BT-Drucksache 16/6637

Novellierung des Stammzellgesetzes - Chancen für Forschung

Vom 10. Oktober 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6637
16. Wahlperiode 10. 10. 2007

Antrag
der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika
Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Jörg van Essen, Paul K. Friedhoff,
Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann,
Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Birgit
Homburger, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich
L. Kolb, Gudrun Kopp, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht,
Ina Lenke, Michael Link (Heilbronn), Markus Löning, Horst Meierhofer, Patrick
Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Detlef Parr, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms,
Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff
(Rems-Murr), Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Novellierung des Stammzellgesetzes – Chancen für Forschung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Stammzellforschung hat sich seit der Verabschiedung des Stammzell-
gesetzes im Januar 2002 sehr intensiv entwickelt. Das gilt sowohl für die gewe-
bespezifischen adulten Stammzellen, aber vor allem für das Gebiet der humanen
embryonalen Stammzellen (HES-Zellen). Weltweit werden neue Ergebnisse er-
zielt, wissenschaftliche Studien abgeschlossen und die Erkenntnisse über die
Möglichkeiten der Nutzung von Stammzellen für die medizinische Forschung
verbessert. Neben der offenkundigen Bedeutung der Stammzellforschung für
die Grundlagenforschung besteht die berechtigte Hoffnung, dass Stammzellen
als Basis für die Therapie heute noch nicht behandelbarer Krankheiten dienen
können. Dies hat auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in ihrer
Stellungnahme vom Oktober 2006 bestätigt.

Die DFG-Stellungnahme kommt zu dem Schluss, dass es zwar sowohl zu adul-
ten als auch zu embryonalen Stammzellen neue Erkenntnisse gibt, dass adulte
Stammzellen, im Gegensatz zu HES-Zellen, nur ein eingeschränktes Potenzial
zur Vermehrung und Ausdifferenzierung in unterschiedliche Gewebetypen
besitzen. Darüber hinaus bleibt unklar, ob die Probleme zur Gewinnung von
bestimmten Typen adulter Stammzellen gelöst werden können. Weiterhin be-

steht bei adulten Stammzellen, ebenso wie bei HES-Zellen, das Problem der
Induktion von genetischen und epigenetischen Veränderungen. Hoffnungen auf
funktionelle Gleichwertigkeit beider Zelltypen haben sich entgegen den Erwar-
tungen von 2001 bisher nicht erfüllt.

Die Wissenschaft in Deutschland kann zur Forschung an humanen embryonalen
Stammzellen nur einen begrenzten Beitrag leisten. Nach dem seit 1991 gelten-
den Embryonenschutzgesetz ist die Etablierung humaner embryonaler Stamm-

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zelllinien (HES-Linien) in Deutschland strafrechtlich untersagt. Das Stammzell-
gesetz erlaubt im Ausnahmefall den Import von HES-Linien, wenn diese vor
dem 1. Januar 2002 im Ausland etabliert worden sind. Dabei müssen solche Li-
nien von sog. überzähligen Embryonen bei künstlichen Befruchtungen stam-
men, also von solchen Embryonen, die für Fortpflanzungszwecke erzeugt wor-
den sind, aber endgültig nicht mehr auf eine Frau übertragen werden können.

Damit sind Wissenschaftler in Deutschland von HES-Linien abgeschnitten, die
neueren Datums als 2002 sind. Die internationale Forschung arbeitet aber längst
erfolgreich mit neueren Linien; viele Publikationen erscheinen zu Linien, die
nach dem deutschen Stichtag etabliert wurden. Dies wird auch im Rahmen eu-
ropäischer und internationaler Forschungskooperation ein Hindernis für die Zu-
sammenarbeit deutscher Forscher mit ihren ausländischen Kollegen.

