BT-Drucksache 16/6607

Angebot und Qualität der Kindertagesbetreuuung schneller und verlässlicher ausbauen - Realisierung nicht erst 2013

Vom 10. Oktober 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6607
16. Wahlperiode 10. 10. 2007

Antrag
der Abgeordneten Ekin Deligöz, Grietje Bettin, Kai Gehring, Katrin Göring-Eckardt,
Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Angebot und Qualität der Kindertagesbetreuung schneller und verlässlicher
ausbauen – Realisierung nicht erst 2013

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die aktuellen Pläne der Bundesregierung zum Ausbau der Kindertagesbetreu-
ung für unter Dreijährige haben für einen zusätzlichen Schub in den öffentlichen
Debatten zur Familien-, Bildungs- und Frauenpolitik gesorgt. Mit ihnen findet
der von der Vorgängerregierung eingeleitete familienpolitische Paradigmen-
wechsel mit Schwerpunktsetzung auf dienstleistungsbasierte Fördermaßnahmen
erklärtermaßen seine Fortsetzung.

Bund, Länder und Kommunen müssen in einer gemeinsamen Anstrengung dafür
sorgen, dass rasch ein breites Angebot an qualitativ hochwertigen Betreuungs-
plätzen entsteht. Deutschland hat auf diesem Feld weiterhin dringenden Nach-
holbedarf. Eine gut ausgebaute Betreuungsinfrastruktur macht die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf für viele Mütter und Väter erst lebbar. Und sie ist ein zen-
trales Instrument, um Kinder, die von ihren Eltern wenig unterstützt werden,
frühzeitig individuell zu fördern und so den negativen Zusammenhang zwischen
familiärem Hintergrund und Bildungserfolg zu durchbrechen.

Vor diesem Hintergrund sind die Pläne der Bundesregierung jedoch in vielen
Belangen noch unausgegoren und zu zaghaft angelegt. Notwendig und auch
leistbar wäre eine schnellere und frühzeitig verbindliche Umsetzung. So ent-
stünde für junge Eltern oder junge Menschen mit Kinderwunsch endlich Sicher-
heit, dass sie schon bald mit verlässlicher Unterstützung in der frühen Erzie-
hungsphase rechnen könnten. Der angekündigte Betreuungsausbau soll nach
Willen der Bundesregierung bis 2013 realisiert werden. Zusätzlich soll zum
Herbst 2013 ein Rechtsanspruch für Kinder zwischen dem vollendeten ersten
und dem dritten Lebensjahr Gesetzeskraft erlangen. Das ist zu spät. Die Betreu-
ungslücke nach Ablauf des Elterngeldbezuges muss deutlich schneller geschlos-
sen werden. Sonst werden Eltern, die jetzt erstmals Elterngeld beziehen, erst
einen Betreuungsplatz bekommen, wenn ihre Kinder bereits in der Schule sind.

Der mangelnde politische Wille bei Bund, Ländern und Kommunen, das Ange-
bot an Betreuungsplätzen rasch auszuweiten, konterkariert in eklatanter Weise
die Ziele des Elterngelds. Statt sich monatelang darüber zu streiten, wie und ge-
mäß welcher Verteilung die zusätzlichen Mittel des Bundes an die Kommunen
fließen könnten oder auch in welcher Höhe sich die Länder denn einmal beteili-
gen wollen, sollte mit Hochdruck an verbindlichen Ausbaukonzepten vor Ort
gearbeitet werden.

Drucksache 16/6607 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Sinnvoll wäre, besonders im Interesse der jungen Familien, ein zweistufiger,
beschleunigter Ausbau. In einem bis Ende 2007 abzuschließenden Gesetzes-
verfahren ist zweierlei festzulegen. Für die mit dem Tagesbetreuungsausbau-
gesetz (TAG) konkretisierten Bedarfskriterien für den Betreuungsausbau unter
Dreijähriger wird erstens ein sogenannter konditionierter Rechtsanspruch ge-
setzlich verankert, der im Herbst 2009 voll wirksam werden soll. So wird sicher-
gestellt, dass die Kommunen die bereits seit Anfang 2005 bestehende gesetz-
liche Ausbauverpflichtung verbindlich erfüllen. Zweitens wird ein allgemeiner
Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung für Kinder zwischen vollendetem ers-
ten und dem dritten Lebensjahr gesetzlich verankert.

