BT-Drucksache 16/8524

Lokale Entscheidungsspielräume und passgenaue Hilfen für Arbeitssuchende sichern

Vom 12. März 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8524
16. Wahlperiode 12. 03. 2008

Antrag
der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk,
Kerstin Andreae, Birgitt Bender, Dr. Thea Dückert, Britta Haßelmann
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Lokale Entscheidungsspielräume und passgenaue Hilfen für Arbeitsuchende
sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Für die optimale Betreuung von Arbeitsuchenden wurde mit dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) die Möglichkeit der „weiteren Leistungen“ geschaf-
fen. Die Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist Grundlage für passgenaue
Förderangebote, die individuelle und spezifische Probleme bei der Aufnahme
von Arbeit überwinden helfen. Mit ihnen kann die schrittweise und nachhaltige
Integration von Arbeitslosen mit vielfältigen und schwerwiegenden Vermitt-
lungshemmnissen in den Arbeitsmarkt gelingen.

Die Bundesregierung will die Möglichkeiten des § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II nun
rigoros einschränken und auf einen engen Katalog von Einzelfallhilfen be-
grenzen. Die bisher vorhandene Möglichkeit, flexibel und vor Ort auf die spezi-
fischen Problemlagen bestimmter Zielgruppen und Hilfebedürftiger einzu-
gehen, wird so zunichte gemacht. Leidtragende dieser Politik sind die Arbeit-
suchenden. Insbesondere Maßnahmen für Jugendliche und für Menschen mit
Migrationshintergrund droht das Aus, wenn die Bundesregierung bei ihrer Hal-
tung bleibt.

Die von der Bundesregierung vorgesehene Begrenzung der weiteren Leistungen
hat zur Folge, dass zwar im Einzelfall Hilfen wie z. B. der Kauf eines Anzugs
möglich sein werden. Diese Einzelfallhilfen sind ohne Zweifel sinnvoll und not-
wendig, entsprechen aber nicht der vom Gesetzgeber gewünschten Funktion der
„weiteren Leistungen“ als Generalklausel, mit der spezifische Problemlagen
einzelner Zielgruppen im lokalen Umfeld angegangen werden sollen.

Dazu gehören beispielsweise kombinierte Beschäftigungs- und Qualifizierungs-
maßnahmen für Migranten, sozialpädagogisch betreute berufliche Orientie-
rungshilfen für Jugendliche, Maßnahmen zum Nachholen von Schulabschlüssen
für junge Erwachsene, kombinierte Ausbildungs- und Kinderbetreuungs-

angebote für alleinerziehende junge Mütter, sozialpädagogische Begleitung,
Maßnahmen zur Persönlichkeitsentwicklung und Tagesstrukturierung von
Langzeitarbeitslosen oder aufsuchende Angebote der Jugendberufshilfe zur
Verhinderung von Verwahrlosung und Verarmung.

Die Begrenzung auf Einzelfallhilfen bedeutet, dass diese vor Ort initiierten För-
dermaßnahmen für Zielgruppen beendet werden müssen und in Zukunft nicht
fortgeführt werden können. Die Träger in den Kreisen und kreisfreien Städten,

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die über § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II erfolgreiche Integrationsprogramme anbieten
konnten, werden in ihrer Eingliederungsarbeit massiv zurückgeworfen. Ko-
finanzierte Angebote, die gemeinsam mit anderen Trägern, insbesondere denen
der Jugendhilfe (SGB VIII) konzipiert und finanziert wurden, sind mit dem von
der Bundesregierung angestrebten Richtungswechsel nicht mehr ohne weiteres
möglich.

Im Ergebnis behindert die Bundesregierung eine dezentrale und zielgruppen-
orientierte Integrationspolitik und blockiert die Verwirklichung eines ganzheit-
lichen Hilfeansatzes, der gerade Ziel und Aufgabe des SGB II ist. Insofern zielt
auch der Verweis der Bundesregierung auf alternativ zur Verfügung stehende
Instrumente im SGB III weitgehend ins Leere. Da das SGB III in seinem Fokus
eng auf die Überwindung von Vermittlungshemmnissen am Arbeitsmarkt aus-
gerichtet ist, andere Problemlagen wie etwa mangelnde Sprachkenntnisse dabei
aber regelmäßig unberücksichtigt bleiben, können die Standardinstrumente
des SGB III gerade kein Ersatz für die Generalklausel des § 16 Abs. 2 Satz 1
SGB II sein.

Vor diesem Hintergrund ist es auch keine Lösung, wenn die Bundesregierung
und die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und SPD im Rahmen der angekün-
digten Überarbeitung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentenkastens jene be-
sonders innovativen Ansätze berücksichtigen wollen, die im Rahmen des § 16
Abs. 2 Satz 1 SGB II vor Ort konzipiert wurden. Dieses Projekt mit ungewissem
Ausgang wird sich bis mindestens 2009 hinziehen.

