BT-Drucksache 16/6695

Situation der durch Blutprodukte mit dem Hepatitis-C-Virus infizierten Hämophilen (Bluter)

Vom 10. Oktober 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6695
16. Wahlperiode 10. 10. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Katja Kipping,
Volker Schneider (Saarbrücken) und der Fraktion DIE LINKE.

Situation der durch Blutprodukte mit dem Hepatitis-C-Virus infizierten
Hämophilen (Bluter)

Hämophilie ist eine vererbte Krankheit. Blutern fehlen Blutgerinnungsfaktoren,
was spontane, dauerhafte und lebensbedrohliche Blutungen zur Folge haben
kann. Glücklicherweise ist seit Anfang der 1970er-Jahre eine Therapie mit den
fehlenden hauptsächlich aus menschlichem Blut gewonnenen Gerinnungsfak-
toren möglich. 85 Prozent aller Bluter haben einen Mangel an Faktor VIII. Seit
Mitte der 1990er-Jahre gibt es auch eine Methode, das Medikament gentech-
nisch ohne Zuhilfenahme von Blut zu gewinnen und ein Infektionsrisiko auf
diese Art auszuschließen.

Die Gewinnung der Gerinnungsfaktoren aus menschlichem Blut stellte eine
Infektionsgefahr dar – ein minimales Restrisiko ist bis heute bei dieser Herstel-
lungsart nicht auszuschließen. Seit 1976 musste ein Blutprodukt (für Bluttrans-
fusionen galt dies bereits seit 1968), welches in Deutschland in Umlauf ge-
bracht werden soll, mit dem Alaninaminotransferase-Test (ALT-Test) geprüft
werden. Dieser Test kann einige Risiken, z. B die Kontamination des Blutpro-
dukts mit Hepatitis-Viren, verringern.

Etwa 90 Prozent des für die Gewinnung von Gerinnungsfaktoren verwendeten
Blutplasmas wurde jedoch aus den USA importiert. Dort galten andere Sicher-
heitsbestimmungen; es wurden bis 1985 auch Spender aus Risikogruppen, wie
Drogenabhängigen, Prostituierten, Strafgefangenen und promiskuitiv lebenden
Menschen als Blutspender zugelassen. Eine risikomindernde Auswahl der Blut-
spender gab es in vielen Fällen nicht. Der in Deutschland seit 1976 vorgeschrie-
bene ALT-Test wurde in den USA erst ab 1986 Pflicht.

1977 wurde in den USA erstmals ein Verfahren entwickelt, um das Risiko der
Hepatitis-Übertragung zu eliminieren. Dieses Verfahren war der späteren Sol-
vent/Detergent-Methode ähnlich.

1978 wurde ein Pasteurisierungsverfahren entwickelt (Behring), das imstande
ist, Viren unschädlich zu machen. Dieses Verfahren wurde im Februar 1981 in
Deutschland zugelassen und wirkt unspezifisch auf viele verschiedene Viren-
arten, z. B. HIV und HCV. Der Schlussbericht des einschlägigen Unter-
suchungsausschusses des 12. Deutschen Bundestages mit dem Titel „HIV-In-
fektionen durch Blut und Blutprodukte“ (Bundestagsdrucksache 12/8591) geht
davon aus, dass bereits Ende 1982 die fachlichen Bedenken bezüglich Neben-
wirkungen dieses virusinaktivierten Präparats hätten ausgeräumt sein müssen.
Logische Folge hätte der sofortige flächendeckende Einsatz dieser Methode
sein müssen. Dieser ist jedoch erst 1984/1985 erfolgt; in vielen Krankenhäu-
sern auch erst 1987.

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Die Verantwortung hierfür ist nicht im Einzelfall zu klären, was für eine juristi-
sche Aufarbeitung notwendig wäre. Klar ist aber, dass das Bundesgesundheits-
amt (BGA), die Hersteller und/oder die Behandler Verantwortung tragen und
nach Auffassung der Fragesteller auch übernehmen müssten.

Durch die Behandlung mit den dringend benötigten Medikamenten kam es zu
Infektionen mit HIV und HCV. Gerhard Scheu MdB (CSU), Vorsitzender des
o. g. Untersuchungsausschusses, ging in seiner gutachtlichen Stellungnahme
„Deliktische Produktverantwortung für Hepatitis-C-Infektionen hämophiler
Patienten“ davon aus, dass es bei Beachtung der geltenden Sicherheitsmaß-
nahmen zwar auch zu Infektionen gekommen wäre, jedoch das Infektionsrisiko
signifikant hätte gemindert werden können. Den Herstellern, dem BGA und
den Behandlern war das höhere Risiko laut Untersuchungsbericht bekannt.