Der von der Bundesregierung geplante Bundesanteil an der Finanzierung und
gegebenenfalls der Länder sollte höher ausfallen. Damit verringerten sich zu-
sätzlich notwendige Aufwendungen für die Kommunen erheblich. Es ist zu kon-
zedieren, dass sie im Bereich der Jugendhilfe ohnehin schon jetzt an der Grenze
ihrer Leistungsfähigkeit agieren. Damit die Bundesbeteiligung auch sicher im
Kindertagesbetreuungssystem ankommt, sollen die Bundesmittel als zweck-
gebundene Geldleistung an die Eltern ausgereicht werden. Letztere leiten die
Zuweisung bei Inanspruchnahme der Kindertagesbetreuung an den An-
gebotsträger weiter. Trotz des zusätzlichen Engagements des Bundes sind die
Länder nicht aus der Pflicht entlassen sich selber am Ausbau und besonders bei
Verbesserung und Sicherung der Angebotsqualität zu beteiligen. Sie sollten in
entsprechendem Maße wie der Bund verbindliche Schritte unternehmen, um den
Platzausbau zu sichern sowie die allseits geforderte hochwertige Qualität von
Pädagogik und Bildung im System zu erreichen.

Bund, Länder und Kommunen sollen ferner unverzüglich Verhandlungen auf-
nehmen mit dem Ziel, in absehbarer Zeit den gesetzlichen Rechtsanspruch auf
Kindertagesbetreuung für Kinder bis zur Einschulung auf ganztägige Betreuung
auszuweiten. Denn noch immer zeigt sich, dass in zahlreichen Bundesländern
ein Großteil des Angebotes keine ganztägige Betreuung umfasst. Auch das ist
jedoch zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie zur Ausschöp-
fung des Förderpotentials des Angebotes bedeutsam.

Der Deutsche Bundestag betont ferner mit Nachdruck, dass zusätzlich zur
Angebotsausweitung aber auch vielfältige Anstrengungen zur Stärkung von
pädagogischer und Bildungsqualität der Angebote notwendig sind. Die Not-
wendigkeit, im gesamten Elementarbereich ein möglichst hochwertiges Ange-
bot bereitzustellen, wird allenthalben proklamiert. Gleichzeitig ist es fachlich
weitgehend unstrittig, dass die pädagogische und Bildungsqualität im Schnitt
noch deutlich verbesserungswürdig ist. Die Bundesregierung sollte deshalb ihre
Anstrengungen nicht allein auf den Platzausbau im Krippenbereich beschrän-
ken, sondern mit Ländern und Kommunen erforderliche Maßnahmen zur Quali-
tätssteigerung auf den Weg bringen.

Nur mit mehr Entschlossenheit und einem umfassenden Maßnahmenpaket wird
es gelingen, die langwährende Infrastrukturschwäche in Deutschland maßgeb-
lich zu beheben, Anschluss an die internationale Spitze in diesem Bereich zu
erlangen und damit das Gesamtziel einer optimalen Förder- und Bildungs-
infrastruktur für Kinder und Familien zu erreichen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in dem bevorstehenden Gesetzesverfahren zum Ausbau der Kindertages-
betreuung für Kinder zwischen dem vollendeten ersten bis zum dritten Le-
bensjahr im Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) einen konditionier-
ten Rechtsanspruch bezogen auf die Bedarfskriterien in § 24 Abs. 3 zum
1. Oktober 2009 sowie einen allgemeinen Rechtsanspruch für Kinder dieser

Altersklasse zum 1. Oktober 2011 zu verankern;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6607

2. in dem bevorstehenden Gesetzesverfahren zum Ausbau der Kindertages-
betreuung für Kinder zwischen dem vollendeten ersten bis zum dritten Le-
bensjahr den Bundesanteil bei der Finanzierung der Betriebskosten zu Guns-
ten der Kommunen zu erhöhen. Um einen zielgenauen Einsatz dieser Mittel
zu gewährleisten, ist die Einführung einer zweckgebundenen Geldleistung
– zum Beispiel mit Hilfe einer Kinderbetreuungskarte – für den Finanztrans-
fer über die Eltern in das Betreuungssystem einzuführen. Gegenzufinanzie-
ren ist das über die Umwandlung des Ehegattensplittings in eine Individual-
besteuerung mit übertragbarem Höchstbetrag. Daraus resultierende staatliche
Minderausgaben sind von Bund, Ländern und Kommunen verbindlich in den
mengenmäßigen und qualitativen Ausbau der Betreuungsinfrastruktur zu lei-
ten;