Bis dahin droht die Bundesregierung mit finanziellen Rückforderungen für den
Fall, dass sich Träger der Grundsicherung nicht an das vorgegebene enge För-
derungskorsett halten. Damit entfällt jede lokale Planungssicherheit. Funktio-
nierende Strukturen und Kooperationen werden zerstört. Integrationsprozesse
müssten unterbrochen und Arbeitsuchende auf unabsehbare Zeit vertröstet wer-
den. Dies kann angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit im SGB II nicht
hingenommen werden.

II. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

Im Vordergrund aller Bemühungen muss die langfristige Integration von Arbeit-
suchenden in Arbeit stehen. Deshalb müssen sich die Maßnahmen nach den je-
weiligen individuellen Erfordernissen richten. Der einzelne Mensch darf nicht
in die Erfordernisse der Maßnahme gezwängt werden. Lokale Handlungsspiel-
räume müssen gesichert werden. Dafür ist es notwendig, dass

1. die „weiteren Leistungen“ nach § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II ihren Charakter als
flexibles Instrument zur passgenauen Betreuung von Hilfebedürftigen behal-
ten. Dafür muss der Leistungskatalog der „weiteren Leistungen“ auch weiter-
hin prinzipiell offen interpretiert werden können. Nur so können fallweise die
Hilfen zur Verfügung gestellt werden, die erforderlich sind. Dabei muss
selbstverständlich jede Maßnahme bzw. Leistung die gesetzlichen Anfor-
derungen an Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erfüllen;

2. die Bundesregierung ihren restriktiven Katalog für erlaubte „weitere Leistun-
gen“ sofort zurückzieht. Damit werden die erforderlichen Entscheidungs-
spielräume für angemessene, flexible und passgenaue Fördermaßnahmen
wieder auf die lokale Ebene verlagert und der drohende Abbruch von inno-
vativen Hilfen verhindert. Es darf keine Förderungslücke vor Ort mit Hin-
weis auf die Neuordnung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente geben;

3. insbesondere Maßnahmen zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulab-
schlusses, eine vertiefte Berufsorientierung, die Vermittlung von berufs-
relevanten Sprachkenntnissen und individuell ausgerichtete Maßnahmen zur

Unterstützung von Beschäftigungsfähigkeit sowie die Kombination dieser
Elemente auch weiterhin über die „weiteren Leistungen“ förderfähig sind;

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4. die angekündigte Überarbeitung des arbeitsmarktpolitischen Instrumenten-
kastens so ausgestaltet wird, dass die Instrumente grundsätzlich flexibler und
passgenauer angewendet werden können. Dabei müssen schwerpunktmäßig
die sozialintegrativen Ansätze des SGB II berücksichtigt werden. So werden
die Instrumente den individuellen Erfordernissen von Arbeitsuchenden
gerechter als bisher und können darüber hinaus auf eine überschaubare Zahl
reduziert werden.

Berlin, den 12. März 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Grundsicherung
für Arbeitssuchende wurde arbeitslosen Menschen, die zuvor nicht in der Ar-
beitsförderung berücksichtigt wurden, neue Perspektiven eröffnet. Erstmalig
war für Sie neben den Hilfen des SGB II das Förderinstrumentarium des SGB III
zugänglich. Durch die zugleich vorgenommene Erweiterung des Erwerbsfähig-
keitbegriffs war es absehbar, dass es zukünftig eine Gruppe arbeitsuchender Ar-
beitslosengeld-II-Empfängerinnen und -Empfänger geben würde, die mit vielfa-
chen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.

Für sie wurde im SGB II § 16 Abs. 2 Satz 1 für „weitere Leistungen“ geschaffen.
Mit den „weiteren Leistungen“ können passgenaue und sozialintegrative Ange-
bote für diejenigen entwickelt werden, denen die Instrumente des SGB III nicht
oder nicht ausreichend weiterhelfen. Diese berücksichtigen die notwendige
sozialpolitische Komponente nicht ausreichend, sind häufig standardisiert und
setzen oft zu viel voraus für einen erfolgreichen Abschluss und Übergang in
Arbeit. Die Folge sind Frust und Demotivation bei den Arbeitsuchenden und
fortdauernde Arbeitslosigkeit trotz Förderung.

Die „weiteren Leistungen“ sind immer dann angebracht, wenn mehrere Pro-
blemlagen zusammen auftreten, die durch einzelne Instrumente alleine nicht
bewältigt werden können. Mit ihnen können Lücken bei den Fördermöglichkei-
ten geschlossen werden, die durch das SGB III nicht abgedeckt werden. Die
„weiteren Leistungen“ sind außerdem von großer Bedeutung, wenn bei be-
stimmten Zielgruppen wie z. B. Alleinerziehenden oder Personen mit Migra-
tionshintergrund im lokalen Umfeld Problemkonstellationen auftreten, die eine
passgenaue Lösung vor Ort erfordern. Zusätzlich erlauben sie örtliche Koopera-
tionen mit anderen Trägern und tragen so insbesondere bei Jugendlichen zur
Verwirklichung eines ganzheitlichen und nachhaltigen Hilfeansatzes bei.

