BT-Drucksache 16/5615

Die Regierungsverhandlungen mit Bolivien für eine kritische Überprüfung der Entwicklungszusammenarbeit nutzen und an Bedingungen knüpfen

Vom 13. Juni 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5615
16. Wahlperiode 13. 06. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann,
Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst
Burgbacher, Patrick Döring, Jörg van Essen, Otto Fricke, Horst Friedrich
(Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß,
Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Dr. Heinrich L. Kolb,
Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald
Leibrecht, Horst Meierhofer, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Cornelia Pieper, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina
Schuster, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig
Thiele, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff
(Rems-Murr), Martin Zeil, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Die Regierungsverhandlungen mit Bolivien für eine kritische Überprüfung
der Entwicklungszusammenarbeit nutzen und an Bedingungen knüpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bolivien ist eines der fünf lateinamerikanischen Schwerpunktpartnerländer der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit und das meist geförderte Land der
Region. Als Pilotland des Aktionsprogramms der deutschen Bundesregierung
zur signifikanten Reduzierung der Armut bis 2015 erhält Bolivien damit die
höchste deutsche pro-Kopf-Unterstützung in Lateinamerika. Bei den letzten
Regierungsverhandlungen – erstmals mit der Morales Regierung – im Juni 2006
wurden Zusagen von insgesamt 24 Mio. Euro für einen Zeitraum von zwei
Jahren gemacht. Schwerpunkte der deutschen bilateralen Zusammenarbeit mit
Bolivien bleiben die Verwaltungs- und Justizreform, die Förderung zivilgesell-
schaftlicher Aktivitäten, Wasserver- und Abwasserentsorgung und nachhaltige
Landwirtschaft sowie die Unterstützung der verfassungsgebenden Versamm-
lung Boliviens. Für Juni dieses Jahres stehen erneut Regierungsverhandlungen
zwischen der Bundesregierung und der bolivianischen Regierung an.

Mit dem Ziel der Armutsbekämpfung hat die Bundesregierung im Jahr 2001 im
Rahmen Ihres Aktionsprogramms 2015 zusätzliche Zusagen in der Entwick-
lungszusammenarbeit gegeben, die allein im Jahr 2003 eine Steigerung der

Zusagen in Höhe von 9 Mio. Euro ausmachte. Die von der ehemaligen boli-
vianischen Regierung vorgelegte nationale Armutsbekämpfungsstrategie hat die
Bundesregierung dabei in vollem Maße unterstützt. Es hat sich jedoch gezeigt,
dass die nationale Armutsbekämpfungsstrategie der bolivianischen Regierung
institutionelle, instrumentelle und politische Schwächen bei der Umsetzung von
armutsorientierten Entwicklungsplänen und Haushaltspolitiken auf der dezen-
tralen Ebene hat. Die ungenügende Einbeziehung der Bevölkerung in die For-

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mulierung der Armutsbekämpfungsstrategie und die institutionelle Schwäche
der dezentralen Ebene sind nur einige Probleme. Das Ergebnis war, dass die ein-
gesetzten Mittel nicht zu einer Verbesserung der Lage der Bedürftigen geführt
haben. Die bolivianische Regierung hat die zur Verfügung gestellten Mittel nicht
zur Bekämpfung der Armut eingesetzt. Es wurden weder marktwirtschaftliche
Strukturen besonders gefördert, die Grundvoraussetzung für eine wirtschaftliche
Entwicklung und Wohlstand sind, noch ein funktionierendes Steuersystem auf-
gebaut. Nach wie vor ist Bolivien immer noch eines der ärmsten Länder der
Welt, in dem zwei Drittel der 9,34 Millionen Bolivianer arm sind und von weni-
ger als einem Dollar pro Tag leben müssen. Auch die neue Regierung unter Evo
Morales hat diesen Zustand bisher nicht geändert. Die Bundesregierung muss
ihre Strategie im Hinblick auf die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der deut-
schen Entwicklungszusammenarbeit neu ausrichten. Eine nachhaltige wir-
kungsvolle Entwicklungszusammenarbeit muss auf die marktwirtschaftliche In-
tegration der Armen selbst als handelnde Subjekte einer Volkswirtschaft
ausgerichtet sein und die Armen am Beginn der marktwirtschaftlichen Wert-
schöpfungskette, im Agrarbereich, Kleingewerbe, Kleinhandel und Handwerk
besonders fördern. Sie muss die Regierungsverhandlungen nutzen, um die boli-
vianische Regierung aufzufordern, eine neue Strategie zur Armutsursachenbe-
kämpfung vorzulegen und weitere Hilfszusagen davon abhängig machen.

