BT-Drucksache 16/6645

Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in der Unfallversicherung

Vom 10. Oktober 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6645
16. Wahlperiode 10. 10. 2007

Antrag
der Abgeordneten Heinz-Peter Haustein, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika
Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van
Essen, Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen,
Dr. Wolfgang Gerhardt, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Joachim Günther
(Plauen), Elke Hoff, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Hellmut Königshaus,
Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald
Leibrecht, Ina Lenke, Michael Link (Heilbronn), Markus Löning, Horst Meierhofer,
Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Detlef Parr, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina Schuster, Dr. Hermann
Otto Solms, Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Christoph Waitz, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Martin Zeil, Dr. Guido Westerwelle und der
Fraktion der FDP

Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in der Unfallversicherung

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Um dem Ziel einer qualitativ hochwertigen, auch im demografischen Wandel
finanzierbaren Unfallversicherung gerecht zu werden, müssen Wettbewerb und
Kapitaldeckung in der gesetzlichen Unfallversicherung eingeführt werden.

Aufgrund mangelnden Wettbewerbs in der gesetzlichen Unfallversicherung
kommt es trotz seit Jahren abnehmender Unfallzahlen nicht zu nachhaltigen
Beitragssenkungen. So hat sich die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle
seit ihrem Höchststand im Jahr 1960 bis zum Jahr 2005 mehr als halbiert (von
2,71 Millionen auf 1,03 Millionen), während der durchschnittliche Beitragssatz
im gleichen Zeitraum nur um 13 Prozent (von 1,51 auf 1,33 Prozent) gesunken
ist. Seit 1991 sank die Zahl der Arbeitsunfälle um 49 Prozent, der durchschnitt-
liche Beitragssatz in der Unfallversicherung in diesem Zeitraum im Durch-
schnitt aber nur um 6 Prozent.

Grund für diese Entwicklung ist, dass die Struktur der Unfallversicherung seit
ihrer Einführung 1884 im Wesentlichen unverändert geblieben ist und den

Berufsgenossenschaften eine Monopolstellung im Versicherungsmarkt für Ar-
beitsunfälle, Berufskrankheiten und Wegeunfälle sowie auch für Rehabilitation
und Prävention reserviert. Die branchenspezifische Gliederung führt dazu, dass
ein Lastenausgleichsverfahren zwischen den verschiedenen Branchen erforder-
lich ist. Das gegenwärtige Verfahren ist dabei reformbedürftig.

Um dem Ziel einer auch im demografischen Wandel finanzierbaren Unfallver-
sicherung gerecht zu werden, muss die gesetzliche Unfallversicherung eine

Drucksache 16/6645 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

stärkere Kapitaldeckung aufbauen. Die Unfallversicherung ist gegenwärtig im
Umlageverfahren organisiert. Daher wird auch sie von der sich beschleunigen-
den Alterung der Gesellschaft betroffen und zu steigenden Kosten für die
Unternehmen führen, wenn nicht möglichst schnell zumindest ein teilweise
kapitalgedecktes System eingeführt wird.

Die gesetzliche Unfallversicherung bedarf daher einer grundlegenden Reform
im Sinne der nachfolgenden Ausführung.

I. Leitgedanken

Der Unfallversicherungsmarkt soll im Bereich Versicherungsleistungen für Ar-
beitsunfälle durch private Versicherungsunternehmen abgedeckt und somit
wettbewerbsorientierter gestaltet werden. In der Folge werden für den Bereich
der Arbeitsunfälle risikoadäquatere Beitragsbemessungen erreicht und der An-
reiz zu Prävention erhöht. Berufskrankheiten werden weiterhin über die Berufs-
genossenschaften abgesichert. Die volle Haftungsablösung des Unternehmers
bleibt erhalten.

Rentenlasten, die bis zum Stichtag der Öffnung der Unfallversicherung für pri-
vate Versicherer entstanden sind, werden je nach Branche getragen. Ein trans-
parentes neues Lastenausgleichsverfahren sorgt dafür, dass Branchen, die ei-
nem starken Strukturwandel unterlagen, in ihren Altlastenzahlungen unterstützt
werden.

Der Leistungskatalog soll künftig gerechter sein und Schwerverletzte mit wirk-
lichem Verdienstausfall besser entschädigen als gegenwärtig. Dafür wird künf-
tig bei Arbeitsunfällen zwischen Gesundheits- und Erwerbsminderungsschaden
unterschieden. Den Gesundheitsschaden erhält jeder Verletzte ersetzt. Der Aus-
gleich für Erwerbsminderungsschaden richtet sich künftig an der realen Ein-
kommensminderung aus. So kann der schwer Geschädigte mehr erhalten als
heute.

Schwarzarbeit wird bekämpft. Vor Arbeitsantritt ist für jeden Beschäftigten un-
bürokratisch dessen Name und Geburtsdatum sowie den Zeitpunkt des Arbeits-
anfangs an die Einzugstelle zu übermitteln. Andernfalls kann der Versicherer
vollen Rückgriff auf den Unternehmer nehmen.