3. im Zuge der gegenwärtigen Verhandlungen zum Betreuungsausbau mit den
Ländern dafür Sorge zu tragen, dass der Rechtsanspruch auf Kindertages-
betreuung für unter Dreijährige sowie mittelfristig für Kinder zwischen drei
und sechs Jahren ein ganztägiges Angebot umfasst;

4. die gegenwärtigen Ausbaubemühungen auch dahingehend zu nutzen, ent-
scheidende Schritte zu Qualitätsverbesserungen verbindlich mit den Ländern
zu vereinbaren. Dazu gehört

a) die flächendeckende Verbesserung der Strukturqualität der Angebote;

b) die qualitative Anhebung der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher
auf Hochschulniveau, um in den vorschulischen Einrichtungen perspekti-
visch einen Personal-Mix zu etablieren;

c) die Verankerung einer verbindlichen Grundqualifizierung von Kinder-
tagespflegekräften und die Schaffung adäquater Weiterbildungsmöglich-
keiten;

d) die Erweiterung von Kindertageseinrichtungen zu Eltern-Kind-Zentren
als Regelangebot anzustreben;

e) die Gewährleistung einer gesunden, ausgewogenen und kindgerechten
Verpflegung innerhalb der institutionellen Betreuungsangebote;

f) die Vereinbarung über qualitative Grundstandards im Elementarbereich.
Zudem ist zu prüfen, inwieweit Qualitätsmanagementsysteme, wie Güte-
siegel oder Zertifizierungsverfahren, für die Kindertagesbetreuung in Ein-
richtungen und in der Kindertagespflege verbindlich und flächendeckend
eingeführt werden können;

g) die Entwicklung einer umfassenden Initiative, um die vielfältigen Ange-
bote der Familienbildung mit mehr Ressourcen auszustatten, besser mit-
einander und mit angrenzenden Bereichen wie der Erwachsenenbildung
oder Gesundheitsaufklärung zu vernetzen und die Zugänge zu den Ange-
boten zu verbessern.

Berlin, den 10. Oktober 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Drucksache 16/6607 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

Mit ihrer Ankündigung vom Februar dieses Jahres, ein Aufstocken des Be-
treuungsangebotes für unter Dreijährige auf bundesweit 750 000 Plätze zu ver-
anlassen, hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Dr. Ursula von der Leyen, hohe Erwartungen in der Gesellschaft, insbesondere
bei Familien, geweckt. Knapp zwei Jahre nach Amtsantritt und über sieben
Monate nach dieser Ankündigung zeigt sich nun, dass die Umsetzung dieses
Planes nur ausgesprochen schleppend voran geht, wichtige Entscheidungen
noch nicht gefällt und das entscheidende gesetzliche Verfahren vermutlich erst
im nächstem Jahr abgeschlossen werden wird. Mit jedem weiteren Monat der
vergeht, ohne dass eindeutige politische Entscheidungen getroffen und dann un-
verzüglich in die parlamentarische Verfahren eingebracht werden, vergeht wert-
volle Zeit, die für die konkrete Planung und Umsetzung vor Ort benötigt wird.

Beispielsweise ist die für einen verbindlichen Ausbau unerlässliche Entschei-
dung nach Ausweitung des Rechtsanspruchs auf Betreuung für Kinder unter drei
Jahren nur vermeintlich beschlossene Sache. In Teilen der Regierungskoalition
wird die gesetzliche Verankerung des Anspruchs selbst erst für das Jahr 2013
nach wie vor von der sachfremden Entscheidung über die Einführung eines so-
genannten Betreuungsgeldes verknüpft. Statt nun aber dazu einen eindeutigen,
präzisen Beschluss herbei zu führen, werden politische Vereinbarungen getrof-
fen, die offenkundig weiten Interpretationsspielraum lassen und auch ganz un-
terschiedlich bis gegensätzlich ausgelegt werden. Ein solches Aufschieben stellt
aber das Ausbauprojekt als Ganzes in Frage. Junge Familien in Deutschland
können sich deshalb nicht sicher sein, ob allerwenigstens in rund sechs Jahren
die Versprechungen von Bund und Ländern eingehalten werden.