Bolivien gehört zu den am häufigsten entschuldeten Ländern. Im Rahmen der
HIPC-II-Initiative wurden Bolivien im Jahr 2001 30 Prozent der gesamten Aus-
landsschulden erlassen, das waren nominal 1,3 Mrd. US-Dollar; dabei betrug der
Anteil Deutschlands 347 Mio. Euro. Anschließend ist der Schuldenstand Boli-
viens wieder auf 5,114 Mrd. US-Dollar angestiegen. Eine weitere Erlasszusage
erfolgte im Rahmen des G8-Gipfels in Gleneagles im Jahr 2006 in Höhe von
1,990 Mrd. US-Dollar. Ungeachtet dieser massiven Schuldenerlasse hat Boli-
vien im Jahr 2006 wieder Darlehen aufgenommen. Angesichts dieser Tatsache
liegt die Vermutung nah, dass die Maßnahmen der bolivianischen Regierung
nicht den Zielen der Entschuldung entsprechen. Entschuldungen sind unbestrit-
ten ein Weg, um armen Ländern einen Neuanfang zu ermöglichen, und dann
auch sinnvoll. Es muss aber auch mit den freigewordenen Geldern verantwor-
tungsbewusst umgegangen werden. In Bolivien sind per Regierungsdekret der
alten Regierung ein Teil der freigewordenen Mittel nicht in die nationale Ar-
mutsursachenbekämpfung geflossen, sondern in den nationalen Haushalt, wo sie
zur Reduzierung des Haushaltsdefizits eingesetzt wurden. In Anbetracht dieser
Entwicklung in Bolivien ist das Instrument des Schuldenerlasses für die ärmsten
Länder der Welt stärker zu überprüfen, sowie die an den Erlass geknüpften Be-
dingungen, wie gute Regierungsführung und Einsatz der Mittel zur Armutsredu-
zierung, einzufordern. Es sollten nur Länder entschuldet werden, bei denen die
Entschuldung als positives Signal für eine gute Haushaltspolitik verstanden wird
und gute Regierungsführung vorhanden ist. Die Nichteinhaltung der Verpflich-
tungen führt gegenwärtig zu keinen Konsequenzen. Die Bundesregierung muss
sich dafür einsetzen, dass künftig Entschuldungsmaßnahmen, wie auch die Ent-
wicklungszusammenarbeit, von der Umsetzung weiterer Kriterien abhängig ge-
macht wird. Dazu gehören die Verbesserung demokratischer Strukturen, die
Umsetzung der Kriterien von Good Governance, die Einhaltung der Menschen-
rechte ebenso wie die Bekämpfung von Korruption und der Aufbau einer soliden
Wirtschaft.

Die Bundesregierung hat bei den letzten Regierungsverhandlungen angekün-
digt, dass sie Bolivien finanzielle und technische Hilfe bei der geplanten Aus-
arbeitung der bolivianischen Verfassung gewährt. Die verfassungsgebende Ver-
sammlung plant bis August 2007 eine neue bolivianische Verfassung zu
verabschieden. Grundsätzlich ist dies zu begrüßen. Die Bundesregierung muss

jedoch die Verfassungsreform kritisch begleiten, da nach Meinung von inter-
nationalen Beobachtern die Gefahr besteht, dass Präsident Morales die Gelegen-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5615

