BT-Drucksache 16/8044

Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung vollständig vor Einberufung schützen

Vom 13. Februar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8044
16. Wahlperiode 13. 02. 2008

Antrag
der Abgeordneten Kai Gehring, Winfried Nachtwei, Grietje Bettin, Ekin Deligöz,
Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung vollständig vor Einberufung schützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher und anderer Vor-
schriften (Wehrrechtsänderungsgesetz 2007), Bundestagsdrucksache 16/7955,
bringt für Wehrpflichtige, die sich in Studium und Ausbildung befinden, deut-
liche Verschlechterungen mit sich:

● Wehrpflichtige, die sich in dualen Studiengängen befinden, sollen künftig
unter bestimmten Bedingungen eingezogen werden können.

● Wehrpflichtige in Meister-, Fachwirt- und Technikerausbildungen sollen
künftig nicht mehr von Anfang an vor Einberufung geschützt sein.

Die Unterbrechung der Ausbildung bedeutet für die Wehrpflichtigen, die
Betriebe und den Wirtschaftsstandort Deutschland eine außergewöhnliche und
vermeidbare Belastung. Betriebe werden künftig Ausbildungsplätze bevorzugt
mit Frauen oder jungen Männern besetzen, bei denen mit keiner Einberufung
zum Wehr- oder Zivildienst zu rechnen ist. Damit wird die Minderheit derjeni-
gen jungen Männer, die überhaupt noch die Wehrpflicht erfüllt, in ihrer Berufs-
und Lebensplanung weiter benachteiligt. Diese Verschlechterungen und Be-
nachteiligungen für Wehrpflichtige sind nicht hinnehmbar.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● die vorgesehenen Verschlechterungen und Benachteiligungen für Wehr-
pflichtige zurückzunehmen;

● Studenten und Auszubildende – auch in dualen Studiengängen sowie Meis-
ter-, Fachwirt- und Technikerausbildungen – künftig uneingeschränkt vor
der Einberufung zum Wehr- oder Zivildienst zu schützen. Der Schutz vor
Einberufung muss dabei von dem Tag an gelten, an dem ein Wehrpflichtiger
ein zulassungsfreies Studium aufgenommen hat oder ihm ein zulassungsbe-
schränkter Studienplatz oder ein Ausbildungsplatz verbindlich zugesichert
wird;

● den Ausstieg aus der Wehrpflicht fortzusetzen und noch in diesem Jahr
einen schrittweisen und mittelfristigen „Stufenplan zum Ausstieg aus der
Wehrpflicht“ vorzulegen.

Berlin, den 13. Februar 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Drucksache 16/8044 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

Die Wehrpflicht ist ein nicht länger zu rechtfertigender und verfassungsrecht-
lich nicht länger haltbarer Eingriff in die Grundrechte und die Lebensplanung
junger Männer. Wehrgerechtigkeit ist nicht mehr gegeben und auf absehbare
Zeit nicht herstellbar. Deshalb muss der Ausstieg aus der Wehrpflicht rasch
zum Abschluss gebracht werden. Solange die Wehrpflicht noch nicht abge-
schafft ist, sind zumindest die ungerechten Einberufungsbedingungen für junge
Männer zu verbessern. Dazu ist es erforderlich, die Benachteiligung von Wehr-
dienstverweigerern bei der Einberufungspraxis zu beenden – wie im Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gefordert (Bundestags-
drucksache 16/3504) – sowie junge Männer in Studium und Ausbildung vor
Einberufung zu Wehr- oder Zivildienst zu schützen.