II. Die Organisation der Unfallversicherung

1. Mit der freien Wahl des Unfallversicherers zu mehr Wettbewerb

Die Unternehmen sind verpflichtet, Arbeitsunfälle bei einem privaten Unfall-
versicherer ihrer Wahl zu versichern. So wird der Markt der Unfallversicherung
für mehr Wettbewerb und Wahlrechte geöffnet.

Das Berufskrankheitsrisiko wird weiter bei den Berufsgenossenschaften versi-
chert. Grund dafür ist, dass insbesondere Berufskrankheiten mit oftmals langen
Latenzzeiten in ihrer Entstehung nicht einer bestimmten Arbeitsphase zugeord-
net werden können und so eine private Absicherung schwerer fällt als bei Ar-
beitsunfällen.

Die Unternehmen zahlen neben der normalen Unfallversicherungsprämie für
die bestehenden Altlasten in einen Altlastenfonds ein, wie er nach dem Vor-
schlag unter II.5 einzurichten ist.

2. Stärkere Anreize in der Präventionsarbeit setzen

Die Präventionsarbeit für Arbeitsunfälle wird durch die privaten Anbieter und
für Berufskrankheiten durch die Berufsgenossenschaften wahrgenommen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6645

Durch die private Versicherung für Arbeitsunfälle gewinnt die Prävention im
Unternehmen an Bedeutung, denn die Prämien für die Unfallversicherung hän-
gen in einer privaten Versicherung unmittelbarer als im gegenwärtigen Bei-
tragsfestlegungsverfahren nach Gefahrklassen vom Unfallgeschehen in den Be-
trieben ab.

3. Hohe Leistungsstandards in Heilbehandlung und in der Rehabilitation

Die Finanzierung der Heilbehandlung und Rehabilitation erfolgt für Arbeits-
unfälle durch die privaten Versicherungsunternehmen, für Berufskrankheiten
durch die Berufsgenossenschaften. Kliniken für Heilbehandlung und Rehabili-
tation müssen einen hohen Leistungsstandard nachweisen.

4. Reformen innerhalb der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung

Die Zahl der öffentlichen Unfallkassen sollte auf höchstens 16 öffentliche Un-
fallkassen reduziert werden.

Die Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften sollte weiter wie von der
Selbstverwaltung vorgeschlagen reduziert werden.

Unternehmen mit Beteiligung der öffentlichen Hand, die im Wettbewerb mit
privaten Unternehmen stehen, wie beispielsweise die Post oder Telekom, sollen
nicht weiter bei den öffentlichen Unfallkassen versichert sein und dadurch ge-
genüber privaten Konkurrenten wirtschaftliche Vorteile erhalten. Sie sind daher
künftig bei den Berufsgenossenschaften für Berufskrankheiten und privaten
Anbietern für Arbeitsunfälle zu versichern. So wird gewährleistet, dass Unter-
nehmen mit öffentlicher Beteiligung, die in Konkurrenz mit privaten Unterneh-
men stehen, am Altlastenausgleich beteiligt werden, was zu fairen Wettbe-
werbsbedingungen führt.

5. Die Finanzierung von Altlasten und der neue Lastenausgleich

Die bis zum Umstellungszeitpunkt entstandenen Rentenlasten für Unfallrenten
werden nach bestehendem System nach Branchen getragen.

Da dies einige Branchen deutlich überlasten würde, werden die bestehenden
Rentenlasten über einen Lastenausgleich zwischen den Unfallversicherungsträ-
gern ausgeglichen. Der Altlastenausgleich erfolgt dabei im Grundsatz nach
dem aktuellen Vorschlag des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenos-
senschaften (BGen).

Danach müssen die BGen Lasten in der Höhe tragen, die sie zu tragen hätten,
wenn die aktuelle Gewerbezweigstruktur (Unfallgefahr und daraus resultie-
rende Rentenzahlungen, Entgelte, Lohnniveau) schon immer so gewesen wäre
wie im laufenden Geschäftsjahr. Es wird errechnet, welche Lasten (Kosten für
Unfallrenten) die Unternehmen einer Branche in den letzten 5 Jahren verur-
sacht haben (Rentenneuwert). Diese Lasten, die auf den gesamten Zeitraum
laufender Rentenlasten hochgerechnet werden, haben die Branchen selbst zu
tragen.

Ergibt sich im Vergleich mit den tatsächlichen Gesamtrentenlasten, dass eine
Branche mehr als diese hochgerechneten Lasten zu tragen hat, wird eine „Über-
altlast“ festgestellt. Eine Überaltlast wird sich ergeben, wenn eine Branche eine
stark schrumpfende Zahl an Arbeitsplätzen aufweist oder ihre Präventionsbe-
mühungen sehr erfolgreich sind.

Überaltlasten werden auf alle BGen nach einem bestimmten Schlüssel (50 Pro-
zent Entgeltsumme der BGen zum Umstellungszeitpunkt auf das neue Aus-
gleichssystem, 50 Prozent Rentenneuwert) verteilt. Mit einem solchen Vertei-

lungsschlüssel führt die Verteilung der Altlasten nicht zu überproportionalen
Belastungen von Branchen.

