BT-Drucksache 16/5697

Verletzte, Festnahmen und Grundrechtseingriffe während des G8-Gipfels in Heiligendamm

Vom 14. Juni 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5697
16. Wahlperiode 14. 06. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Karin Binder, Sevim Dag˘delen,
Lutz Heilmann, Cornelia Hirsch, Inge Höger, Dr. Lukrezia Jochimsen, Jan Korte,
Michael Leutert, Dorothee Menzner, Kersten Naumann, Elke Reinke, Paul Schäfer
(Köln), Frank Spieth, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Verletzte, Festnahmen und Grundrechtseingriffe während des G8-Gipfels
in Heiligendamm

Der 33. Gipfel der G8 in Heiligendamm vom 6. bis zum 8. Juni wurde von mas-
siven Protesten gegen die kapitalistische Globalisierung begleitet.

Einladende des Gipfels war die Bundesregierung. Mit der Planung und Durch-
führung der Polizeieinsätze während des Gipfeltreffens wurde die Besondere
Aufbauorganisation (BAO) „Kavala“ beauftragt. „Kavala“ arbeitet mit der Bun-
despolizei, dem Bundeskriminalamt, den Organisationen und Einrichtungen der
Bundeswehr sowie dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung eng
und zum Teil in gemeinsamen Stäben zusammen. Schon durch diese Tatsache
wird ersichtlich, dass es sich beim Polizeieinsatz anlässlich des G8-Gipfels auch
um eine weit über das Land Mecklenburg-Vorpommern hinausgehende Angele-
genheit des Bundes handelt.

Die Arbeit der Sicherheitsbehörden während des Gipfels wurde in zahlreichen
Medien und von Menschenrechtsgruppen massiv kritisiert. So warfen Journalis-
ten den Behörden vor, die Pressefreiheit durch den Entzug von Akkreditierun-
gen eingeschränkt und zahlreiche Falschmeldungen verbreitet zu haben. Die
Zahl schwerverletzter Polizeibeamter nach der Rostocker Demonstration ist viel
zu hoch angegeben worden. Außerdem sind von Polizeiquellen wiederholt Mel-
dungen über eine angebliche Bewaffnung von Demonstranten etwa mit ätzender
Säure oder mit Nägeln gespickten Kartoffeln verbreitet worden, die später nicht
bestätigt werden konnten (vgl. Lügen und Lockspitzel, in: junge Welt vom
8. Juni 2007).

Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) erhob schwere
Vorwürfe gegen die menschenrechtswidrige Behandlung von Gefangenen und
insbesondere deren lange Unterbringung in Tag und Nacht hell angestrahlten
Käfigen. Protestierende zeigten sich erschrocken über das teils brutale Vorgehen
von Polizeibeamten (vgl. Pressemitteilung RAV vom 7. Juni 2007 http://
www.rav.de/news.php#).
Anwältinnen und Anwälte seien von der Polizei bei der Ausübung ihrer anwalt-
lichen Tätigkeit behindert worden. Die mit gelben Leuchtwesten und der Auf-
schrift „Legal Team“ gekennzeichneten Anwälte seien auf den Boden gestoßen
und mit Schlägen oder einer Festnahme bedroht worden, falls „sie nicht ,das
Maul halten‘ und aufhören würden, Festgenommene nach ihren Namen zu fra-
gen“ (Pressemitteilung des RAV vom 6. Juni 2007). Mindestens ein deutlich als

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solcher gekennzeichneter Arzt im Einsatz wurde in Unterbindungsgewahrsam
genommen (vgl. Am Helfen gehindert, in: DER TAGESSPIEGEL vom 12. Juni
2007).

Den Einsatz von szenetypisch gekleideten Zivilpolizisten innerhalb der Protest-
aktionen hat die Polizei mittlerweile zugegeben. Medienberichten zufolge soll
die Polizei mit eingeschleusten Agents Provocateurs, d. h. in zivil agierenden
Polizeibeamten, die Demonstranten zur Begehung von Straftaten angestiftet
haben. So sollen Bremer Zivilpolizisten anlässlich einer Blockadeaktion am
Kontrollpunkt „Galopprennbahn“ am Abend des 7. Juni zu einer gewaltsamen
Konfrontation mit der Polizei aufgefordert haben (vgl. G8-Proteste: Demonst-
rant beschuldigt verdeckten Zivilpolizisten als Aufwiegler, in: SPIEGEL
ONLINE vom 8. Juni 2007).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen wurden im Zusammenhang mit den Protesten gegen den
G8-Gipfel in Mecklenburg-Vorpommern fest- oder in Gewahrsam genom-
men?

a) In welchen Bundesländern fanden diese Fest- und Ingewahrsamnahmen
statt?

b) In wie vielen Fällen wurde die Festnahme von den Haftrichtern bestätigt?

c) Wie lang war die durchschnittliche Dauer der freiheitsentziehenden Maß-
nahmen?

d) Wie lang war die Höchstdauer der freiheitsentziehenden Maßnahmen?

e) Was waren die Gründe für Fest- oder Ingewahrsamnahmen (bitte auf-
schlüsseln)?

f) Wie viele der Fest- und in Gewahrsam Genommenen waren unter 16 Jahre
alt?

