BT-Drucksache 16/7114

Bildungspolitische Katastrophe verhindern - Betreuungsgeld eine Absage erteilen

Vom 14. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7114
16. Wahlperiode 14. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Britta Haßelmann, Krista Sager, Ekin Deligöz, Grietje Bettin,
Kai Gehring, Katrin Göring-Eckardt, Priska Hinz (Herborn) und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bildungspolitische Katastrophe verhindern – Betreuungsgeld eine Absage erteilen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Versorgung mit Betreuungsmöglichkeiten für Kinder ist hierzulande im in-
ternationalen Vergleich unterdurchschnittlich. Erst die rot-grüne Regierung trug
der wachsenden Bedeutung einer bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen
Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur für Kinder verstärkt Rechnung, indem
sie u. a. mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz den massiven Ausbau der Kin-
derbetreuung anstieß. Die jetzige Bundesregierung plant nun ein Gesetz, um
das Angebot für unter Dreijährige bis 2013 abermals zu erhöhen. Laut Medien-
berichten ist in diesem bevorstehenden Gesetz, das die zentralen Ausbau- und
die Finanzierungsmodalitäten der Kinderbetreuung regeln soll, vorgesehen, ein
so genanntes Betreuungsgeld gesetzlich festzuschreiben. Das Betreuungsgeld
soll finanziell all jene Familien fördern, die ihr Kind nicht vor dem dritten Le-
bensjahr in eine Kinderbetreuung geben. Damit fände eine äußerst vage wie
umstrittene politische Absichtserklärung Eingang in den Gesetzestext.

Das Instrument des Betreuungsgelds zielt bildungspolitisch in eine völlig fal-
sche Richtung und setzt deutliche Fehlanreize. Gerade für bildungsferne und
zugleich einkommensschwache Eltern bietet es einen starken Anreiz, ihren
Kindern frühe Förderangebote in einer Kinderbetreuungseinrichtung vorzuent-
halten und sich stattdessen lieber für die Auszahlung einer Geldleistung zu ent-
scheiden. Wenn sich z. B. eine einkommensschwache Familie mit Migrations-
hintergrund für die Inanspruchnahme eines Kinderbetreuungsplatzes für ihr
zweijähriges Kind entscheidet, würde sie dafür mit dem Verlust des Betreu-
ungsgelds bestraft werden. Die Wirkungen des Instruments Betreuungsgeld
sind also verheerend, gerade für die Kinder mit den schlechtesten Startchancen,
die von einer zusätzlichen Unterstützung durch frühkindliche Förderung am
meisten profitieren würden. Die Bundesministerin für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend selbst bezeichnete das Betreuungsgeld vor diesem Hinter-
grund als eine „bildungspolitische Katastrophe“ (vgl. DIE WELT, 2. November
2007).
Der wünschenswerte Ausbau der Kindertagesbetreuung muss vor allem vor
dem Hintergrund einer grundlegenden bildungspolitischen Neubewertung der
frühen vorschulischen Förderung gesehen werden. Bei der Priorität auf Inves-
titionen in frühkindliche Förderangbote geht es nicht um einen „Ersatz“ für die
Familie, sondern um Ergänzung und Unterstützung der Ressourcen von Fami-
lien. Studien belegen, dass von einer qualitativ hochwertigen Förderung alle

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Kinder profitieren: Während Kinder mit günstigen familiären Voraussetzungen
zusätzlich gefördert werden, können Defizite von Kindern mit weniger guten
Startbedingungen vor dem Schuleintritt ausgeglichen werden. Zudem gibt es
aus wissenschaftlicher Sicht eine Neubewertung der Bedeutung des frühkind-
lichen Lernens in der Gruppe für die Entwicklung sozialer Kompetenzen. Diese
Kompetenzen sind besonders wichtige Voraussetzungen für den späteren Schul-
erfolg. Kinder entwickeln ihre sozialen Fähigkeiten und Ressourcen maßgeb-
lich in der Interaktion mit anderen Kindern. Dafür bieten gute Kinderbetreuungs-
einrichtungen ideale Lernorte.

Unterstützer des Betreuungsgelds erwecken gerne den Eindruck, es werde sich
einseitig und zu Lasten der finanziellen Familienförderung um die Betreuungs-
infrastruktur gekümmert. Davon kann aber keine Rede sein: Durchschnittlich
für nur jedes 7. Kind unter drei Jahren gibt es einen Krippenplatz in Deutsch-
land. In den westlichen Bundesländern liegt die Angebotsquote bei lediglich
8 Prozent. Auch bei der Versorgung mit Ganztagsplätzen für Drei- bis Sechs-
jährige bestehen große Lücken. Im Verhältnis zu den Ländern mit hoher Gebur-
tenquote und einer erfolgreichen Bildungs- und Armutspolitik wendet Deutsch-
land relativ wenig Infrastrukturmittel für Bildung, Betreuung und Erziehung
auf. Von einer einseitigen Politik zu sprechen, welche zudem die Erziehungs-
leistung der Eltern nicht würdige, ist vor diesem Hintergrund geradezu absurd.
Insofern ist auch die Einführung einer angeblichen Kompensationsleistung in
Form von Betreuungsgeld widersinnig. Vielmehr geht es darum, endgültig von
einem primär auf Transfers ausgerichtetem System Abschied zu nehmen.

