BT-Drucksache 16/851

Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten

Vom 8. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/851
16. Wahlperiode 08. 03. 2006

Antrag
der Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Mechthild Dyckmans, Dr. Max Stadler, Christian Ahrendt, Uwe Barth, Rainer
Brüderle, Angelika Brunkhorst, Patrick Döring, Ulrike Flach, Paul K. Friedhoff,
Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel
Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer, Gudrun Kopp,
Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht,
Ina Lenke, Horst Meierhofer, Jan Mücke, Burkhard Müller-Sönksen, Dirk Niebel,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Marina
Schuster, Dr. Rainer Stinner, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker
Wissing, Martin Zeil, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In seinem Urteil vom 14. März 1972 stellte das Bundesverfassungsgericht
fest, dass die Grundrechte von Strafgefangenen nur durch Gesetz oder auf
Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden können (BVerfGE 33, 1 ff.).
Begründet wurde die Entscheidung mit einem sich wandelnden Verständ-
nis des Strafvollzuges von seiner traditionellen Ausgestaltung eines „be-
sonderen Gewaltverhältnis“ hin zu einem dem unmittelbaren verbind-
lichen Grundrechtsschutz unterfallenden staatlichen Gewaltverhältnis, bei
dem Einschränkungen von Grundrechten nur in den dafür vorgesehenen
Formen vorgenommen werden können. Strafvollzug ist ein Eingriff des
Staates in die Freiheitsrechte des Einzelnen. Dem Gesetzgeber wurde da-
mals aufgegeben, zunächst bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode
und dann innerhalb einer durch Beschluss des Bundesverfassungsgerich-
tes auf vier Jahre verlängerten Frist ein Strafvollzugsgesetz mit fest umris-
senen Eingriffstatbeständen zu erlassen. Für diese Übergangsfrist waren
nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes noch Eingriffe in die
Grundrechte von Strafgefangenen hinzunehmen, die keine gesetzliche
Stütze hatten. 1976 wurde dann ein Strafvollzugsgesetz erlassen, welches
1977 in Kraft trat.

Trotz vielseitiger Bestrebungen für die Schaffung eines Jugendstrafvoll-

zugsgesetzes ist ein solches bis heute nicht verabschiedet worden. Derzeit
sind die einzigen eigenständigen gesetzlichen Rechtsgrundlagen für den
Jugendstrafvollzug die §§ 91 f., 114f Jugendgerichtsgesetz (JGG). In den
§§ 91, 92 JGG werden die Aufgaben des Jugendstrafvollzuges umschrie-
ben und festgelegt, dass die Jugendstrafe in Jugendstrafanstalten zu voll-
ziehen ist. Für einzelne andere Regelungsmaterien, wie das Arbeits-
entgelt, die Ausbildungsbeihilfe und den unmittelbaren Zwang im

Drucksache 16/851 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Jugendstrafvollzug gelten die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes. Von
der in § 115 JGG eröffneten Möglichkeit des Erlasses einer Rechtsverord-
nung zum Jugendstrafvollzug hat die Bundesregierung bisher keinen Ge-
brauch gemacht.

Durch diese Vorschriften werden lediglich Rahmenbedingungen des
Jugendstrafvollzugs erfasst. Darüber hinaus fehlt eine formell-gesetzliche
Regelung. Der Vollzug der Jugendstrafe wird heute durch bundeseinheit-
liche Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug geregelt, die den
Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzug weitgehend nachgebildet sind.
Diese haben jedoch nicht die verfassungsrechtliche Qualität eines Geset-
zes im materiellen und formellen Sinn. Insbesondere die Einheit der
Rechtsordnung gebietet es, Festsetzung und Vollstreckung der Jugend-
strafe unter Anwendung einheitlicher Grundsätze sachgerecht und voll-
ständig formal-gesetzlich zu regeln. Auch Artikel 5 Abs. 1 EMRK und
Artikel 40 Abs. 3 UN-KRK enthalten die Verpflichtung, jugendgemäße
Rechtsvorschriften für den Umgang mit jugendlichen Straftätern zu erlas-
sen.

