BT-Drucksache 16/8753

Gleichstellung und Genderkompetenz als Erfolgsfaktor für mehr Qualität und Innovation in der Wissenschaft

Vom 9. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8753
16. Wahlperiode 09. 04. 2008

Antrag
der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn),
Ekin Deligöz, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Grietje Staffelt
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gleichstellung und Genderkompetenz als Erfolgsfaktor für mehr Qualität
und Innovation in der Wissenschaft

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Expertenanhörung „Frauen in der Wissenschaft und Gender in der Forschung“,
die am 18. Februar 2008 im Bildungs- und Forschungsausschuss auf Initiative der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stattfand, machte einmal mehr deutlich:
Weder bestehen im deutschen Wissenschaftssystem wirklich faire und vorurteils-
freie Wettbewerbsbedingungen, die allen Talenten einen gleichberechtigten Zugang
zum Wissenschaftssystem ermöglichen. Noch garantieren hiesige Verfahren zur
Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen ein Höchstmaß an Erkenntnisfortschritt
und Innovationsdynamik. Verzerrungseffekte in der Wahrnehmung, so genannter
Genderbias, beeinträchtigen systematisch den vorurteilsfreien Blick auf Wissen-
schaftlerinnen und ihre Leistungen und behindern so den wissenschaftlichen Er-
kenntnisprozess.

Längst haben die Wissenschaftsorganisationen und viele wissenschaftliche Einrich-
tungen den Zusammenhang zwischen Gleichstellungsdefiziten und Defiziten bei
Exzellenz, Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssys-
tems erkannt. Unter Fachleuten und Entscheidern besteht mittlerweile Einigkeit
darüber, dass die – auch im internationalen Vergleich – erschreckende Unterreprä-
sentanz von Wissenschaftlerinnen zu einem der schwerwiegendsten Qualitäts-
hemmnissen des deutschen Wissenschaftssystems gehört. Insbesondere vor dem
Hintergrund von Fachkräftemangel, demografischen Wandel und internationalen
Wettbewerb mahnen die Expertinnen/Experten dringenden Handlungsbedarf an.

Als Folge hat sich auf breiter Front eine weit verbreitete Gleichstellungsrhetorik
durchgesetzt. Inzwischen gibt es kaum mehr eine Einrichtung, in der nicht Chan-
cengleichheit zum Leitwert des institutionellen Selbstverständnisses avanciert
wäre. Die tatsächlich wirksamen Gleichstellungsanstrengungen bleiben jedoch weit
hinter dem rhetorisch-symbolischen Anspruch zurück. Entsprechend warnte der
Wissenschaftsrat in der Ausschussanhörung: Wenn der Aufholprozess weiterhin so

langsam wie bisher verlaufe, dann gebe es erst 2090 genauso viele Professorinnen
wie Professoren in der höchsten Besoldungsstufe.

Diese Diskrepanz zwischen einerseits rhetorisch bekundeten Veränderungswillen
und andererseits unzureichender Veränderungsdynamik, besonders bei den höheren
Qualifikationsstufen und Leitungspositionen, illustriert, dass mittlerweile keines-
falls mehr ein Erkenntnis-, sondern vielmehr ein Umsetzungsproblem besteht. An
die Stelle von offener Diskriminierung sind subtilere Ausgrenzungsmechanismen

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getreten. Diese führen dazu, dass Wissenschaftlerinnen, weiterhin an einer be-
stimmten Stelle das Wissenschaftssystem verlassen (leaky pipeline). Nach heuti-
gem Wissensstand liegen die Ursachen der Unterrepräsentanz von Frauen primär
innerhalb der Wissenschaftsstrukturen. Die Barrieren, die zum Ausschluss von
Frauen aus der Wissenschaft führen, variieren dabei von Fach zu Fach. Maßnahmen
der individuellen Karriereförderung von Frauen sind sicher immer noch unverzicht-
bar und ein wichtiges gleichstellungspolitisches Element. Sie reichen aber bei wei-
tem nicht aus, um strukturell verankerte Ausschlussmechanismen in den einzelnen
Wissenschaftseinrichtungen und im Wissenschaftssystem als Ganzes zu beseitigen.
Formen individueller Karriereförderung müssen daher um verbindliche gleichstel-
lungspolitische Zielvorgaben und Maßnahmen gegen strukturell verankerte Diskri-
minierungen ergänzt werden.