Der Fortschritt auf dem Gebiet der Stammzellforschung ist nur mit dem hohen
finanziellen Engagement zahlreicher Länder möglich. Die USA, insbesondere
Kalifornien, Singapur, Australien, Großbritannien, Israel oder die Skandina-
vischen Länder investieren erhebliche Summen in diesen Forschungszweig.
Dabei werden die Rahmenbedingungen für die Forschung in jedem Land anders
geregelt und sind durch unterschiedliche soziokulturelle, religiöse und ethisch-
moralische Traditionen bestimmt. Überall geht es um die schwierige Abwägung
zwischen der Freiheit der Forschung und dem Embryonenschutz, die zu unter-
schiedlichen Regelungen führt, wobei die deutsche Regelung zu den restriktivs-
ten der großen Forschungsnationen gehört.

Das Stammzellgesetz, das der Deutsche Bundestag im Januar 2002 verabschie-
det hat, stellte einen Kompromiss dar, der sowohl der Forschungsfreiheit nicht
alle Türen verschließt, als auch den Embryonenschutz weitestgehend gewähr-
leisten sollte. Die Importregelung mit dem Stichtag war dem Grundsatz „für
deutsche Forschung soll kein Embryo sterben“ verpflichtet. Mit dem Kompro-
miss des Stammzellgesetzes hat der Gesetzgeber versucht, einen Konflikt recht-
lich zu lösen, in dem die Gesellschaft moralisch gespalten ist.

Damals wie heute stellt niemand das Ziel, mit embryonalen Stammzellen Wege
zur Therapie bisher nicht therapierbarer Erkrankungen zu finden, infrage. Die-
ses Ziel ist allerdings unter den gegenwärtigen rechtlichen Rahmenbedingungen
für Wissenschaftler in Deutschland nicht erreichbar. Zudem sorgt die Strafbar-
keit der Mitwirkung an Forschungen mit HES-Linien im Ausland, die nach dem
1. Januar 2002 etabliert worden sind, für eine Zurückhaltung deutscher Wissen-
schaftler bei Kooperationsprojekten mit ausländischen Kollegen. Gerade die
international vernetzte Stammzellforschung benötigt aber die Kooperation ver-
schiedener Wissenschaftler.

Zudem haben sich neue Anwendungsmöglichkeiten, basierend auf HES-Zellen
und -Zellprodukten für den Einsatz in der Zelltherapie, Biotechnologie und
Pharmakologie ergeben. Diese Anwendungsmöglichkeiten sind durch die Be-
schränkungen der Importgründe im Stammzellgesetz beschränkt.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat in ihrer Stellungnahme vom Oktober
2006 die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Stammzellforschung
empfohlen. Dazu sollten der deutschen Forschung auch neuere, nach 2002 im
Ausland hergestellte und etablierte Stammzelllinien zugänglich gemacht wer-
den, die Strafandrohung für deutsche Wissenschaftler abgeschafft und die Ein-
fuhr von Zelllinien auch dann erlaubt werden, wenn diese für diagnostische, prä-
ventive und therapeutische Zwecke verwendet werden.

Der Nationale Ethikrat hat in seiner Stellungnahme vom 16. Juli 2007 nach um-
fassender Erörterung rechtlicher und ethisch-moralischer Fragen die Empfeh-
lung ausgesprochen, den Stichtag abzuschaffen und durch eine Einzelfallprü-

fung zu ersetzen. Er hat dabei darauf Bezug genommen, dass hinter der Verab-
schiedung des Stammzellgesetzes der politische Wille stand, die normativen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6637

Grundlagen des Embryonenschutzgesetzes zu erhalten, aber die Forschung an
HES-Zellen nicht gänzlich zu verbieten. Dies würde auch ohne einen festen
Stichtag erreicht, wenn im Rahmen einer Einzellfallprüfung durch die Genehmi-
gungsbehörde hinreichend festgestellt werden kann, dass die Herstellung der be-
treffenden Zellen weder vom Antragsteller selbst veranlasst noch sonst von
Deutschland aus bewirkt wurde. Dies hat die Mehrheit der Mitglieder des Ethik-
rates vorgeschlagen.