Ob diese bestehenden Regelungen zum Jugendstrafvollzug unter verfas-
sungsrechtlichen Gesichtspunkten ausreichen, ist umstritten. Gemäß Arti-
kel 104 Abs. 1 Grundgesetz kann die Freiheit der Person nur auf Grund
eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschrie-
benen Formen beschränkt werden. Derzeit sitzen mehr als 7 300 inhaf-
tierte jugendliche Straftäter in den Jugendvollzugsanstalten. Das Bundes-
verfassungsgericht hat bisher noch nicht über die Verfassungsgemäßheit
des Jugendstrafvollzugs entschieden. Nach der Entscheidung des Gerichts
von 1972 hätte dem Gesetzgeber die mögliche Unzulässigkeit des Voll-
zugs gegenüber Strafgefangenen allein auf Grund von Verwaltungsvor-
schriften bekannt sein müssen. Er hätte daraus den Schluss ziehen müssen,
dass der Vollzug in den Jugendstrafanstalten ebenfalls verfassungswidrig
sein könnte.

2. Das Vorhaben einer umfassenden gesetzlichen Regelung des Jugendstraf-
vollzugs ist zwar seit der Einsetzung einer Jugendstrafvollzugskommis-
sion durch das Bundesministerium der Justiz im Jahre 1976 in der rechts-
politischen Diskussion; die vom Bundesministerium der Justiz in den
Jahren 1980, 1984, 1988 und 1993 vorgelegten Arbeitsentwürfe sind nach
Ablehnung durch die Landesjustizverwaltungen und durch die Fachver-
bände aber jeweils nicht in das Stadium des Gesetzgebungsverfahrens ge-
langt. Die Verhandlungen zwischen dem Bund und den Ländern über ein
Jugendstrafvollzugsgesetz sind stets an unterschiedlichen Auffassungen
zur inhaltlichen Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs sowie durch fi-
nanzielle Zwänge der für die Durchführung des Jugendstrafvollzugs zu-
ständigen Länder gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in
seiner Entscheidung vom 29. Oktober 1975 (BVerfGE 40, 276 ff.) betont,
dass finanzielle Erwägungen oder organisatorische Schwierigkeiten, die
ein Strafvollzugsgesetz mit sich bringen mag, eine Verabschiedung nicht
unangemessen verzögern dürften. 2004 hat die Bundesregierung erneut
einen Gesetzentwurf zum Jugendstrafvollzug vorgelegt. Dieser Entwurf
ist von den Ländern weitgehend abgelehnt worden, da sie die vorgesehe-
nen Regelungen für nicht finanzierbar hielten.

3. Die Anwendung von Strafvollzugsrecht für Erwachsene auf Jugendliche
und Heranwachsende wird dem im JGG verankerten Erziehungsgedanken
nicht gerecht. Mindestvoraussetzungen für erzieherische Kriterien sowie

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/851
für die Erreichung des Erziehungsziels im Jugendstrafvollzug sind nicht
verbindlich festgelegt. Während im Erwachsenenstrafrecht unter anderem
die Verteidigung der Rechtsordnung bzw. die Generalprävention ein we-
sentliches Element darstellt, bleibt dafür in dem vor allem dem Erzie-
hungsgedanken i. S. des § 91 Abs. 1 JGG verpflichteten Jugendstrafvoll-
zug wenig oder kein Raum. Es reicht nicht aus, die bestehenden
Regelungen des Strafvollzugsgesetzes lediglich um einige spezifische
Regelungen des Jugendstrafvollzugs zu erweitern. Ein eigenes Gesetz
müsste zumindest klar die Aufgaben des Jugendstrafvollzugs und das
Vollzugsziel benennen. Ziel eines Jugendstrafvollzugsgesetzes muss, in
Anlehnung an das Jugendstrafrecht, eine auf ein Leben ohne Straftaten ge-
richtete Förderung der Persönlichkeitsentwicklung sein. Darüber hinaus
muss der Jugendstrafvollzug ganzeinheitlich danach ausgerichtet sein,
dass durch konstruktive Erziehungsarbeit die Entwicklung des jungen Ge-
fangenen positiv unterstützt und so gefördert wird, dass er befähigt wird,
ein selbstverantwortliches und gemeinschaftsfähiges Leben zu führen.
Der Jugendstrafvollzug muss damit durch eine erzieherische Ausgestal-
tung dazu beitragen, dass der junge Gefangene befähigt wird, künftig in
sozialer Verantwortung ein Leben in Gemeinschaft ohne Straftaten und
unter Achtung der Rechte Anderer zu führen.