Nach Ende 1982 hätte es durch die möglich gewordene Behandlung mit virus-
inaktivierten Präparaten zu nahezu keiner Infektion mehr kommen müssen. Das
BGA hat jedoch über mehrere Jahre versäumt, das Ruhen der Zulassung für
nicht-inaktivierte Präparate anzuordnen, so dass beide nebeneinander erhältlich
waren und genutzt wurden.

Für die HIV-Infizierten/AIDS-Erkrankten wurde 1995 ein Entschädigungs-
gesetz durch den Bundestag beschlossen. Für die durch Blutprodukte mit HCV
Infizierten jedoch gibt es in Deutschland bis heute keine gesetzliche Entschä-
digungsregelung. Die beiden Infektionen gelten mittlerweile als Haupttodes-
ursache bei der Gruppe der Bluter.

In vielen Ländern, z. B. in Großbritannien, Italien, Irland, Österreich, Spanien,
Schweden, Ungarn, zuletzt in Neuseeland und Kanada ist es gelungen, Entschä-
digungsregelungen für die HCV-Infizierten zu implementieren.

Die Bundesregierung stützt sich in ihrer Position gegen eine deutsche Entschä-
digungsregelung u. a. darauf, dass keine Amtspflichtverletzung vorliegt. Hierzu
gibt es jedoch nur ein Urteil des Landgerichts Berlin (vom 3. März 2004 – 23 O
156/03), das nach einem Gutachten von September 2007 der Rechtsanwälte
Hornischer und Kremer (Frankfurt/Main) aufgrund Verfahrensmängeln nicht
geeignet ist, eine Amtspflichtverletzung auszuschließen.

Als Begründung für die Einführung einer Entschädigungsregelung für HIV/
AIDS bei gleichzeitiger Ablehnung einer analogen Entschädigung bei HCV
führt die Bundesregierung an, dass eine HCV-Infektion weniger folgenreich für
die Betroffenen sei. Die Fragesteller verweisen jedoch darauf, dass eine chroni-
sche HCV-Infektion laut einer Langzeitstudie aus Österreich die Lebenserwar-
tung durchschnittlich um 18 Jahre senkt. Es ist also keineswegs von einer
folgenarmen Erkrankung auszugehen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Seit wann war dem BGA oder der Bundesregierung die erhöhte Gefährdung
von Patienten mit einer Blutgerinnungsstörung (insbesondere Hämophilie),
nach der Applikation von Faktorenkonzentraten an einer Hepatitis Non A
Non B zu erkranken, bekannt?

2. Wann, und welche Maßnahmen wurden vom BGA bzw. der Bundesregie-
rung unternommen, um zu verhindern, dass die Empfänger dieser Faktoren-
konzentrate in Deutschland mit einer Hepatitis Non A Non B infiziert wur-
den bzw. wann, und in welchem Umfang lagen dem BGA Informationen
über meldepflichtige Nebenwirkungen (Hepatitisinfektionen) nach der Gabe
von Faktorenkonzentraten vor?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6695

3. Seit wann ist dem BGA bzw. der Bundesregierung bekannt, dass bei den
aus den USA stammenden Blutprodukten, Blutspenden verwendet wurden,
die in Gebieten und aus Bevölkerungsgruppen mit einer hohen Hepatitis-
durchseuchung gewonnen wurden?

4. Welche Maßnahmen wurden durch das BGA bzw. der Bundesregierung
unternommen, um zu verhindern, dass Plasma in den USA von Spendern
mit einem erhöhten Infektionsrisiko von den Pharmafirmen zur Herstel-
lung der Faktorenkonzentrate verwandt und in Deutschland in Verkehr ge-
bracht wurde?

5. Welche Kontrollen wurden durch welche Einrichtung Ende der 1970er-
und zu Beginn der 1980er-Jahre durchgeführt, um sicherzustellen, dass alle
die in der Bundesrepublik seit 1976 vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnah-
men hinsichtlich Spenderselektion und Testung von Plasmen (ALT-Mar-
ker) auch tatsächlich erfolgt sind?

6. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass auch nach 1976 Blut und
Blutprodukte, die aus dem Ausland importiert wurden, in Deutschland
ohne den ALT-Test eingesetzt wurden?

7. Kann die Bundesregierung eine Risikominderung der Blutprodukte durch
den ALT-Test, der zu diesem Zweck 1976 in Deutschland für jedes in
Deutschland in Umlauf gebrachte Blutprodukt eingeführt wurde, nach dem
damaligen und/oder dem heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis
bestätigen oder zu 100 Prozent ausschließen?

8. Womit wird begründet, dass es von der Zulassung eines virusinaktivierten
Faktor-VIII-Präparates im Jahr 1981 bis zur verbindlichen Auflage von
Virusinaktivierungsmaßnahmen für Faktor-VIII-Präparate 1989 acht Jahre
dauerte und parallel nicht virusinaktivierte Faktorenkonzentrate massen-
haft in Verkehr gebracht wurden und somit ursächlich für eine Vielzahl von
HCV-Infektionen waren?