Der Nationale Ethikrat hat weiterhin empfohlen, dass grundsätzlich nur embry-
onale Stammzellen importiert und verwendet werden dürfen, die von allgemein
zugänglichen Stammzellbanken ohne Absicht der Gewinnerzielung abgegeben
werden.

Aufgrund der bereits heute bestehenden Anwendungsmöglichkeiten für HES-
Zellen sollten die Importgründe auch auf diagnostische, präventive und thera-
peutische Zwecke erweitert werden. Es ist – auch aus ethisch-moralischer Sicht-
weise – nicht nachvollziehbar, dass der Import von HES-Zellen, die ohne Zutun
deutscher Wissenschaftler entstanden sind, für die Forschung möglich ist, aber
nicht für therapeutische oder diagnostische Zwecke. Wenn diese Zellen im Aus-
land ohnehin existieren, sollte man sie auch für weitere medizinische Zwecke
importieren dürfen.

Die Strafvorschriften im Stammzellgesetz stellen eine überflüssige Verschär-
fung dar, die zu Rechtsunsicherheit bei deutschen Wissenschaftlern geführt und
Kooperationen faktisch erschwert hat. Die nach dem Embryonenschutzgesetz
geltenden Bestimmungen für Handlungen im Inland bleiben auch nach einer
Streichung der Strafvorschriften im Stammzellgesetz wirksam. Damit wird das
Ziel, zu verhindern, dass ausländische Embryonen für die deutsche Forschung
verbraucht werden, erreicht.

Der Eingriff in ein hochrangiges Rechtsgut wie die Forschungsfreiheit lässt sich
aber nicht durch eine Ausweitung der Strafvorschriften auf das Ausland recht-
fertigen. In Ländern, in denen die Forschung an embryonalen Stammzellen er-
laubt ist, auch wenn sie nach dem deutschen Stichtag etabliert worden sind, kann
dieses Schutzgut ohnehin nicht durchgesetzt werden. Der Lebensschutz des Em-
bryos ist im Ausland gerade nicht gewährleistet, unabhängig von der Mitwir-
kung deutscher Wissenschaftler. Zudem herrscht erhebliche Rechtsunsicherheit,
wie weit der Begriff der „Mitwirkung“ auszulegen ist. Eine klare Bezugnahme
des Stammzellgesetzes auf Strafbarkeit im Inland würde hier Klarheit schaffen.

Gerade die jüngsten Stellungnahmen von DFG und Nationalem Ethikrat, aber
auch die Erfahrungen der Wissenschaftler im Rahmen der Zusammenarbeit im
7. Forschungsrahmenprogramm der EU und die weltweite Entwicklung der
Stammzellenforschung zeigen, dass eine Änderung des Stammzellgesetzes nicht
nur wissenschaftlich geboten, sondern auch ethisch-moralisch vertretbar ist,
ohne die Substanz des Embryonenschutzgesetzes anzutasten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

das Stammzellgesetz soll wie folgt geändert werden:

1. Die Stichtagsregelung in § 4 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a wird gestrichen.

2. Im Rahmen des Genehmigungsverfahrens müssen im Rahmen einer Einzel-
fallprüfung nicht nur die Hochrangigkeit der Forschung geprüft werden, son-
dern es muss nach Auffassung der Genehmigungsbehörde hinreichend fest-
stehen, dass die Herstellung der betreffenden Zellen weder vom Antragsteller
selbst veranlasst noch sonst von Deutschland aus bewirkt wurde. Wenn dies
festgestellt werden kann, soll der Import genehmigt werden.

Drucksache 16/6637 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
3. Die Strafvorschriften des Stammzellgesetzes sollen entfallen. Der Geltungs-
bereich des Stammzellgesetzes soll eindeutig auf das Inland bezogen werden.

4. Die Einfuhr von Zelllinien soll auch dann erlaubt werden, wenn diese für
diagnostische, präventive und therapeutische Zwecke verwendet werden.

Berlin, den 10. Oktober 2007

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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