2. Welche Informationen hatte die Bundesregierung durch die gemeinsamen
Stäbe von Bundes- und Landesbehörden über die Unterbringung von Gefan-
genen in Gitterkäfigen?

a) Wie beurteilt die Bundesregierung die Unterbringung von Gefangenen in
Gitterkäfigen vor dem Gesichtspunkt der grundgesetzlich garantierten
Menschenwürde?

b) Inwieweit wurde die Bundesregierung im Vorfeld über die zu erwartenden
Festnahmen und den damit geplanten Umgang informiert?

c) Haben Bundespolizisten Gefangene den Gefangenensammelstellen zuge-
führt?

d) Wie beurteilt die Bundesregierung die Beschwerden von Gefangenen,
durch das kontinuierlich brennende Licht sei ihnen das Schlafen unmög-
lich gemacht worden?

e) Wie beurteilt die Bundesregierung das Vorgehen in den Gefangenensam-
melstellen, Ausländer mit in Gewahrsam genommenen Neonazis in einen
gemeinsamen Käfig zu sperren?

f) Wie beurteilt die Bundesregierung den Zustand, dass in den Gefangenen-
sammelstellen keinerlei Sichtschutz die Gitterkäfige der männlichen und
weiblichen Gefangenen getrennt hat?

g) Wie beurteilt die Bundesregierung Beschwerden von Gefangenen, dass
bei der Verpflegung in den Gefangenensammelstellen zahlreiche Lebens-
mittel verteilt wurden, deren Haltbarkeitsdatum deutlich überschritten war

und die Verpflegung fast ausschließlich aus Würstchen bestand, so dass
eine vegetarische bzw. vegane Ernährung unmöglich wurde?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5697

h) Wie beurteilt die Bundesregierung den Umstand, dass in den Gefangenen-
sammelstellen keine entsprechenden Hygieneartikel vorrätig waren, so
dass an Frauen, deren Menstruation unter dem Stress einsetzte, Mull-
binden verteilt wurden?

i) Wie beurteilt die Bundesregierung den Zustand, dass Beamte in den Ge-
fangenensammelstellen Gefangenen als Sanktionsmaßnahme über eine
Stunde den Gang zur Toilette verwehrten?

3. Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorwurf von Gefangenen, sie wären
über Gebühr in Polizeiautos festgehalten worden, und wie viele Gefangenen
mussten aufgrund dieser Vorgänge ärztlich behandelt werden?

4. Gegen wie viele Personen wurden im Zusammenhang mit den Protesten ge-
gen den G8-Gipfel Haftbefehle erwirkt?

a) In wie vielen Fällen wurden diese Haftbefehle vollstreckt?

b) Aufgrund welcher Straftaten wurden die Haftbefehle erwirkt?

5. Wurden Waffen bei Demonstranten sichergestellt und wenn ja, welche und
wie viele?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung die Pressearbeit der Polizeikoordination
Kavala?

a) Inwieweit gab es eine Abstimmung zwischen dem Bundespresseamt und
der Pressearbeit der BAO „Kavala“?

b) Woher bekam die Pressestelle der BAO „Kavala“ die von ihr verbreiteten
Informationen über eine angebliche Bewaffnung von Autonomen mit
nägelgespickten Kartoffeln oder ätzender Säure?

c) Wieweit wurden diese Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft,
bevor sie verbreitet wurden?

d) Inwieweit wurden Informationen über eine angebliche Bewaffnung der
Autonomen oder die Zahl der verletzten Polizisten öffentlich korrigiert,
wenn sie sich als falsch herausgestellt hatten?

7. Wie viele Polizisten und Bundespolizisten wurden bei den Protesten gegen
den G8-Gipfel verletzt?

a) Wie viele Schwerverletzte gemäß den gesetzlich festgelegten Kriterien für
die Registrierung von Unfallopfern gab es?

b) Welcher Art waren die Verletzungen (bitte aufschlüsseln)?

8. Hat die Bundesregierung Kenntnisse über die Zahl der bei Polizeieinsätzen
verletzten Teilnehmer der Proteste gegen den G8-Gipfel?

a) Wenn ja, wie viele Demonstranten wurden insgesamt verletzt?

b) Wie viele Demonstranten wurden schwer verletzt gemäß den gesetzlich
festgelegten Kriterien für die Registrierung von Unfallopfern?

c) Welcher Art waren die Verletzungen (bitte aufschlüsseln)?

9. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über den Einsatz von verdeckt
arbeitenden Beamten der Polizei oder des Verfassungsschutzes, die Teilneh-
mer der Anti-G8-Proteste zu Straftaten aufstachelten?

a) Wie beurteilt die Bundesregierung den Einsatz solcher Agents Provo-
cateurs bezüglich der offiziellen Deeskalationsstrategie der Polizei?

b) Wie beurteilt die Bundesregierung den von Zeugen verbürgten Einsatz
solcher Agents Provocateurs während der Anti-G8-Proteste bezüglich

ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 16/5185,
dass derartige Methoden in Deutschland nicht zur Anwendung kämen?

