BT-Drucksache 16/853

Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben konsequent sichern

Vom 8. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/853
16. Wahlperiode 08. 03. 2006

Antrag
der Abgeordneten Jörg Rohde, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Uwe Barth,
Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans,
Ulrike Flach, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß,
Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein,
Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Gudrun Kopp,
Jürgen Koppelin, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Patrick Meinhardt,
Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Detlef Parr, Gisela Piltz, Frank Schäffler, Marina Schuster, Dr. Hermann
Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar,
Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff
(Rems-Murr), Martin Zeil, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben
konsequent sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag ist bestrebt, die Benachteiligung von Menschen mit
Behinderungen zu verhindern und zu beseitigen sowie die gleichberechtigte
Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewähr-
leisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Schon
seit mehreren Jahrzehnten arbeiten Politik und Interessenvertretungen behinder-
ter Menschen daran, die Möglichkeiten zu einer soweit wie möglich eigenstän-
digen Lebensführung und zum unabhängigen Bewegen im öffentlichen Raum zu
verbessern. Blinde Menschen können zum Beispiel Orientierungs- und Mobili-
tätstraining in Anspruch nehmen. Durch die Herstellung von Barrierefreiheit
soll erreicht werden, dass die Wege beispielsweise zum Arbeitsplatz, zur Schule
oder zur Universität eigenständig und ohne fremde Hilfe bewältigt werden kön-
nen. Dazu gehören auch alle Wege und Techniken, die zur eigenständigen
Lebensführung notwendig sind, wie etwa Parkerleichterungen, die Benutzung
öffentlicher Verkehrsmittel oder die Möglichkeit, sich in unbekannten Umge-
bungen zu orientieren oder Assistenz in Anspruch zu nehmen. Die geschaffenen
Möglichkeiten verfolgen das Ziel, auch ohne eine Begleitperson so weit als
möglich am öffentlichen Leben teilhaben zu können.
Die Schwerbehindertenausweisverordnung sieht vor, dass schwerbehinderte
Menschen, die das Recht auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Perso-
nenverkehr in Anspruch nehmen können, über einen Schwerbehindertenausweis
verfügen, bei dem auf der Vorderseite unter den gegebenen Umständen das
Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist
nachgewiesen“ aufgedruckt sind. Der Satz „Die Notwendigkeit ständiger Be-

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gleitung ist nachgewiesen“ steht sowohl im Widerspruch zu den Zielen des
Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen als auch zu den oben ange-
führten Bestrebungen, die eigenständige Lebensführung von Menschen mit
Behinderungen so weit wie möglich zu fördern, deutet er doch die Notwendig-
keit im Gegensatz zum Recht an, Begleitpersonen – insbesondere im öffent-
lichen Nahverkehr – mitzuführen. Schwerer wiegt, dass die derzeit geltende
Formulierung Erfahrungsberichten Betroffener zufolge zu Missverständnissen
derart führt, dass Betroffenen ohne Begleitperson die Beförderung in öffent-
lichen Verkehrsmitteln oder der Zutritt zu Veranstaltungen zum Teil verwehrt
wird. Diese Missverständnisse resultieren aus den Befürchtungen des Fahrper-
sonals oder anderer Verantwortlicher, für mögliche Unfälle im Falle einer feh-
lenden Begleitperson haftbar gemacht zu werden.

Durch die derzeit geltende Formulierung entsteht somit fälschlicherweise der
Eindruck, dass in jedem Fall eine Begleitung erforderlich ist. Dies widerspricht
jedoch der gängigen Rechtsauffassung, dass bei nachweislichem Bedarf stän-
diger Begleitung eine Begleitperson zwar regelmäßig, aber nicht immer erfor-
derlich ist.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Schwerbehindertenrechts, der die Teil-
habe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben sichern soll, be-
steht in der Gewährung von Parkerleichterungen gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 11 der
Straßenverkehrsordnung (StVO).