Coaching- und Mentoringprogramme, Karriereberatungen und Trainings, Stipen-
dien und Qualifikationsstellen stellen auch in Zukunft wichtige Instrumente dar,
Frauen auf dem Weg durch die Institution Wissenschaft zu unterstützen. Sie haben
nicht zu dem von einigen befürchteten Stigmatisierungseffekten für die geförderten
Frauen geführt, sondern überhaupt erst zu mehr Sichtbarkeit von Wissenschaftlerin-
nen im System beigetragen. Um nachhaltige Veränderungen der Strukturen schnell
und im notwendigen Maße zu bewirken, müssen Politik und Leitungen der wissen-
schaftlichen Einrichtungen darüber hinaus aber vor allem klare und laufend über-
prüfbare Vorgaben und Anforderungen zur Steigerung der Frauenanteile in der Wis-
senschaft durchsetzen. Diese müssen auf die Bedingungen einer zunehmend
wettbewerblich organisierten und am Prinzip der Autonomie orientierten Wissen-
schaftslandschaft hin ausgestaltet werden. Die Erfahrungen in Schweden machen
vor, wie über staatlich vorgegebenen Zielquoten und deren fortwährende Kontrolle
der Frauenanteil in der Wissenschaft signifikant und schnell gesteigert werden
kann. Ein solches Steuerungsmodell, bestehend aus Zielvorgaben und Erfolgskon-
trolle, sollte auch bei uns endlich zur Anwendung kommen. Grundsätzlich geht es
darum, Gleichstellungsziele spürbar an finanzielle Ressourcen zu knüpfen, indem
man positive Anreizmechanismen schafft, die negative Konsequenzen nicht aus-
schließen für den Fall, dass vereinbarte Ziele nicht erreicht wurden. Jene Institutio-
nen, die Ziele verfehlen, müssen über das Controlling dazu angehalten werden, ihre
Misserfolge zu rechtfertigen und ihre Gleichstellungsinstrumente ergebnisorientiert
anzupassen. Der gesamte Ansatz zielt darauf ab, hochschulische und außerhoch-
schulische Einrichtungen mit positiven Gleichstellungserfolgen über finanzielle
Anreize, Wettbewerbsvorteile und über das Leistungsranking Imagegewinne zu er-
möglichen.

Um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und dadurch mehr Qualität in
der Wissenschaft zu gewährleisten, brauchen wir außerdem sehr viel transparen-
tere Verfahren der Leistungsbewertung. Der Vergleich insbesondere mit der
angloamerikanischen Wissenschaftskultur zeigt, dass in Deutschland häufig perso-
nen- statt qualitätsorientierte Bewertungskriterien wissenschaftliche Bewerbungs-
und Beurteilungsverfahren prägen. In einer männerbündischen „Kultur der kleinen
Königreiche“ fördern zumeist männliche Wissenschaftler männliche Nachwuchs-
kandidaten, die ihnen aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur eigenen Wissenschaftsbiogra-
fie und dem eigenen inhaltlichen und methodischen Profil als am besten geeignet
erscheinen. Diese am Prinzip der Ähnlichkeit orientierte Leistungsbewertung führt
zum Ausschluss vieler Frauen aus der Wissenschaft. Sie wirkt sich auch negativ auf
die Qualität und die Innovationsfähigkeit des Wissenschaftssystems aus, weil sich
der pool of talents, aus dem die Wissenschaft schöpft, unnötig verkleinert. Pluralität
und Multiperspektivität, die sich zu einem guten Teil aus sozial gemischten Grup-
pen ergeben, werden hier durch Verzerrungseffekte in der Leistungsbewertung von
vornherein unterminiert. Das Ergebnis sind zunehmend geschlechtshomogene Ver-
hältnisse, je höher die wissenschaftliche Karrierestufe ist.
Diese männliche Monokultur setzt sich in den Inhalten der Wissenschaft fort. Denn
oft geht die Voreingenommenheit gegenüber Personen Hand in Hand mit einer