Drucksache 16/5697 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

c) Wie viele Zivilpolizisten und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes hatten
sich nach Kenntnissen der Bundesregierung unter die Demonstranten ge-
mischt?

d) Wie viele dieser Zivilpolizisten oder Mitarbeiter des Verfassungsschut-
zes dienten als Agents Provocateurs?

10. Waren während des G8-Gipfels in Mecklenburg-Vorpommern ausländische
Polizeikräfte im Einsatz?

a) Wenn ja, welche Polizeikräfte aus welchen Ländern und in welcher Per-
sonalstärke waren dies?

b) Wenn ja, welche Befugnisse und welche Bewaffnung hatten diese
Kräfte, und wie waren sie in die deutschen Polizeistrukturen eingebun-
den?

11. Trifft es zu, dass während der Großdemonstration gegen den G8-Gipfel am
2. Juni 2007 ein Polizeieinsatzleiter ausgewechselt wurde, und wenn ja, was
waren die Gründe für dieses Auswechseln des Einsatzleiters?

12. Durch welche Entscheidungsebene und mit welcher Begründung wurde der
Einsatzleiter vor Ort bei der „Demonstration für globale Bewegungsfreiheit
und gleiche Rechte für alle“ am Montag, den 4. Juni 2007 in Rostock
entmachtet und welche Entscheidungsebene kann prinzipiell die Abberu-
fung eines Einsatzleiters vornehmen?

13. Hält die Bundesregierung das Vorgehen der Wasserschutzpolizei gegen
Aktivisten der Umweltschutzorganisation Greenpeace am 7. Juni 2007 vor
Heiligendamm, bei dem ein Boot überfahren und damit Tote in Kauf
genommen wurde, für angemessen?

14. Wie steht die Bundesregierung zum Vorwurf des Republikanischen
Anwältinnen- und Anwältevereins RAV, während der Proteste gegen den
G8- Gipfel seien die Verteidigerrechte durch die Polizei massiv einge-
schränkt worden?

a) Aus welchen Gründen und auf welcher rechtlichen Grundlage wurden
den Anwälten des Legal Teams anwaltliche Gespräche mit den Inhaftier-
ten verweigert?

b) Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, damit in Zu-
kunft bei derartigen Großdemonstrationen das Grundrecht auf anwalt-
lichen Beistand nach einem Freiheitsentzug gewahrt bleibt?

15. An welchen deutschen Grenzen wurden im Zusammenhang mit dem
G8- Gipfel verstärkte Kontrollen durchgeführt?

a) Gab es eine Zusammenarbeit mit ausländischen Polizeistellen, und gab
es einen Austausch von Listen mit den Daten potentieller Gewalttäter?

b) Wie vielen Personen wurde bei diesen anlassbezogenen Kontrollen der
Zutritt zum Bundesgebiet verweigert und in wie vielen Fällen stand dies
im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel?

c) Mit welcher Begründung wurde der Zutritt zum Bundesgebiet verwei-
gert?

d) In wie vielen Fällen fanden bei den Grenzkontrollen Festnahmen von
Personen statt, bei denen ein Bezug zum G8-Gipfel vermutet wurde?

e) In wie vielen Fällen wurde die Einreise oder Festnahme mutmaßlicher
Gegner des G8-Gipfels an deutschen Grenzen mit Verstößen gegen das
Waffenrecht begründet?
f) Welche Nationalität hatten die Betroffenen, denen der Zutritt zum Bun-
desgebiet verweigert wurde?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/5697

16. Wie viele auf Seiten der Protestierenden im Einsatz befindliche Anwälte
und Ärzte wurden festgenommen, und wie lange wurden diese mit welcher
Begründung festgehalten?

17. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Informationen der
Deutsche Presse-Agentur, nach denen zwei US-amerikanische Sicher-
heitskräfte versuchten, in einem Koffer versteckten Plastiksprengstoff des
Typs C4 in einem Auto nach Heiligendamm zu schmuggeln und hierbei von
deutschen Sicherheitsbehörden an einer Kontrollstelle entdeckt wurden
(Berliner Zeitung vom 8. Juni 2007)?

a) An welcher Kontrollstelle und durch welche Sicherheitstechnik wurde
der Sprengstoff gefunden?

b) Mit welchen strafrechtlichen Konsequenzen müssen die beiden US-
amerikanischen Sicherheitskräfte rechnen, und welche Anklagen wur-
den gegen beide Personen erhoben?

c) Wie bewertet die Bundesregierung den Vorgang?

d) Treffen Medienberichte zu, nach denen die US-amerikanischen Sicher-
heitskräfte mit dem Vorgang die deutschen Sicherheitsvorkehrungen
bei dem G8-Gipfel testen wollten oder gibt es Anlass für Spekulationen,
dass der Sprengstoff für einen tatsächlich geplanten Anschlag, evtl. zur
Erreichung politischer Ziele wie dem Diskreditieren des Widerstandes
gegen das Treffen dienen sollte?

Berlin, den 15. Juni 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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