1. Noch sechs Jahre bis zur Schaffung des Rechtsanspruchs ist ein zu langer
Zeitraum, zumal die Regierung eine entsprechende Initiative schon spätestens
mit dem Elterngeldbeschluss, also in 2006 hätte abschließen und auf den Weg
bringen können. Erschwerend kommt hinzu, dass bisher der Frage wenig Auf-
merksamkeit gewidmet wird, ob, und wenn ja, wie, die Länder bereits in den
Jahren vor 2013 den Ausbau in einem geregelten Verfahren forcieren wollen.
Ohne eine diesbezüglich überzeugende Konzeption muss bezweifelt werden,
dass die Betreuungsquoten schon in den Jahren ab 2008 signifikant steigen wer-
den. Im Gegenteil drohen sogar die gesetzlichen Verpflichtungen aus dem TAG
Makulatur zu werden, da sie nicht mit einem Rechtsanspruch versehen sind –
Letzteres hatten die Länder seinerzeit erfolgreich politisch verhindert. Aktuell
sehen die Pläne der Bundesregierung einen allgemeinen Rechtsanspruch erst
zum Kindergartenjahr 2013/14 vor. Der ohnehin nicht zufriedenstellende
Platzausbau nach dem TAG droht nun sogar gänzlich ins Stocken zu geraten.

Allzu viele Kinder und Familien werden also womöglich erst in sechs Jahren
einen Betreuungsplatz in Anspruch nehmen können. Das ist nicht akzeptabel
und steht im Widerspruch zu der von allen politischen Kräften sowie der Fach-
welt herausgestellten Dringlichkeit der Aufgabe, sei es im Hinblick auf bil-
dungs-, armuts-, gesundheits- oder integrationspolitische Herausforderungen,
sei es um eine zentrale Hürde bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ab-
zubauen. Ein entschlossenes politisches Handeln kann hier Abhilfe schaffen. Es
wäre ein ambitioniertes, aber realisierbares Verfahren, wenn zwei verbindliche
Ausbaustufen beschlossen würden. In der ersten Stufe werden die mit dem TAG
zu Grunde gelegten und seit Anfang 2005 im SGB VIII geltenden Bedarfskrite-
rien für die Inanspruchnahme von Betreuungsplätzen mit einem Rechtsanspruch
versehen. Dieser sogenannte konditionierte Rechtsanspruch soll ab Herbst 2009
volle Geltung erlangen. Damit würde in vertretbarer Zeit die „Betreuungslücke“
nach Ablauf des Elterngeldes geschlossen und Eltern ein früher Einstieg in das
Berufsleben erheblich vereinfacht, wenn nicht sogar überhaupt erst ermöglicht.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/6607

Bisher sieht das SGB VIII eine Übergangsregelung bis 1. Oktober 2010 für die
Vorhaltung von Betreuungsplätzen unter Dreijähriger nach § 24 Abs. 3. Unter
den gegebenen Umständen ist ein Vorziehen um ein Jahr vertretbar und sinnvoll.
Erstens ist es erklärtes Ziel, in den kommenden Jahren ein deutlich über das
TAG hinausgehendes Angebot zu schaffen. Die TAG-Plätze sind damit faktisch
nicht mehr das Ausbauziel, sondern eine Zwischenetappe im Gesamtvorhaben.
Zweitens wurde das Elterngeld und seine im Verhältnis zum Erziehungsgeld
verkürzte Bezugsdauer nach Inkrafttreten des TAG beschlossen. Die Bundes-
regierung hatte jedoch das Elterngeld beschlossen, ohne eine entsprechende
Antwort bei der Anschlussbetreuung zu geben. Nicht zuletzt zeigen die bisheri-
gen Erfahrungen bei der Umsetzung des TAG, dass es zwar eine verhaltene Aus-
baudynamik eingesetzt hat. Dieser Ausbau bleibt aber hinter den Erwartungen
zurück, wobei manche Kommunen demonstrieren, dass das Ausbauziel bei ent-
sprechendem Engagement gut zu meistern ist. Zu denken gibt, dass gemäß den
vorliegenden Zahlen für den Ausbau in der Gesamtschau fast ausschließlich
Mittel umgeschichtet, und faktisch nichts zusätzlich finanziert wurde. Für den
Elementarbereich (0 bis 6 Jahre) stagnierten jedenfalls laut Statistischem Bun-
desamt die Gesamtaufwendungen zwischen 2004 und 2005 (Daten aus 2006 lie-
gen noch nicht vor) trotz der Anfang 2005 mit dem TAG einsetzenden Gegen-
finanzierung in Höhe von jährlich 1,5 Mrd. Euro. Folglich muss noch ein finan-
zieller Spielraum vorhanden sein, der auszuschöpfen wäre.

