BT-Drucksache 16/705

Fortbestand der Landwirtschaftsklausel vor dem Hintergrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofes zum Vertragsverletzungsverfahren zur Umsetzung der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie

Vom 15. Februar 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/705
16. Wahlperiode 15. 02. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Angelika Brunkhorst,
Hans-Michael Goldmann, Jens Ackermann, Christian Ahrendt, Uwe Barth, Rainer
Brüderle, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen,
Ulrike Flach, Otto Fricke, Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund
Peter Geisen, Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Elke Hoff, Birgit
Homburger, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L.
Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk,
Harald Leibrecht, Michael Link (Heilbronn), Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt,
Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr,
Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Dr. Max Stadler,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Christoph Waitz, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Martin Zeil, Dr. Wolfgang Gerhardt und der
Fraktion der FDP

Fortbestand der Landwirtschaftsklausel vor dem Hintergrund des Urteils
des Europäischen Gerichtshofes zum Vertragsverletzungsverfahren
zur Umsetzung der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie

Die Europäische Gemeinschaft hat die Vogelschutzrichtlinie zum Schutz be-
stimmter wildlebender Vogelarten im Jahr 1979 und die Flora-Fauna-
Habitat(FFH)-Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zum Erhalt
der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im
Jahr 1992 beschlossen. „NATURA 2000“ ist das zusammenhängende Netz be-
sonderer europäischer Schutzgebiete, die nach den Vorgaben der FFH-Richtlinie
oder nach der Vogelschutzrichtlinie ausgewiesen wurden. Mit diesem Netz
„NATURA 2000“ werden die natürlichen Lebensräume und gefährdeten wild
lebenden Tiere und Pflanzen in den Mitgliedsländern der EU erhalten und
geschützt.

Die Europäische Kommission hat am 28. Februar 2003 eine Vertragsverlet-
zungsklage nach Artikel 226 des EG-Vertrags gegen die Bundesrepublik
Deutschland beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. Die EU-
Kommission hat die Umsetzung der FFH-Richtlinie in deutsche Gesetze in
6 Punkten gerügt. Die Rügen 1, 3 und 4 betreffen das Bundesnaturschutzgesetz,

die Rüge 2 betrifft das Immissionsschutzrecht, die Rüge 5 die Pflanzenschutz-
mittelgesetzgebung und die Rüge 6 die Vorschriften für das Fischereiwesen. Der
EuGH hat mit seinem Urteil vom 10. Januar 2006 entschieden, dass die Bundes-
republik Deutschland in allen 6 Punkten gegen ihre Verpflichtung aus dem
Artikel 6 Abs. 3 und 4 sowie die Artikel 12, 13 und 16 der FFH-Richtlinie ver-
stoßen habe.

Drucksache 16/705 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Bereits am 10. April 2000 hatte die EU-Kommission in einem Mahnschreiben
die Bundesregierung aufgefordert, sich zur Umsetzung der oben angegebenen
Artikel zu äußern. In der Antwort auf die Erwiderung der Bundesregierung stell-
te die EU-Kommission am 25. Juli 2001 fest, dass die Bundesregierung nicht die
erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe, um die Umsetzung der FFH-Richt-
linie zu gewährleisten. Die Bundesregierung wies die Vorwürfe am 21. Novem-
ber 2001 zurück. Am 28. Februar 2003 erfolgte dann die Klage der EU-Kom-
mission.

Um die Sicherung der in „NATURA 2000“ ausgewiesenen besonderen Schutz-
gebiete zu gewährleisten, werden diese durch Rechtsverordnung nach § 33
Abs. 4 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) unter Schutz gestellt, oder
sie werden durch andere Formen rechtlich gesichert (z. B. öffentliche Träger-
schaft oder vertragliche Vereinbarungen).

Schon nach den geltenden gesetzlichen Regelungen kann die Ausweisung eines
Gebietes als FFH- oder Vogelschutzgebiet für die Eigentümer teilweise erhebli-
che Nutzungseinschränkungen zur Folge haben. Der EuGH fordert mit seiner
Entscheidung, dass die nach dem Bundesnaturschutzgesetz geltende Landwirt-
schaftsklausel nicht in den besonderen Schutzgebieten des Netzes „NATURA
2000“ gelten solle. Die Landwirtschaftsklausel bestimmt, dass die ordnungs-
gemäße land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Bodennutzung nicht als Ein-
griff in Natur und Landschaft anzusehen ist. Das Urteil des EuGH bedeutet, dass
in Zukunft jegliche Bewirtschaftungsmaßnahmen einer strengen Verträglich-
keitsprüfung unterzogen werden müssten, um zu überprüfen, ob die geplanten
Maßnahmen die Erhaltungsziele und den Schutzzweck des jeweiligen Gebietes
gefährden könnten. Die generelle Befreiung der ordnungsgemäßen land-, forst-
und fischereiwirtschaftlichen Bodennutzung von der Überprüfung der Verträg-
lichkeit wird somit aufgehoben. Der EuGH strebt vielmehr die Prüfung im Ein-
zelfall an. Insbesondere ist jegliche auch unabsichtliche Beeinträchtigung von
Fortpflanzungs- und Ruhestätten besonders geschützter Arten verboten.