Handlungsbedarf besteht über den dringend notwendigen quantitativen Ausbau
der Kinderbetreuung hinaus insbesondere mit Blick auf die Qualität der Ange-
bote. Statt mit einem Betreuungsgeld eine Art „Abschreckprämie“ für öffent-
lich finanzierte Betreuungsangebote zu schaffen, sollten zusätzliche Mittel vor-
rangig in qualitative Maßnahmen zur Verbesserung der pädagogischen
Konzepte, die Optimierung und damit Aufwertung der Ausbildung von Erzie-
herinnen und Erziehern sowie in die Verkleinerung der Gruppengrößen fließen.
Außerdem sollte gerade auch mit Blick auf einkommensschwache Familien die
Absenkung der Elternbeiträge in Angriff genommen werden. Indem man vor
allem auch die Qualität der Einrichtungen ausbaut, wird man bildungsferne
Familien darin bestärken, ihre Kinder an der frühen Förderung teilhaben zu las-
sen.

Das Betreuungsgeld steht ferner im Widerspruch zu einer auf besserer Verein-
barkeit von Erwerbs- und Familienleben zielenden Politik. Zu dieser zählt ne-
ben dem Betreuungsausbau auch das Elterngeld. Es soll nach Auffassung der
Bundesregierung ausdrücklich den Anreiz für Mütter stärken, schneller als
bisher in die Erwerbstätigkeit zurückzukehren. Zahlreiche andere sozial- und
steuerrechtliche Regelungen hingegen stellen bislang eher Anreize dafür, dass
Mütter aus dem Erwerbsleben lange oder gänzlich aussteigen. Fehlende und
qualitativ ungenügende Betreuungsplatzkapazitäten haben die geringe Frauen-
erwerbstätigkeit noch unterstützt. Zielte der Ausbau der Kinderbetreuung und
das Elterngeld darauf ab, dies zu verändern, so geht das Instrument des Betreu-
ungsgelds wieder in die entgegengesetzte Richtung. Die einzelnen familien-
politischen Maßnahmen widersprechen sich damit in ihren Zielsetzungen und
bilden keine konsistente Familienpolitik.

Der Betreuungsausbau schafft ein staatlich finanziertes Angebot, das Familien
zur Unterstützung der frühen Förderung ihrer Kinder freiwillig in Anspruch
nehmen können. Wenn sich Eltern dagegen entscheiden, dieses Angebot zu nut-
zen, kann daraus kein Anspruch auf Kompensation abgeleitet werden. Sonst
müsste auch die Nichtnutzung von staatlichen Museen, Theatern, Sportplätzen

etc. Kompensationsansprüche nach sich ziehen. Die Forderung nach Einfüh-
rung eines Betreuungsgelds belastet den jüngsten Diskussions- und Entschei-

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dungsprozess zum Betreuungsausbau und gefährdet den Ausbau sogar im
Grundsatz. Denn aus Reihen der Regierungskoalition aus CDU, CSU und SPD
und der Länder wird die eigene Forderung nach dem Betreuungsgeld unmittel-
bar mit der Zustimmung zum Gesetzesvorhaben Kinderbetreuungsausbau ver-
knüpft. Das bevorstehende parlamentarische Verfahren zum Betreuungsausbau
ist ohnehin noch mit reichlich Problemen und Unwägbarkeiten beladen. Zudem
wird damit versucht, mittelfristig – noch nicht gegenfinanzierte! – Haushalts-
mittel für eine mehr als fragwürdige Maßnahme zu binden, die für dringende
und weitaus sinnvollere Bestimmungen genutzt werden könnten. Auf diese
Weise kann keine konsistente Familienpolitik entstehen. Vielmehr sollte jetzt
eine klare politische Absage an das Betreuungsgeld erfolgen und die konzent-
rierte Arbeit am Ausbau und der Qualitätsverbesserung der Kinderbetreuung
fortgesetzt werden. Damit soll keine grundsätzliche Absage an jedwede Über-
legungen zur Reform der monetären Familienförderung erteilt werden. Das
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat hierzu eigens
ein Kompetenzzentrum gegründet und eine umfassende Prüfung des Fördersys-
tems angekündigt. Eine Vorstellung der Ergebnisse dieses Projektes, wenigsten
in Form einer Zwischenbilanz, steht bislang leider aus.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● auf eine Ankündigung einer gesetzlichen Verankerung des Betreuungsgelds
im bevorstehenden Artikelgesetz zur Änderung des Achten Buches Sozial-
gesetzbuch (SGB VIII) sowie des Finanzausgleichgesetzes zu verzichten
und die Einführung eines Betreuungsgelds nicht weiter zu verfolgen;

● dem Parlament schnellstmöglich und dezidiert Bericht zu erstatten über die
vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angekün-
digte Prüfung der Familienförderung in Deutschland, wozu eigens ein vom
Bund finanziertes, externes Kompetenzzentrum gegründet worden ist.

Berlin, den 14. November 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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