BT-Drucksache 16/6850

Rückgang von Ackerwildkräutern in Deutschland und Nutzen von Saatgut-Genbanken für Wildpflanzen

Vom 24. Oktober 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6850
16. Wahlperiode 24. 10. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Angelika Brunkhorst, Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Uwe Barth, Rainer Brüderle,
Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Dr. Edmund Peter
Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff,
Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Heinz
Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Michael Link (Heilbronn), Horst
Meierhofer, Patrick Meinhardt, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Detlef Parr,
Gisela Piltz, Jörg Rohde, Dr. Konrad Schily, Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele,
Florian Toncar, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Guido
Westerwelle und der Fraktion der FDP

Rückgang von Ackerwildkräutern in Deutschland und Nutzen von
Saatgut-Genbanken für Wildpflanzen

Im Mai 2008 findet in Bonn die 9. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkom-
mens über die Biologische Vielfalt statt. Über 5 000 Delegierte aus aller Welt
werden für diese Konferenz, die 2008 unter deutschem Vorsitz stehen wird, nach
Bonn kommen, um über Schutz und Erhalt von Arten und Lebensräumen sowie
eine nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt zu diskutieren. Das zentrale in-
ternationale Instrument zum Schutz der biologischen Vielfalt ist die Konvention
über die biologische Vielfalt (UN Convention on Biological Diversity – CBD),
eines der drei völkerrechtlichen Abkommen, die bei der Konferenz der Verein-
ten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 beschlossen
wurden. Die CBD ist keine klassische Artenschutzkonvention, sondern deckt
vielmehr den gesamten Bereich des Schutzes und der nachhaltigen Nutzung der
biologischen Vielfalt auf den drei Ebenen der Lebensräume, Arten und Gene ab.

In den vergangenen Jahrzehnten ist es in Deutschland zu einem Rückgang von
Wild- und Ackerwildkräutern gekommen. Die Industrialisierung mit den hohen
Schadstoffemissionen bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, die
Landbewirtschaftung vor Einführung der Flächenprämien und die klimatischen
Veränderungen sind daran beteiligt. Früher weit verbreitete Ackerwildkräuter
wie die Kornrade (Agrostemma githago), der Lämmersalat (Arnoseris minima),
die Sichelmöhre (Falcaria vulgaris), das Eiblättrige Tännelkraut (Kickxia spu-
ria) und der Acker-Wachtelweizen (Melampyrum arvense) – um hier nur einige

Arten zu nennen – sind in vielen Regionen Deutschlands vom Aussterben be-
droht. Das heute nur noch in Deutschland mit einigen hundert Exemplaren auf
extensiv bewirtschafteten, mageren Grünlandstandorten vorkommende Galmei-
Hellerkraut (Thlaspi calaminare) dürfte nach Einschätzung von Fachleuten in
wenigen Jahren unwiederbringlich verschwunden sein.

Drucksache 16/6850 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Saatgut-Genbanken stellen die effektivste Maßnahme zum Erhalt von Wild- und
Ackerwildkräutern außerhalb des eigentlichen Lebensraumes (ex situ) dar. Sol-
che ex-situ-Maßnahmen ermöglichen den Schutz sowie den Erhalt der innerart-
lichen genetischen Vielfalt von Organismen und sichern deren genetische Res-
sourcen langfristig. Für die Sicherung pflanzlicher Arten bedarf es in der Regel
keiner aufwendigen Techniken, da sich Pflanzensamen von Natur aus als Über-
dauerungs- und Ausbreitungsorgan in einer Ruhephase (Diapause) befinden.
Für die Einlagerung werden die Pflanzensamen gereinigt und schonend getrock-
net, dann in Behältern luftdicht verpackt und schließlich bei wenigen Grad über
Null vorgekühlt. Nach einigen dieser leichten Kältetage werden die Samen-
behältnisse gefrostet. Auf diese Weise können die Samen problemlos Langzeit
gelagert werden. Die Einrichtung von Wildpflanzensaatgut-Genbanken stellt die
kostengünstigste Methode dar und ist unter sammlungstechnischen Gesichts-
punkten allen anderen Maßnahmen weit überlegen. Relativ leicht und schnell
können flächendeckend Populationen beprobt und somit die genetische Vielfalt
repräsentativ erfasst werden. Spezielle Saatgut-Genbanken für Wildpflanzen
gibt es heute z. B. in Australien, Großbritannien, Spanien und den USA, wobei
die USA die bereits 1992 verabschiedete CBD noch nicht einmal ratifiziert
haben. In Deutschland, das die Konvention in 1993 ratifiziert hat, finden sich
bislang nur einige wenige, rein regional archivierende Genbanken für Wild-
pflanzen. Die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ machte auf die Versäumnisse
Deutschlands in diesem Bereich mit dem Artikel „Der Tod am Wegesrand“
(9. August 2007, Nr. 33, v. Hans Schuh) aufmerksam. Für den Erhalt der
Agrobiodiversität werden in der Genbank beim Institut für Pflanzengenetik und
Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben über 150 000 verschiedene
Pflanzenmuster von Kulturpflanzen aus fast 700 Gattungen aufbewahrt. Weiter-
hin gibt es in der Universität Göttingen (Bereich: Experimentelle Phykologie
und Sammlung von Algenkulturen (SAG)) seit 1954 eine Sammlung lebender
Kulturen von Algen und Cyanobakterien. Verschiedene Cyanobakterien können
den Luftstickstoff fixieren und haben daher Einfluss auf das Wachstum von
Kulturpflanzen und Wildkräutern. Viele dieser Mikroorganismen sind wichtige
Wegbereiter für die Wiederansiedlung von Ackerwildkräutern.