Eine Umsetzung dieses EuGH-Urteils in das Bundesnaturschutzgesetz kann ins-
besondere für die Forstwirtschaft existenzbedrohende Folgen haben. Vor jeder
forstwirtschaftlichen Maßnahme müsste geprüft werden, ob nach der FFH-
Richtlinie geschützte Arten oder Lebensräume durch die Maßnahme erheblich
beeinträchtigt werden könnten (Verträglichkeitsprüfung für Pläne und Projekte).
Selbst wenn im Rahmen der ordnungsgemäßen forstlichen Bewirtschaftung ver-
sehentlich erhebliche Beeinträchtigungen entstehen, ist dies ein Verstoß gegen
die strengen Schutzbestimmungen der FFH-Richtlinie.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung das oben genannte EuGH-Urteil?

2. Ist nach Einschätzung der Bundesregierung durch das EuGH-Urteil eine
Novellierung der gerügten nationalen Gesetze erforderlich, und plant die
Bundesregierung eine Novellierung der kritisierten Gesetze?

Wenn nein, warum nicht?

3. In welchem Zeitrahmen muss gegebenenfalls die Umsetzung des Urteils
erfolgen, um Zwangszahlungen zu vermeiden?

4. Trifft nach Einschätzung der Bundesregierung zu, dass die Landwirtschafts-
klausel des Bundesnaturschutzgesetzes bei einer Novellierung differenzierter
gefasst werden muss, um den Forderungen des EuGH-Urteils zu entspre-
chen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/705

5. Trifft es zu, dass die Landwirtschaftsklausel des Bundesnaturschutzgesetzes
bereits in verschiedenen Verfahren von der EU-Kommission kritisiert wor-
den ist, und wenn ja, in welchen?

6. Trifft es zu, dass es keine Möglichkeit gibt, mit juristischen Mitteln gegen
das Urteil vorzugehen, und wenn ja, sieht die Bundesregierung Möglichkei-
ten für politische Maßnahmen ?

Wenn ja, welche sind das gegebenenfalls und wie bewertet die Bundesregie-
rung die Erfolgsaussichten?

7. In welcher Weise hat die Bundesregierung die nun erfolgte Verurteilung zu
vermeiden gesucht?

8. Welche Defizite bestehen nach Einschätzung der Bundesregierung bei der
gegenwärtigen Praxis der Umsetzung der FFH- und der Vogelschutzrichtli-
nie hinsichtlich des Erreichens der Schutzziele und für die Durchsetzung
des Verschlechterungsverbots der FFH-Richtlinie?

9. Welche konkreten Beispiele sind der Bundesregierung bekannt, die belegen,
dass das gegenwärtige nationale rechtliche Instrumentarium nicht ausrei-
chend ist, um die Ziele der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie umzusetzen?

10. Wie schätzt die Bundesregierung die Folgen des vom EuGH am 10. Januar
2006 in der Rechtssache C-98/03 gefällten Urteils insbesondere für die
nachhaltig betriebene Land- und Forstwirtschaft in Deutschland in den aus-
gewiesenen FFH-Gebieten ein?

11. Welche zusätzlichen Maßnahmen werden durch dieses Urteil in ausgewie-
senen FFH- und Vogelschutzgebieten für die Durchführung einer ordnungs-
gemäßen land- und forstwirtschaftlichen Bewirtschaftung erforderlich?

12. Bestehen nach Einschätzung der Bundesregierung Möglichkeiten durch
Verwendung der in den Ländern vorliegenden Daten der Biotopkartierung
eine effektive Umsetzung der Forderungen des Urteils ohne erheblichen
bürokratischen Aufwand zu gewährleisten, und wenn nein, warum nicht?

13. Gibt es Schätzungen darüber, wie hoch die zusätzlichen Kosten sein wer-
den, die dem Privat- und Kommunalwald durch dieses Urteil entstehen?

14. Gibt es Überlegungen, wie für die aus diesem Urteil resultierenden Er-
schwernisse und Ausfälle einer nachhaltig betriebenen Forstwirtschaft in
Deutschland Ausgleichs- und Entschädigungszahlungen geleistet werden
und aus welchen Finanzmitteln sie erfolgen könnten?

15. Hält die Bundesregierung die im europäischen Ausland (Großbritannien,
Niederlande, Schweden) gefundenen Lösungen für die Umsetzung des
Artikels 12 Abs. 1 Buchstabe d der FFH-Richtlinie übertragbar auf die deut-
schen Verhältnisse, und wenn ja, welche der Lösungen würden für den
Schutz der im Wald lebenden Arten bevorzugt?

16. Wie beurteilt die Bundesregierung die Chancen, im Zuge der Erstellung der
Durchführungsverordnung eine Formulierung zu finden, mit der festgelegt
wird, dass eine nachhaltig betriebene Forstwirtschaft in Deutschland kein
Projekt entsprechend der Definition der FFH-Richtlinie darstellt?

17. Hat das Urteil Auswirkungen auf die Land- und Forstwirtschaft außerhalb
von ausgewiesenen FFH- und Vogelschutzgebieten, und wenn ja, welche
und mit welcher Begründung?

18. In welcher Weise wird die Bundesregierung bei der Umsetzung des EuGH-
Urteils die noch laufenden Diskussionen über die zukünftigen Gesetz-
gebungskompetenzen (Föderalismusdebatte) berücksichtigen?

Drucksache 16/705 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
19. Strebt die Bundesregierung im Zuge der Erstellung des Umweltgesetz-
buches eine Harmonisierung des deutschen und europäischen Umweltrechts
an?

Berlin, den 15. Februar 2006

Dr. Christel Happach-Kasan
Angelika Brunkhorst
Hans-Michael Goldmann
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Hellmut Königshaus
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Michael Link (Heilbronn)
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Martin Zeil
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.