Diese Parkerleichterungen können nach der bisherigen Rechtslage, die im zwei-
ten Teil des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) festgeschrieben ist,
Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung (Merkzeichen
„aG“ im Schwerbehindertenausweis) sowie Blinden (Merkzeichen „Bl“) im
Sinne der Schwerbehindertenausweisverordnung gewährt werden. Das gilt zum
Beispiel für Querschnittsgelähmte oder Doppeloberschenkelamputierte. In der
Vergangenheit wurde wiederholt gefordert, die Parkerleichterungen allen
Schwerbehinderten mit dem Merkzeichen „G“ zu gewähren. Dies hätte jedoch
eine Steigerung der Anzahl der Berechtigten in so großem Umfang zur Folge,
dass damit die bestehende Regelung, die gerade den Behinderten zugute kom-
men soll, deren Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt ist, praktisch
wertlos würde. Es sollen aber Schwerbehinderte, bei denen die gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ nicht vorliegen,
unter bestimmten festgelegten Kriterien ebenfalls Parkerleichterungen gemäß
§ 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO in Anspruch nehmen dürfen. Insbesondere die Gruppe
der Ohnarmer als Contergangeschädigte, die nur auf ihre Füße als Greif- und
Gehwerkzeuge angewiesen sind, sollen in den Katalog für den Anspruch auf
Parkerleichterung aufgenommen werden können. Auf Länderebene hat das
Bayerische Staatministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und
Gesundheit bereits im Jahr 2000 Kriterien festgelegt, die einen Personenkreis
erfassen, der zwar nicht die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ nach
dem Schwerbehindertenrecht erfüllt, auf Grund der Schwere der Behinderung
diesem Personenkreis bezüglich der Notwendigkeit von Parkerleichterungen
jedoch gleichzusetzen ist. Auch Hessen und Niedersachsen sehen seit 2000 be-
ziehungsweise 2001 über den Vollzug der StVO ähnliche Ausnahmegenehmi-
gungen für besondere Gruppen schwerbehinderter Menschen zur Inanspruch-
nahme von Parkerleichterungen vor. Hierbei handelt es sich um Abweichungen
von bundesrechtlichen Regelungen, wodurch die Ausnahmegenehmigungen in
Bayern und Niedersachsen nur im Bundesland selbst gültig sind. In Hessen er-
weitern Sondervereinbarungen mit angrenzenden Bundesländern die Gültigkeit.

Eine bundeseinheitliche Regelung über die Änderung des Schwerbehinderten-
rechts in Verbindung mit dem Straßenverkehrsrecht durch festgelegte Kriterien,

die Parkerleichterungen für bestimmte Gruppen von Behinderten vergleichbar
der Anwendung des Merkzeichens „aG“ schaffen, ist deshalb dringend erforder-

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lich. Um den Kreis der Berechtigten für die Nutzung von Sonderparkflächen
nicht über deren Kapazität zu erweitern, sollte für die oben angesprochenen Per-
sonen nur die Gewährung von Parkerleichterungen gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 11
StVO angestrebt werden. Die Nutzung von Sonderparkflächen und die dafür
notwendige Ausstellung eines Parksonderausweises sollte auch weiterhin Perso-
nen vorbehalten bleiben, in deren Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen
„aG“ oder „Bl“ eingetragen ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

1. in § 3 Abs. 2 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung den Satz „Die
Notwendigkeit ständiger Begleitung ist nachgewiesen“ durch eine Formulie-
rung zu ersetzen, die das mit dem Merkzeichen „B“ einhergehende Recht auf
eine Begleitperson im Gegensatz zur Pflicht bzw. Notwendigkeit verdeut-
licht;

2. für die nachfolgenden Personenkreise über den Personenkreis der Menschen
mit außergewöhnlicher Gehbehinderung hinaus unter den dargestellten Vo-
raussetzungen Parkerleichterungen gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO, analog
zum Merkmal „aG“, jedoch ohne Ausstellung eines Parksonderausweises,
der zum Parken auf den Parkplätzen mit dem Rollstuhlfahrersymbol berech-
tigt, zu gewähren:

a) schwerbehinderten Personen, denen ein Grad der Behinderung von we-
nigstens 80 Prozent allein infolge von Funktionsstörungen der unteren
Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule und die Merkzeichen „G“
(erheblich gehbehindert) und „B“ (Notwendigkeit ständiger Begleitung)
bescheinigt wurde, oder Personen, denen ein Grad der Behinderung von
wenigstens 70 Prozent allein infolge von Funktionsstörungen der unteren
Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule und gleichzeitig ein Grad
der Behinderung von wenigstens 50 Prozent infolge von Funktionsstörun-
gen des Herzens, der Lunge oder des Nervensystems und das Merkzeichen
„G“ bescheinigt wurde;

b) Personen mit Verlust eines Armes im Oberarmbereich oder einer ver-
gleichbaren Schädigung der oberen Gliedmaßen und einem Grad der Be-
hinderung von wenigstens 70 Prozent, darin eingeschlossen sind insbe-
sondere Ohnarmer, denen das Merkzeichen „G“ bescheinigt wurde, wie
Contergangeschädigte und Unfallopfer. (Diese Personengruppe sollte ins-
besondere deshalb berücksichtigt werden, weil diese Menschen Autotüren
oft nur mit den Beinen und damit vergleichsweise ungezielt – was daneben
stehende Autos und deren Beschädigungen angeht – öffnen können.
Gleichzeitig ist Menschen mit den beschriebenen Beeinträchtigungen das
Tragen vor allem schwererer Einkaufsgüter über längere Strecken nur sehr
eingeschränkt möglich. Damit scheiden übliche öffentliche Parkplätze in
der Regel aus.);

c) Stomaträgern mit doppeltem Stoma (künstlicher Darmausgang und künst-
liche Harnableitung) und einem hierfür festgestellten Grad der Behinde-
rung von wenigstens 70 Prozent;

d) Morbus-Crohn-Kranken und Colitis-Ulcerosa-Kranke mit einem hierfür
festgestellten Grad der Behinderung von wenigstens 60 Prozent.

Berlin, den 8. März 2006

Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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