In der CBD wird die ex-situ-Erhaltung von Pflanzen im Artikel 9 angesprochen:
Jede Vertragspartei wird aufgefordert: „Einrichtungen für die ex-situ-Erhaltung
und die Forschung in Bezug auf Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen, vorzugs-
weise im Ursprungsland der genetischen Ressourcen zu schaffen und zu unter-
halten“ (Artikel 9b). „Maßnahmen zur Regenerierung und Förderung gefährde-
ter Arten sowie zu ihrer Wiedereinführung in ihren natürlichen Lebensraum
unter geeigneten Bedingungen zu ergreifen“ (Artikel 9c) und „bei der Bereit-
stellung finanzieller und sonstiger Unterstützung für die unter den Buchstaben a
bis d vorgesehene ex-situ-Erhaltung sowie bei der Schaffung und Unterhaltung
von Einrichtungen für die ex-situ-Erhaltung in Entwicklungsländern zusam-
menarbeiten“ (Artikel 9e).

Die Unterzeichnerstaaten der CBD haben auf der 6. Vertragsstaatenkonferenz
(6. Conference of the Parties (COP) to the Convention on Biological Diversity)
am 19. April 2002 in Den Haag mit der Decision VI/9 die „Globale Strategie zur
Erhaltung der Pflanzen“ (GSCP) angenommen. Es wurden 16 Ziele formuliert,
die bis zum Jahr 2010 erreicht werden sollen. Im Zusammenhang mit der Schaf-
fung von Genbanken für Wildpflanzen sind folgende Ziele von Bedeutung:
60 Prozent der gefährdeten Pflanzenarten sollen in zugänglichen ex-situ-Samm-
lungen (z. B. Botanische Gärten, Saatgut-Genbanken) eingebracht werden,
10 Prozent davon in Wiederausbringungsprogramme (Rettungsprogramme) ein-
bezogen werden; die kritisch gefährdeten Arten sollen zu 90 Prozent ex situ
erhalten sein (Ziel 8); Schaffung fachlicher Kapazitäten zur Erhaltung der Pflan-

zenvielfalt (Ziel 15); Einrichtung und Stärkung von Netzwerken für den
botanischen Naturschutz (Ziel 16).

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6850

Das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
(BMVEL) hat für Deutschland im Jahr 2002 das „Nationale Fachprogramm zur
Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen landwirt-
schaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen“ herausgegeben. Hierin bewer-
tet das Ministerium von den ca. 3 200 wild wachsenden Blütenpflanzenarten in
Deutschland etwa 1 000 als genetische Ressourcen (S. 4). Das Bundesamt für
Naturschutz (BfN) vermerkt in diesem Programm, dass dem Schutz der natür-
lichen pflanzengenetischen Ressourcen bei der „Globalen Strategie für den
Schutz der Pflanzen“ eine besondere Rolle zukommt (S. 46), betont außerdem
die Bedeutung des ex-situ-Schutzes und führt als laufende Aktivität u. a. die
„Durchführung von Großvorhaben (…) zur modellhaften Entwicklung und Er-
probung von Managementmaßnahmen sowie zur Integration von In-situ- und
ex-situ-Maßnahmen“ an.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung der Umsetzung der mit der
Unterzeichnung der CBD eingegangenen Verpflichtungen bei?

2. Welche Maßnahmen sind bisher von der Bundesregierung ergriffen worden,
um den eingegangenen Verpflichtungen nachzukommen?

3. Wird Deutschland bis 2010 die Ziele der 6. Vertragsstaatenkonferenz umge-
setzt haben, und wenn nein, welche nicht, und warum nicht?

4. Was beabsichtigt die Bundesregierung zur Optimierung und dauerhaften Si-
cherung im Bereich der ex-situ-Erhaltung von Wildpflanzen (insbesondere
von Saatgut-Genbanken) mit Blick auf die Ziele der „Globalen Strategie zur
Erhaltung der Pflanzen“ (GSCP) bis zum Jahr 2010 zu unternehmen?