In einer zweiten Stufe wird der Rechtsanspruch auf alle Kinder der Altersklasse
zum Herbst 2011 gesetzlich ausgeweitet. Gewiss wäre eine frühere Realisierung
wünschenswert, zumal die TAG-Neuregelung in erster Linie auf erwerbstätige
bzw. in Ausbildung befindliche Eltern und damit auf die Vereinbarkeit abzielt.
Weitere Aufgaben und Vorzüge der Kindertagesbetreuung machen ein umfas-
sendes Angebot, realisiert durch einen allgemeinen Rechtsanspruch, notwendig.
Neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist der Zugang zu Kindertages-
betreuung als frühkindliche Förder- und Bildungsinstitution sowie als Instru-
ment zur gesellschaftlichen Integration für Kinder mit Migrationshintergrund
von immenser Bedeutung. Nicht zuletzt ermöglicht Kindertagesbetreuung für
viele Kinder überhaupt erst ein regelmäßiges Zusammensein mit anderen etwa
gleichaltrigen Kindern. Diese Ziele werden nur eingeschränkt und mit dem
zweiten Bedarfskriterium des TAG in § 24 Abs. 3 abgedeckt, nach dem Kinder
einen Betreuungsplatz erhalten sollen, wenn ohne diese Förderung ihr Wohl
nicht gewährleistet ist. Die Kommunen sind deshalb aufgefordert, bis zur Reali-
sierung eines allgemeinen Rechtsanspruchs diese Regelung nicht restriktiv,
sondern weit auszulegen, um so schon frühzeitig möglichst viele Kinder mit
erhöhtem Förderbedarf ein Angebot zu unterbreiten. Außerdem sollte das Be-
wusstsein dafür gestärkt werden, dass die TAG-Kriterien keine Obergrenze dar-
stellen.

2. Immerhin hat sich nun die Bundesregierung dazu bereit erklärt, den ange-
strebten Betreuungsausbau mit Bundesmitteln für Investitionen und Betriebs-
kosten zu unterstützen. Es ist richtig, dass der Bund sich über seine gesetzgebe-
rische Kompetenz hinaus auch finanziell an dieser Zukunftsinvestition beteiligt.
Unter diesem Gesichtspunkt ist die Vereinbarung der Bund-Länder-Arbeits-
gruppe zum Betreuungsausbau vom 28. August 2008, wonach der Bund an den
zusätzlichen Betriebskosten ab 2009 bis 2013 jährlich aufsteigend bis zu 700
Mio. Euro, und ab 2014 mit jährlich 770 Mio. Euro beteiligen wird, durchaus ein
Fortschritt. Zusätzlich soll ein vom Bund finanziertes Sondervermögen in Höhe
von 2,15 Mrd. Euro zur Deckung der anstehenden Investitionskosten eingerich-
tet werden. Im Grundsatz sind diese Maßnahmen durchaus geeignet, einen rele-
vanten Beitrag zum avisierten Ausbau zu leisten. Nicht akzeptabel ist dabei, dass
diese Mittel für das Sondervermögen faktisch schuldenfinanziert sind. Gleich-

zeitig darf nicht verkannt werden, dass mit diesen Mitteln gerade mal ein Drittel
der anstehenden Betriebskosten gedeckt sein wird. Die noch fehlenden Mittel in

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Milliardenhöhe sollen von Ländern und Kommunen aufgebracht werden.
Hierzu existieren bislang von Länderseite Absichtsbekundungen, ohne dass
auch nur ansatzweise konkrete Finanzierungspläne vorlägen. Entweder haben
die Länder noch keine ausgearbeitet, oder aber sie sind jederzeit zu einer ent-
sprechenden Finanzierung in der Lage und waren aber bislang, d. h. ohne die
konkrete Bundesinitiative, nicht Willens, davon Gebrauch zu machen. Von kom-
munaler Seite aus ist bislang lediglich verhaltene Zustimmung zur jüngsten Ent-
wicklung zu vernehmen, wobei gleichzeitig betont wird, dass sie, die Kommu-
nen, bei der aktuell absehbaren Finanzlastaufteilung ihren Teil nicht würden
stemmen können. Vor diesem Hintergrund erscheint es verfehlt, von einem
„nahezu historischen Prozess“ zu sprechen, wie es die Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Ursula von der Leyen, jüngst getan
hat; allenfalls mag das für Entwicklungen in ihrer eigenen Partei gelten. Nüch-
tern betrachtet wird nun allmählich eine überfällige Aufgabe angegangen.