Die rigorose Beschränkung auf Einzelfallhilfen gefährdet die dezentrale und
passgenaue Integrationspolitik, die inzwischen von den Trägern der Grundsiche-
rung zunehmend praktiziert wird. Wurde in der Anfangsphase der Grundsiche-
rung vor allem auf standardisierte Maßnahmen wie die Ein-Euro-Jobs zurück-
gegriffen, die schwer mit den Grundsätzen des Forderns und Förderns in Ein-
klang zu bringen sind, haben sich mittlerweile die „weiteren Leistungen“ als
wichtiges Instrument der individuellen Förderung und Integration etabliert.

Die Bundesregierung begründet ihre Vorgehensweise mit der missbräuchlichen
Nutzung der „weiteren Leistungen“, die sie zukünftig verhindern will. Dabei
schießt es jedoch weit übers Ziel hinaus. Die Auffassung der Bundesregierung,

dass die „weiteren Leistungen“ nicht zu einem Förderwettbewerb um die
höchste Subventionierung von Arbeitgebern in einer Region führen dürfen, ist

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zwar richtig. Lohnkostenzuschüsse an Arbeitgeber dürfen auch zukünftig keine
förderfähigen „weiteren Leistungen“ sein. Genauso selbstverständlich ist es,
dass jede Maßnahme bzw. Leistung nach § 16 Abs. 2 Satz 1 die gesetzlichen
Anforderungen an Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erfüllen und Wettbe-
werbsverzerrungen im Sinne des europäischen Beihilferechts vermeiden muss.
Auch ist es richtig, dass sich andere Träger wie z. B. die Kommunen als Träger
der Jugendhilfe nicht unter Hinweis auf die „weiteren Leistungen“ ihrer eigenen
sozial- und fiskalpolitischen Verantwortung entziehen dürfen.

Für die Verhinderung von Missbrauch ist die Beschränkung der „weiteren Leis-
tungen“ auf Einzelfallhilfen jedoch kontraproduktiv. Das Vorgehen der Bundes-
regierung verhindert vielmehr die sinnvolle Kooperation der Träger untereinan-
der und enthält den Hilfebedürftigen wichtige Hilfen vor. Setzte sich die Bun-
desregierung durch, hätte dies erhebliche negative Konsequenzen für die Förde-
rung von Arbeitsuchenden. Das wird deutlich am Beispiel des nachträglichen
Erwerbs eines Hauptschulabschlusses. Ginge es nach der Vorgabe der Bundes-
regierung, wäre diese Maßnahme nicht mehr über das SGB II förderfähig. Statt-
dessen wird schlicht auf die Zuständigkeit der Länder und der Bundesagentur für
Arbeit verwiesen. Es darf jedoch nicht sein, dass einerseits ein Schulabschluss
als Basis für die Aufnahme einer Ausbildung oder einer Beschäftigung erachtet
wird, für die Förderung nach Erfüllung der Schulpflicht aber auf das SGB III
verwiesen wird. Der Bund entzieht sich hier einerseits zu Lasten der Beitrags-
zahler seiner Verantwortung, zugleich bestehen erhebliche rechtliche Unsicher-
heiten, ob ein nachholender Hauptschulabschluss überhaupt im Rahmen des
SGB III förderfähig ist. Ähnliches gilt für Sprachkurse: Mangelnde Sprach-
kenntnisse sind ein erhebliches Hemmnis am Arbeitsmarkt. Werden sie nicht an-
gegangen, ist ein Integrationserfolg eher unwahrscheinlich. Verweise auf Ange-
bote des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge helfen dabei in der Regel
nicht weiter.

Die Erfahrungen mit dem SGB II müssen sich auch in der lange angekündigten
Überarbeitung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentenkastens niederschlagen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen sind derzeit allerdings auf
dem gegenteiligen Weg: Mit immer neuen und immer spezifischer ausgelegten
Kombilöhnen blähen sie den Instrumentenkasten auf. Binnen des vergangenen
halben Jahres haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen allein
vier weitere Kombilöhne beschlossen. Die magere Inanspruchnahme der neuen
Kombilöhne zeigt entsprechend deutlich, dass es immer schwieriger wird, den
Instrumenten „passende“ Arbeitsuchende zuzuordnen. Zukünftig muss es umge-
kehrt sein: Die Maßnahmen müssen sich an den Erfordernissen des Einzelnen
und des regionalen Arbeitsmarktes orientieren. Das erst ermöglicht die flexible
Handhabung der Instrumente und eine passgenaue lokale Ausgestaltung, die für
die erfolgreiche und nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt erforderlich ist.

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