5. Welcher Anteil der gefährdeten Pflanzenarten wird bisher in ex-situ-Samm-
lungen bewahrt, welcher Anteil davon in Saatgut-Genbanken?

6. Für welche Artengruppen sind nach Einschätzung der Bundesregierung
Botanische Gärten und für welche Saatgut-Genbanken besonders geeignet,
Pflanzen der Roten Liste und deren genetische Biodiversität zu bewahren?

7. Welche Wiederausbringungsprogramme werden in Deutschland von wem
und mit welchen Arten durchgeführt, und wie bewertet die Bundesregierung
deren bisherigen Erfolg?

8. Welche Teilziele der 6. Vertragsstaatenkonferenz werden nach Einschät-
zung der Bundesregierung bis 2010 in Deutschland erreicht sein?

9. Welche Institutionen der Länder und des Bundes sind in Deutschland für die
ex-situ-Erhaltung zuständig, und wer trägt die Gesamtverantwortung für die
Umsetzung der mit der Unterzeichnung der CBD eingegangenen Verpflich-
tungen?

10. Welche technischen Möglichkeiten sind entwickelt worden, um eine gene-
tische Verarmung von Pflanzenarten, die bei früheren Einlagerungsversu-
chen von Saatgut in Genbanken gelegentlich auftrat, heute zu verhindern?

11. In welcher Größenordnung müssten für ganz Deutschland Wildpflanzen-
samen eingelagert werden, um die derzeit gefährdeten sog. Rote-Liste-
Arten zu archivieren?

12. In welchen Bundesländern Deutschlands bestehen bereits heute Genbanken
für Wildpflanzensaatgut, die den gesamten Samenbestand der gefährdeten
Wildpflanzen des jeweiligen Landes archivieren, wer unterhält die Gen-
banken, und wer finanziert sie?
13. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass das Engagement Deutsch-
lands in Bezug auf die Archivierung heimischen Wildpflanzensaatgutes

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weit hinter dem Engagement z. B. Großbritanniens liegt, wo durch das Mil-
lennium Seed Bank Project (MSBP), unter Schirmherrschaft von Prinz
Charles und dem heutigen Ministerpräsidenten Gordon Brown, bislang über
eine Milliarde Wildpflanzensamen eingelagert werden konnten, und wenn
nein, mit welcher Begründung?

14. Wie beurteilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass viele in Deutsch-
land stark gefährdete Pflanzen (wie z. B. das schwermetallhaltige Böden be-
vorzugende und nur noch in Deutschland mit einigen hundert Exemplaren
vorkommende Galmei-Hellerkraut/Thlaspi calaminare) langfristig nur
durch die Archivierung in Wildpflanzensaatgut-Genbanken sicher und ver-
gleichsweise kostengünstig erhalten werden können?

15. Trifft es zu, dass bisher von staatlicher Seite (z. B. vom Bundesamt für
Naturschutz) bislang keine Aktivitäten zur Einrichtung für Saatgut-Genban-
ken von Wildpflanzen erfolgt sind, obwohl sich die Bundesregierung zum
Schutz der genetischen Vielfalt durch die Convention on Biological Diver-
sity (CBD), Agenda 21, BMVEL 2002 dazu verpflichtet hatte, und wenn ja,
warum?

16. Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung zu ergreifen, um
dem Artikel 9 der Convention on Biological Diversity (CBD) künftig ge-
recht zu werden?

17. Welche notwendigen Voraussetzungen (finanzielle, räumliche und perso-
nelle Ressourcen) zur Erreichung dieser Ziele wird die Bundesregierung zur
Verfügung stellen?

18. Mit welcher Begründung und mit welchem Ziel zahlt die Bundesregierung
jährlich 1,5 Mio. Euro für die von der norwegischen Regierung errichtete
Nutzpflanzengenbank auf Spitzbergen, deren Bedeutung bei Experten um-
stritten ist?

19. Welche Großvorhaben zur modellhaften Entwicklung und Erprobung von
Managementmaßnahmen sowie zur Integration von in-situ- und ex-situ-
Maßnahmen, die im oben angeführten „Nationalen Fachprogramm zur Er-
haltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen land-
wirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen“ (Hrsg. BMVEL,
2002) genannt werden, sind bereits umgesetzt worden, bzw. wie ist der der-
zeitige Planungsstand?

20. Wie ist der aktuelle Stand der Forschungsvorhaben, die die Untersuchung
der Interaktionen von Ackerwildkräutern mit ihren assoziierten Bodenmik-
roorganismen (Pilzen, Algen, Arthropoden) zum Ziel haben, und wie ist der
Kenntnisstand über deren Bedeutung als Wegbereiter für die Wiederansied-
lung der Wildkräuter?

Berlin, den 24. Oktober 2007

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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