Für die Kommunen ist bei einer Bundesfinanzbeteiligung zweierlei von Bedeu-
tung. Erstens bestimmt die Höhe des Bundesanteils (sowie der der Länder) na-
turgemäß deren eigenen Finanzbedarf. Den Kommunen obliegt bislang der ganz
überwiegende Finanzierungsanteil für die familienunterstützende Infrastruktur.
Sie sind damit hauptverantwortlich für die Umsetzung in einem zunehmend
komplexen und umfangreichen Handlungsfeld. Schon heute ist die gesamte
Jugendhilfe am äußersten Rand ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Deshalb ist
eine geringere Finanzbelastung der Kommunen durch einen höher als bisher von
der Bundesregierung geplanten Finanzanteil notwendig. Hinzuweisen ist auch
auf den Sachverhalt, dass die volkswirtschaftlichen Erträge höherer Investitio-
nen in Kindertagesbetreuung sich in ungleich höherem Umfang bei Bund und
Ländern einstellen. Ganz wesentlich ist zweitens die Verteilung der vom Bund
zur Verfügung gestellten Finanzmittel. Das Ausbauprojekt wird nur gelingen,
wenn es ein einvernehmliches und von allen politischen Ebenen – unter Ein-
schluss der Kommunen – getragenes Finanzierungskonzept gibt.

In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist die Leistung zahlreicher Bundes-
länder, nach Jahren weitgehender Untätigkeit in besagtem Bereich sich nun zu
einer aufgeschlossenen Haltung durchgerungen zu haben und erstens den völlig
offenkundigen Bedarf von rund 750 000 Betreuungsplätzen akzeptiert und zwei-
tens die Bereitschaft zur Schaffung der notwendigen zusätzlichen Plätzen erklärt
zu haben. Nun stehen sie aber auch in der Pflicht, ihren Beitrag zu leisten. Dies
umfasst eine angemessene finanzielle Beteiligung am Ausbau ebenso wie die
Gewährleistung sachgerechter Mittelflüsse an die Kommunen bzw. die Jugend-
hilfeträger. Dieses ist bislang allerdings nicht absehbar, ebenso wenig lässt sich
bisher erkennen, wie die Länder die Mittel angemessen weiterreichen wollen.

3. Ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot als Voraussetzung zur Vereinbar-
keit von Familie und Beruf darf nicht auf den Bereich der unter Dreijährigen
beschränkt bleiben. Notwendig sind genügend Plätze im gesamten Elementar-
bereich sowie in der Schule. Um Beruf und Familie vereinbaren zu können, rei-
chen halbtägige Angebote in der Regel nicht aus; erforderlich sind oft deutlich
längere Betreuungszeiten. Zeitknappheit in der Tagesbetreuung kann dazu füh-
ren, dass das Förderpotential des Betreuungsangebots nicht ausgeschöpft wer-
den kann. Insofern steht ein auf wenige Stunden limitierter Betreuungsanspruch
im Widerspruch zum Förder- und Bildungsauftrag. Der Rechtsanspruch auf Kin-
dertagesbetreuung für den Kindergarten im SGB VIII garantiert aber nur min-
destens halbtägige Betreuung. Das findet in den meisten Landesgesetzen seine
Entsprechung. So nimmt es nicht wunder, dass auch im Kindergartenbereich die
Versorgungsquoten mit Ganztagsangeboten bundesweit erheblich variieren.
Was die Plätze generell, d. h. unabhängig von der täglichen Betreuungszeit, an-
geht, liegt faktisch eine Vollversorgung vor. In vielen Bundesländern, besonders

den westlichen Flächenländern, werden nur in geringem Umfang Plätze mit

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/6607

sieben oder mehr Betreuungsstunden am Tag vorgehalten. Bei ihnen liegen die
Quoten um die 20 Prozent.