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Skepsis gegenüber innovativen Forschungsinhalten, wie sie z. B. auch die Gender-
Forschung darstellt. Wo es um Machterhalt, Ressourcen- und Stellenerhalt geht,
regiert nicht die reine Orientierung hin auf wissenschaftliche Qualität. Allzu stark
orientiert sich die Wissenschaft hierzulande noch an disziplinären Grenzen und
traditionellen „Schulen“ mit starken informellen Förderbeziehungen zwischen
„Lehrer“ und „Schüler“. Dies trübt den Blick für interdisziplinäre Methoden und
fachübergreifende thematische Neuerungen, die erfahrungsgemäß besonders hohes
Potenzial für innovative Ansätze haben. Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftler mit
interdisziplinärem Profil haben das Nachsehen.

Eine solche geschlossene Wissenschafts- und Förderkultur kann mit den Anforde-
rungen einer modernen, globalisierten Wissenschaft, in der zunehmend sozial
gemischte Forscherteams multiperspektivisch komplexe Probleme bearbeiten, im-
mer weniger mithalten. Statt personenbezogenen Qualifizierungswegen müssen
stärker programmorientierte Nachwuchsförderung etabliert werden. Ebenso wich-
tig ist es, in den Wissenschaftsorganisationen und Hochschulen Maßnahmen zur
Sicherung einer vorurteilsfreien und innovationsorientierten Bewertung von For-
schungsvorhaben zu implementieren. Eine Voraussetzung dafür bilden z. B.
gezielte Gender-Trainings und Peer-Qualifizierungen. Systematisches Wissen um
Gender ist aber nicht nur als zukunftsweisende Kompetenz bei der Bewertung wis-
senschaftlicher Leistungen zentral. Es muss auch grundsätzlich noch viel stärker
strukturell in Forschung und Lehre verankert werden. Hierzulande werden Gender-
Themen allzu schnell als Sonderinteressen disqualifiziert. Diese Ignoranz steht im
Widerspruch dazu, dass auf internationaler Ebene genderbezogene Forschung als
Querschnittsbereich sämtlicher Disziplinen einen sehr viel höheren Akzeptanzgrad
erreicht hat. Dort gilt längst die Einsicht, dass jegliches wissenschaftliches Problem
potenziell auch mit Blick auf seine Bedeutung für genderrelevante Fragestellungen
analysiert werden kann und sollte.

In Ergänzung zum Antrag auf Bundestagsdrucksache 16/5898 der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Mehr Qualität und Exzellenz durch mehr Chancen-
gerechtigkeit und Gender- Perspektiven in Wissenschaft und Forschung“ ergeben
sich vor dem Hintergrund der Expertenanhörung im Ausschuss noch einige zusätz-
liche Handlungsfelder.

II. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

in Zusammenarbeit mit den Ländern darauf hinzuwirken, dass

1. Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen zu messbaren und realistischen
Steigerungsquoten des Frauenanteils verpflichtet werden, die gewährleisten,
dass innerhalb eines angemessenen Zeitraums ein Anteil von mindestens 40 Pro-
zent jedes Geschlechts auf allen Ebenen und in allen Fachbereichen erreicht
wird. Außerdem werden sie verbindlich verpflichtet, überprüfbare qualitative
Gleichstellungsziele umzusetzen. Letzteres umfasst Aspekte wie Ausstattungs-
merkmale von Stellen, Sicherungsverfahren vorurteilsfreier Leistungsbewer-
tung, Transparenzkriterien, flexible Regelungen zur Arbeitszeit etc. Überall
dort, wo der Bund als Geldgeber bzw. als Mitglied in Aufsichtsräten oder Kura-
torien Einfluss auf wissenschaftliche Einrichtungen und Forschungsvorhaben
hat, muss er dafür sorgen, dass solche überprüfbaren qualitativen und quantitati-
ven Vorgaben und Steigerungsquoten implementiert, durchgesetzt und kontrol-
liert werden;

2. Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen qualitative wie quantitative
Gleichstellungskriterien und Kennzahlen zum verbindlichen Gegenstand von
Ziel- und Leistungsvereinbarungen sowie der leistungsbezogenen Mittelvergabe
machen. Der Prozess muss gesteuert und kontrolliert werden über positive finan-
zielle Anreizmechanismen und ein Erfolgsmonitoring, das quantitative und qua-

litative Kriterien berücksichtigt;

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3. ein gemeinsames Berichtswesen eingerichtet wird. Gestützt auf Evaluationen
muss dieses differenziert und transparent darüber Auskunft geben, auf welcher
Qualifikationsebene welche quantitativen Erfolge erreicht wurden, welche qua-
litativen Fortschritte eingetreten sind und wie die Veränderungen im Vergleich
zu bewerten sind. Nur so ist nachvollziehbar, wie sich die Geschlechterverhält-
nisse beispielsweise bei dauerhaften und bei befristeten oder aber bei den hohen
und niedriger dotierten Stellen mit unterschiedlicher Ausstattung entwickeln.
Eine solche Erfolgskontrolle soll Fehlentwicklungen frühzeitig anzeigen, um
Nachbesserungen und Neujustierungen zu ermöglichen;

4. in dieses Berichtswesen auch die Entwicklungen in den neuen Bachelor-/Master-
Studienstrukturen einbezogen werden, um eventuelle Förderbedarfe auf der
Ebene der Studierenden frühzeitig einzuleiten. Nur so kann beobachtet werden,
inwiefern sich sozial nicht abgefederte Studiengebühren eventuell geschlechts-
spezifisch auswirken oder geschlechtsspezifische Segregationen in der Fächer-
wahl bzw. beim Übergang vom Bachelor- zum Masterabschluss abzeichnen;

5. in den Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen vor allem Gleichstel-
lungsinstrumente der qualitätsbezogenen Sicherung installiert werden wie ano-
nymisierte Bewertungsverfahren und transparente, reflektierte und formalisierte
Personalrekrutierungsverfahren etc. Solche Maßnahmen dienen v. a. dazu, die
vorhandenen und bekannten, höchst wirksamen Formen subtiler Benachteili-
gung von Personen und Forschungsansätzen und homosoziale Kooptation zu er-
schweren;

6. erfolgreiche Programme mit verlässlichen Karriereperspektiven wie aktuell das
Juniorprofessurmodell oder zukünftig die Ausstattung von Stellen mit Tenure-
Track-Option zu intensivieren;

7. die Gender-Kompetenz an Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu stär-
ken. Dazu müssen an den Hochschulen z. B. mehr Gender-Studiengänge, an For-
schungseinrichtungen z. B. mehr Innovationsprofessuren etc. etabliert werden;

8. mehr strukturierte Promotionsprogramme eingerichtet werden, die den Gender-
Aspekt sowohl thematisch als auch in ihren Strukturen aufgreifen. Dies sollte
auch im Rahmen der anstehenden Zweiten Runde des Exzellenzwettbewerbes
umgesetzt werden;

9. diskriminierende Altersbegrenzungen, die den Zugang zur wissenschaftlichen
Karriere beschränken, zu beseitigen;

III. Der Bundestag fordert darüber hinaus die Bundesregierung auf,

1. im Rahmen der empirischen Bildungsforschung breit angelegte und differen-
zierte Evaluierungen über Gleichstellungserfolge auf allen Ebenen der Wissen-
schaft vorzunehmen, zu dokumentieren und öffentlich zugänglich zu machen.
Auf Grundlage dieser Daten müssen dann ein Gleichstellungscontrolling inner-
halb der Forschungseinrichtungen und wettbewerbsorientierte Rankings zwi-
schen den Hochschulen erfolgen;

2. Gender-Aspekte stärker und systematisch in der Ressortforschung des Bundes
zu berücksichtigen und die Gender-Kompetenz der Akteure in der Ressortfor-
schung zu erhöhen. Die Voraussetzung dafür sind breit angelegte Gender-Schu-
lungen, damit der Einfluss von Genderbias endlich wirkungsvoll minimiert wird.

Berlin, den 9. April 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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