Die Einberufung junger Männer aus Studium oder Ausbildung ist auch aus
sicherheitspolitischer Sicht längst nicht mehr zu begründen. Die veränderte Be-
drohungslage, die neuen Aufgaben und die damit einhergehende Transforma-
tion der Bundeswehr haben dazu geführt, dass nur noch maximal 15 Prozent
der Wehrpflichtigen eines Geburtsjahrgangs zum Wehrdienst einberufen wer-
den können. Von einer „Allgemeinen Wehrpflicht“ kann in Deutschland daher
keine Rede mehr sein. Der Wehrdienst ist nicht mehr die Regel, sondern die
Ausnahme. Es ist daher nicht einsehbar, warum unter diesen Bedingungen
junge Männer sogar aus Bildungsgängen heraus einberufen werden sollten.
Vielmehr sind Studenten und Auszubildende vor Einberufungen zu Wehr- und
Zivildienst gleichermaßen zu schützen.

Das Zweite Zivildienstgesetzänderungsgesetz (Bundestagsdrucksache 15/3279)
der rot-grünen Bundesregierung war ein erster Schritt in Richtung „Vorrang
von Bildung vor Dienstpflicht“. Seitdem genießen betriebliche Ausbildungen
einen Einberufungsschutz von Anfang an. Die damalige Neuregelung gab den
Betrieben Planungssicherheit und erhöhte die Bereitschaft, Ausbildungsplätze
zu schaffen. Dieser Fortschritt wird durch den Entwurf eines Gesetzes zur Än-
derung wehrrechtlicher und anderer Vorschriften (Wehrrechtsänderungsgesetz
2007), Bundestagsdrucksache 16/7955, teilweise wieder zunichte gemacht.
Entgegen dem selbst formulierten Anspruch zieht der Gesetzentwurf der Bun-
desregierung Verschlechterungen für Wehrpflichtige in Studium und Ausbil-
dung nach sich.

Demnach sollen junge Männer in so genannten dualen Studiengängen künftig
eingezogen werden können, wenn der duale Studiengang länger als acht Semes-
ter dauert oder das Studium nicht spätestens drei Monate nach Beginn der
betrieblichen Ausbildung aufgenommen wird. Ein duales Studium besteht aus
einer selbständigen Berufsausbildung und einem parallelen, darauf bezogenen
Studium. Beide Ausbildungen finden in enger Kooperation mit oder in Eigen-
verantwortung von Betrieben statt, die dafür Ausbildungsplätze zur Verfügung
stellen. Die von der Bundesregierung gewollte Einberufung von Wehrpflichti-
gen aus dualen Studiengängen ist sowohl für die Auszubildenden als auch für
die Betriebe fatal. Die jungen Männer müssen bereits begonnene Bildungspro-
zesse unterbrechen. Die ausbildenden Betriebe müssen den Dualen Ausbil-
dungsplatz bei wehr- oder zivildienstbedingtem Nichtantritt oder Unterbrechung
für die Dauer des Wehr-/Zivildienstes freihalten. Es ist zu erwarten, dass von
Arbeitgeberseite künftig keine dualen Ausbildungsplätze mehr für Wehr- oder
Zivildienstpflichtige zur Verfügung gestellt werden, wenn der Arbeitgeber damit
rechnen muss, seinen in einem dualen Studiengang eingeschriebenen Auszu-
bildenden zu verlieren. Zudem sind aufgrund der Einberufung zum Wehr- oder
Zivildienst ungenutzte Ausbildungsplätze angesichts des eklatanten Lehrstellen-
und Fachkräftemangels gesellschaftlich und ökonomisch nicht zu rechtfertigen.

Eine weitere geplante Verschlechterung durch das Wehrrechtsänderungsgesetz
2007 der Bundesregierung betrifft Wehrpflichtige in Meister-, Fachwirt- und

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8044

Technikerausbildungen. Diese wären künftig nicht mehr von Anfang an vor Ein-
berufung geschützt, da die Bundesregierung Einberufungen nur noch während
der Ausbildungen komplett ausschließen will, die im Berufsbildungsgesetz als
Berufsausbildung definiert und in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhält-
nisse aufgenommen sind. Eine derartige Hürde vor der Ausbildung zum Meister,
Fachwirt oder Techniker kann jedoch gerade angesichts des Fachkräftemangels
keinesfalls im gesellschaftlichen Interesse liegen.