4. Eine hochwertige Infrastruktur zur Bildung, Betreuung und Erziehung für
Kinder und eine entsprechende Unterstützungsinfrastruktur für ihre Eltern ist
unabdingbar, um Kinder individuell zu fördern und Eltern bei der Wahrnehmung
ihrer familiären Erziehungs- und Versorgungspflichten zu stärken. Dabei geht es
um familienergänzende Maßnahmen, und nicht um einen Ersatz für die Familie.
Das bedeutet, dass institutionelle Frühförderangebote nicht nur für Kinder in
spezifischen Problemlagen von Vorteil sind. Alle Kinder profitieren von hoch-
wertigen, individuell ausgelegten Förderangeboten. Ebenso mag es für alle
Eltern denkbare Hilfen und wertvolle Anregungen im Rahmen von Familien-
bildungsangeboten geben.

Bildung ist die Schlüsselressource für junge Menschen. Keine andere Investition
dürfte für ihren späteren Lebensweg derart bedeutsam sein. Ganz entscheidend
ist dabei schon die frühe Stärkung von Grundkompetenzen und Heranführung an
Bildung – und zwar nicht erst im Schulalter. Gerade in den ersten Lebensjahren
verfügen Kinder über ein großes Lernpotential, das für ihre emotionale, soziale
und kognitive Entwicklung stärker unterstützt werden muss. Dies und weitere
Faktoren haben zu gestiegen Anforderungen an das System der Kindertages-
betreuung geführt. In der alltäglichen Praxis finden diese Veränderungen aller-
dings keinen ausreichenden Niederschlag. Notwendig sind vielfältige Anstren-
gungen zur Steigerung von pädagogischer Qualität und Bildungsleistung. Schon
allein der internationale Vergleich legt eine Weiterentwicklung verschiedener
Komponenten im System der Kindertagesbetreuung nahe. Die durchschnittliche
Strukturqualität etwa entspricht nicht den fachlich geforderten Standards. Grup-
pengrößen und Personalschlüssel sind vielfach eher an finanziellen als an päda-
gogischen Vorgaben ausgerichtet. Das gilt auch für das Arbeitszeitbudget des
Fachpersonals. Die Ausbildung für Erzieher und Erzieherinnen wird von maß-
geblichen Fachleuten im Vergleich zu den Anforderungen an die Profession als
nicht mehr zeitgemäß beurteilt. Angebracht ist die Schaffung eines Berufsfeldes
Frühpädagogik mit Ausbildung auf Fachhochschul- oder Hochschulniveau. Ziel
wäre es dann, den Einsatz von Frühpädagoginnen und Frühpädagogen in einer
Größenordnung von rund der Hälfte des Einrichtungspersonals zu realisieren.
Auch das erforderliche Qualifikationsniveau von Kindertagespflegepersonen ist
auffallend niedrig angelegt. Zur Ausführung dieser Tätigkeit wird lediglich eine
persönliche Eignung vorausgesetzt. Überaus ratsam sind deshalb eine erhöhte,
verbindliche Grundqualifikation sowie die Intensivierung der Fort- und Weiter-
bildung.

Weitere Anstrengungen werden zudem notwendig sein, um den Elementar-
bereich mit weiteren Bildungsbereichen, insbesondere der Schule, zu verzah-
nen. Wichtig ist es auch eine Verständigung darüber, mit welchen Maßnahmen
und nach welchen Verfahren die Angebotsqualität gemessen, evaluiert und dau-
erhaft gesichert werden kann. Hier ist die Einführung eines bundesweit gültigen
Zertifizierungsverfahrens zu prüfen.

Die Familienbildung rückt zunehmend stärker in das Zentrum familienpoliti-
scher Debatten. Das ist auch notwendig, da auf Unterstützungs- und Hilfsange-
bote für Eltern und Familien eine immense Bedeutung zukommt. In der Praxis
erweist sich dieses Hilfssystem jedoch als sehr verbesserungswürdig. Der Ver-
netzungsgrad der unterschiedlichen Angebote ist bescheiden, die Angebote sind
oft untransparent, wenig aufeinander abgestimmt und ihre Tauglichkeit auf-
grund fehlender Evaluation ungewiss. Hinzu kommt, dass die Ressourcenaus-
stattung oftmals so beschränkt ist und die Arbeit nur punktuell stattfinden kann.
Ein zentraler Schritt wäre – nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Familienbil-

dung – die Weiterentwicklung von Kindertageseinrichtungen zu sog. Eltern-
Kind-Zentren.

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