Drucksache 16/6645 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Der neue Altlastenausgleich wird in einem Übergangszeitraum von 8 Jahren
eingeführt.

III. Der neue Leistungskatalog

1. Konkrete Berechnung von Gesundheits- und Erwerbsschaden

Gesundheits- und Erwerbsminderungsschaden werden künftig getrennt berech-
net. Dies ermöglicht eine zielgenauere und gerechtere Bemessung des Aus-
gleichs für Unfallverletzungen.

Der Erwerbsminderungsschaden wird über eine Erwerbsminderungsrente aus-
geglichen, die sich über eine konkrete Ermittlung des Erwerbseinkommens
ermittelt. Bisher wird die Erwerbsminderungsrente über eine abstrakte Be-
rechnung festgelegt. So erhalten Versicherte, die keine Einkommenseinbuße
erleiden, zu viel und wirklich Schwerverletzte mit hoher Einkommenseinbuße
zu wenig Ausgleich. Im Zuge der konkreten Berechnungsweise sollen die Ren-
ten für wirkliche Einkommenseinbußen und Schwerverletzte steigen. Eine Ab-
findung von Erwerbsminderungsrenten sollte bei einer Schädigung von unter
40 Prozent möglich sein.

Der Gesundheitsschadensausgleich ist einkommensunabhängig. Vorausset-
zung hierfür ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 Prozent oder mehr.
Unterhalb von 50 Prozent soll der Gesundheitsschadensausgleich in Form einer
Abfindung erfolgen. Eine Abfindung und deren Umlegen auf die Beiträge ist
auf der Beitragsseite generationengerechter, weil dadurch die Kosten zu einem
größeren Teil durch die gegenwärtigen Kostenverursacher getragen werden.

2. Vorrang der Alters- vor der Unfallrente bei Beitragszahlungen

Ab Erreichen des regulären Renteneintrittsalters hat die Altersrente Vorrang vor
der Unfallversicherungsrente. Die Unfallversicherung zahlt für die Altersrente
Beiträge bis zum Erreichen des regulären Renteneintrittsalters. Die Rentenbei-
träge bemessen sich nach dem Einkommen, das für die Berechnung der Er-
werbsminderungsrente zugrunde gelegt wird.

So wird eine klarere Trennung von Kosten, die durch Betriebsrisiken und durch
allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen – wie der Alterung der Gesell-
schaft – entstehen, erreicht. Nicht die Unfallversicherung, sondern die zustän-
dige Rentenversicherung trägt die Kosten der alternden Gesellschaft.

3. Wegeunfälle neu regeln

Wegeunfälle sind kein Teil des spezifischen Arbeitsplatzrisikos, sondern Teil
des allgemeinen Lebensrisikos und daher künftig nicht mehr verpflichtend vom
Arbeitgeber im Rahmen der Unfallversicherung zu versichern. Arbeitgebern
und Arbeitnehmern steht es offen, Wegeunfälle über die privaten Unfallver-
sicherungsanbieter zu versichern.

4. Schwarzarbeit vermeiden

Zur Eindämmung der Schwarzarbeit muss spätestens unmittelbar vor Beschäf-
tigungsbeginn eine formlose Kurzmitteilung an den zuständigen Träger der
Unfallversicherung ergehen, die den Namen, Geburtsdatum, Beschäftigungs-
beginn und Tätigkeit des Beschäftigten beinhaltet. Verstößt ein Unternehmen
gegen diese Vorschrift, kann der Unfallversicherungsträger bei dem betreffen-
den Unternehmen für alle Kosten Regress nehmen, die ihm durch die medizini-
sche Behandlung der nicht gemeldeten, beschäftigten Arbeitnehmer entstanden
sind.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/6645

IV. Die landwirtschaftliche Unfallversicherung

Eine zukunftsfeste und generationengerechte Reform der landwirtschaftlichen
Unfallversicherung ist angesichts des dramatischen Strukturwandels in der
Landwirtschaft nur möglich bei der Umstellung vom Umlage- auf das Kapital-
deckungsverfahren. Da in der Landwirtschaft die Altlastenproblematik als
gesamtgesellschaftliches Vermächtnis gesehen werden muss, ist in diesem
Bereich anders als in der allgemeinen Unfallversicherung die finanzielle Betei-
ligung des Bundes gefordert.

Grundsätzlich ist aufgrund der besonderen Situation in der Landwirtschaft die
Eigenständigkeit der landwirtschaftlichen Unfallversicherung zu wahren. Aller-
dings ist eine Organisationsreform nötig. So sollten Bundes- und Querschnitts-
aufgaben komplett auf eine zentrale Spitzenorganisation verlagert werden,
gleichzeitig aber regionale Stellen vor Ort die dezentrale Arbeit leisten.

Sowohl der Leistungskatalog als auch die Beitragserhebung sind zu reformie-
ren. Auch in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung sind die Trennung
von Gesundheits- und Erwerbsminderungsschaden sowie der Vorrang der
Alters- vor der Unfallrente nach Erreichen des regulären Rentenzugangsalters
sinnvoll.

Berlin, den 10. Oktober 2007

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.