9. Womit wird begründet, dass es von der Zulassung eines virusinaktivierten
Faktor-IX-Präparates im Jahr 1976 bis zu Implemetierung eines Stufen-
plans am 11. Dezember 1988 zur verbindlichen Nutzung von Virusinakti-
vierungsmaßnahmen für Faktor-IX-Präparate zwölf Jahre dauerte?

10. Seit wann war dem BGA bekannt, dass Dr. E. Shambron bereits 1977 ein
der späteren SD-Methode (Solvent/Detergent) ähnliches Verfahren entwi-
ckelt hat, um das Risiko der Hepatitis-Übertragung zu eliminieren?

11. In welchem Zeitraum haben nach den Erkenntnissen der Bundesregierung
die meisten Infektionen stattgefunden?

12. Wurden die Patienten damals von den Herstellern auf das mögliche Risiko
eines Leberschadens hingewiesen, und falls ja, auf welche Weise, und
wann?

13. War ein Wissen über die Virusinaktivierung auch in der DDR vorhanden
und welche Maßnahmen zur Virusinaktivierung von Gerinnungspräparaten
waren in der DDR vorgeschrieben?

14. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass in der DDR noch
bis 1990 Hämophilie mit nicht virusinaktivierten Gerinnungspräparaten
(Kryopräzipitat) behandelt wurden?

15. Wann sind die einzelnen Hersteller der Forderung des BGA nachgekom-
men und haben das 1978 entwickelte Hitzeinaktivierungsverfahren einge-
setzt?

16. Wann sind zuletzt Blut oder Blutprodukte in den Umlauf gelangt, die nicht
das Hitzeinaktivierungsverfahren durchliefen?

Drucksache 16/6695 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
17. Worin sieht die Bundesregierung die Unterschiede und die Gemeinsamkei-
ten, die ursächlich zu den Übertragungen von HI-Viren und Hepatitis-Non
A/Non B-Viren durch Gerinnungspräparate führten?

18. Aus welchem Grund hat die Bundesregierung bislang keine humanitäre
Entschädigungsregelung für die durch Blutprodukte HCV-Infizierten ge-
schaffen, analog dazu, wie sie für die durch Blutprodukte mit HIV-Infizier-
ten besteht?

19. Beabsichtigt die Bundesregierung eine solche Entschädigungsregelung in
Angriff zu nehmen oder schließt sie dies kategorisch aus?

Welche Ereignisse müssten eintreten, damit die Bundesregierung sich an
einer Entschädigungsregelung beteiligen würde bzw. komplett finanzieren
würde?

20. Welche Staaten haben Entschädigungsregelungen für die angesprochenen
HIV- und/oder HCV-Infizierten geschaffen?

21. Worin sieht die Bundesregierung die Unterschiede und die Gemeinsamkei-
ten der Situation dieser Staaten im Verhältnis zu Deutschland, die die bis-
herige Ablehnung einer Entschädigungsregelung Deutschlands begründen?

22. Wie verteilen sich die Zahlungsverpflichtungen in diesen Ländern auf die
denkbaren Zahler (Staat, Pharmaindustrie, andere)?

23. Auf welche Höhe belaufen sich die Zahlungen?

24. Falls die Bundesregierung eine Regelung beabsichtigt, wann wird damit in
etwa zu rechnen sein?

25. Falls die Bundesregierung keine Regelung in Angriff nehmen will, warum
lehnt sie dies ab, trotz der durch den 3. Untersuchungsausschuss des
12. Deutschen Bundestages „HIV-Infektionen durch Blut und Blutpro-
dukte“ aufgezeigten Versäumnisse der Aufsichtsbehörden und der Er-
kenntnisse des ehemaligen MdB Scheu in seiner gutachtlichen Stellung-
nahme „Deliktische Produktverantwortung für Hepatitis-C-Infektionen
hämophiler Patienten“?

26. Ist der Bundesregierung das in der Vorbemerkung erwähnte Gutachten
zum Urteil des Landgerichts Berlin bekannt, und welche Schlussfolgerun-
gen zieht sie daraus für ihre Beurteilung der Staatshaftung?

27. Ist nach Auffassung der Bundesregierung ein Gericht, welches über ein
Thema, welches medizinisches Fachwissen erfordert, gehalten, medizini-
schen Sachverstand zu seiner Entscheidung hinzuzuziehen, und wie ist die
Beweisführung eines Verfahrens zu bewerten, wenn dies nicht erfolgt?

28. Wäre es für die Bundesrepublik, gerade auch im Kontext der vielen ande-
ren Staaten, die Entschädigungsregelungen geschaffen haben, auch jenseits
der Überlegungen um die Frage der Staatshaftung, angebracht, eine ent-
sprechende humanitäre Regelung einzuführen?

Berlin, den 10. Oktober 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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