In einer zunehmend wissensbasierten Ökonomie und Gesellschaft ist Bildung
der Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe und materiellen Wohlstand. Auf-
gabe des Staates ist es daher, erfolgreiche Bildungsbiographien und ein hohes
Qualifikationsniveau für alle zu fördern. Die Einberufung aus formal begonne-
nen Bildungsgängen heraus läuft diesem Ziel diametral zuwider. Sie führt dazu,
dass individuelle Qualifikationsprozesse junger Männer einseitig unterbrochen,
verzögert und verlängert werden, und behindert damit gesellschaftliche Teil-
habe. Es ist zudem zu befürchten, dass es längst nicht allen Einberufenen ge-
lingt, in einen einmal unterbrochenen Bildungsgang ohne Schwierigkeiten und
weitere Verzögerungen wieder einzusteigen. Die Tatsache, dass Jungen im
Schulsystem immer stärker zu Bildungsbenachteiligten werden – abzulesen vor
allem an der überdurchschnittlichen Zahl der Schulabbrecher und Sitzenbleiber
sowie der unterdurchschnittlichen Abiturientenquote –, unterstreicht, dass der
Grundrechtseingriff der Wehrpflicht im Allgemeinen und die Behinderung von
Qualifikationswegen nach der Schulzeit im Speziellen auch geschlechterpoli-
tisch ungerecht und inakzeptabel sind.

Auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive ist die Unterbrechung von Aus-
bildungszeiten kontraproduktiv. In einem Land, dessen Reichtum in den Fähig-
keiten der Menschen liegt, müssen alle vorhandenen Bildungspotenziale und
kreativen Talente voll ausgeschöpft werden. Mittlerweile wird ein Großteil
aller neu geschaffenen Arbeitsplätze nur mit Absolventinnen und Absolventen
von beruflicher und akademischer Bildung besetzt. Diese Entwicklung hin zu
einem steigenden Bedarf an höchstqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern wird sich im kommenden Jahrzehnt weiter verstärken. Zum bereits jetzt
bestehenden erheblichen Fachkräftemangel kommt verschärfend hinzu, dass in
den nächsten Jahren zahlreiche gut ausgebildete Fachleute aus dem Berufsleben
ausscheiden und ersetzt werden müssen. Daher dürfen Bildungspotenziale an
keiner Stelle vergeudet werden. Anstelle der Unterbrechung von Ausbildungs-
zeiten lernmotivierter junger Männer müssen die unbedingte Förderung von
Bildungsbeteiligung und der Ausbau von Studien- und Ausbildungskapazitäten
im Zentrum der Politik der Bundesregierung stehen. Dies ist ein Gebot von
Bildungs-, Zugangs- und Geschlechtergerechtigkeit, das durch die bestehende
Wehrpflicht und die damit einhergehende Wehrungerechtigkeit nicht länger
konterkariert werden darf.

Die durch die Einberufung aus Bildungsgängen hervorgerufenen Nachteile
werden durch den eklatanten Mangel an Ausbildungs- und Studienplatzkapazi-
täten zusätzlich verschärft. Für junge Menschen wird es aufgrund fehlender
Plätze immer schwieriger, eine Ausbildung oder ein Studium zu beginnen.
Hinzu kommen steigende Zugangshürden wie lokale NCs und Studiengebüh-
ren, die Studienberechtigten die Aufnahme eines Studiums erschweren. Zwar
kann der betroffene junge Mann einen einmal erworbenen Anspruch auf einen
Ausbildungs- oder Studienplatz nicht durch eine Einberufung verlieren. Doch
die für die Aufrechterhaltung des Anspruchs gebundenen Ressourcen verhin-
dern die gesellschaftlich dringend gebotene, effiziente Ausschöpfung aller vor-
handenen Ausbildungs- und Studienplatzkapazitäten.

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