig langfristige Finanzzusagen gemacht und diese
auch umgesetzt werden, damit in den betroffenen Entwicklungsländern bei
der Umsetzung der eingeforderten Bildungspläne zur Bereitstellung einer
umfassenden Grundbildung für alle Kinder ausreichend Planungssicherheit
besteht.

Berlin, den 9. April 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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