Eines der größten Probleme des derzeitigen Jugendstrafvollzugs sind sub-
kulturelle Strukturen und Gewalt unter den jungen Gefangenen, die die
mit Engagement und Mühe durchgeführte Erziehungsarbeit wieder zer-
stören. Darüber hinaus ist seit dem Beginn der neunziger Jahre ein deut-
licher Anstieg der Kriminalität junger Menschen unter 21 Jahren zu ver-
zeichnen.

Die Qualität der Unterbringung in den Jugendstrafanstalten kann nur dann
gesichert werden, wenn die Vollzugspraxis eine klare und verlässliche
Grundlage für ihr Handeln erhält. Daneben müsste das Gesetz zielgrup-
penorientiert sein. Es muss für junge Mehrfach- und Intensivtäter mit
ihren Defiziten und Störungen passen. Es bedarf daher einer altersgerecht
differenzierenden Vollzugsorganisation. Begleitet werden müsste das
Gesetzgebungsverfahren durch eine Ausweitung der Ausbildungspro-
gramme für die Mitarbeiter im Jugendstrafvollzug damit sie für ihre wich-
tige Erziehungsaufgabe vorbereitet sind.

4. Mehr noch als im Erwachsenenstrafvollzug ist eine bundeseinheitliche
Regelung des Jugendstrafvollzugs notwendig. Insbesondere ein einheit-
liches Vollzugsziel ist im Jugendstrafvollzug unerlässlich. Im Jugendstraf-
vollzug dürfen nicht aus rein fiskalischen Erwägungen die Mindeststan-
dards der Haftbedingungen gesenkt werden. Der Grundgedanke der
Resozialisierung darf nicht leichtfertig aufgegeben werden. Unterschied-
liche Ländergesetze würden zudem die Rechtseinheit und damit auch die
Rechtssicherheit im Strafvollzug beenden. Darüber hinaus vermögen un-
terschiedliche Standards im Strafvollzug auch nicht die einheitliche Um-
setzung des Strafrechts zu gewährleisten. Das Interesse der staatlichen Ge-
meinschaft an der Erhaltung ihrer Grundwerte und der Bewahrung des
Rechtsfriedens innerhalb der Gesellschaft kann nur dadurch Rechnung ge-
tragen werden, dass im materiellen Strafrecht und im Strafvollzugsrecht
bundeseinheitliche Standards gegeben sind.

Drucksache 16/851 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

1. mit den Ländern in Verhandlungen zu treten über die inhaltliche Kon-
zeption eines Jugendstrafvollzugsgesetzes und die Finanzierbarkeit des
Jugendstrafvollzugs;

2. den Jugendstrafvollzug auf eine verfassungsfeste Grundlage zu stellen
und dazu dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Regelung
des Jugendstrafvollzugs vorzulegen.

Berlin, den 7. März 2006

Jörg van Essen
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Mechthild Dyckmans
Dr. Max Stadler
Christian Ahrendt
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Patrick Döring
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Horst Meierhofer
Jan Mücke
Burkhard Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Detlef Parr
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Marina Schuster
Dr. Rainer Stinner
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Martin Zeil
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.