heit nutzt, um die demokratische Opposition zu unterdrücken, die repräsentative
Demokratie weiter auszuhebeln und ihm noch weitreichende Befugnisse zu ge-
ben, als dies ohnehin schon in den präsidialen Demokratien Lateinamerikas
möglich ist. Zudem muss gewährleistet sein, dass die geplante Stärkung der
Rechte der indigenen Bevölkerung nicht zu Konflikten zwischen der indigenen
Mehrheit und der nichtindigenen Minderheit führen. Die Bundesregierung muss
bei den Regierungsverhandlungen die bolivianische Regierung mit Nachdruck
auffordern, dass die neue Verfassung die Rechte und Pflichten aller Bürger glei-
chermaßen berücksichtigt und die Mechanismen der repräsentativen Demokra-
tie nicht ausgehebelt werden.

Die Bundesregierung muss des Weiteren ihren Einfluss bei den Regierungsver-
handlungen mit der bolivianischen Regierung nutzen, um die Verstaatlichung
der Erdöl- und Gasindustrie zu verurteilen. Das Recht am Eigentum ist ein
Grundpfeiler des Rechtsstaates und Grundvoraussetzung für das Funktionieren
von Marktwirtschaft. Internationale, wie auch nationale Investoren benötigen
Rechtssicherheit, wenn sie Unternehmen, Infrastruktur oder Bildungseinrich-
tungen aufbauen und damit Arbeitsplätze und Einkommen in armen Ländern
schaffen wollen. Die Verstaatlichungen, ohne Rücksicht auf bestehende Ver-
träge, schaden in erster Linie dem Land selbst, da Investoren und technische
Hilfe ausbleiben, auf die Bolivien dringend angewiesen ist. Bolivien, welches
das zweitgrößte Erdgasvorkommen in Lateinamerika besitzt, ist nicht in der
Lage, die komplizierte und teure Fördertechnik in kurzer Zeit aus eigener Kraft
zu betreiben. Bereits kurz nach den Verstaatlichungen sind trotz hoher Öl- und
Gaspreise die Investitionen in diesem Bereich in Bolivien fast zum Stillstand ge-
kommen. Diese Entwicklungen tragen darüber hinaus weiter zur Destabilisie-
rung innerhalb der Region bei, da Brasilien und Argentinien die größten Abneh-
mer von Erdgas aus Bolivien sind. Die Bundesregierung muss bei den
Verhandlungen klar zum Ausdruck bringen, dass eine solche Politik nicht im ur-
eigenen bolivianischen und auch nicht im Interesse der Gebergemeinschaft ist.
Zudem ist – ähnlich wie in Venezuela – zu befürchten, dass die Erlöse aus den
Erdgasverkäufen nicht der armen Bevölkerung zugutekommen.

In diesem Zusammenhang zeigt sich wieder die Bedeutung und Notwendigkeit
von rechtsstaatlichen Strukturen. Bolivien wird auf dem Korruptionsindex von
Transparency International im Jahr 2006 auf Platz 105 geführt. Das Fehlen von
Rechtsstaatlichkeit und Good Governance ist eines der größten Entwicklungs-
hindernisse. Die bisherigen Projekte durch die deutsche Entwicklungszusam-
menarbeit waren auch auf die Reform der Verwaltung und Justiz schwerpunkt-
mäßig ausgerichtet. Ziel war es, die nötigen institutionellen Reformen in
Verwaltung und Justiz voranzutreiben, um Korruption abzubauen und Good
Governance zu stärken. Die weitere Entwicklungszusammenarbeit muss die
Einhaltung von Good Governance und Rechtsstaatlichkeit stärker einfordern
und an zukünftige finanzielle Zusagen binden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– bei den anstehenden Regierungsverhandlungen mit der bolivianischen Regie-
rung mit Nachdruck eine neue nationale Armutsursachenbekämpfungsstrate-
gie zu fordern;

– die Wirksamkeit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit exemplarisch
am Beispiel Bolivien einer eingehenden Analyse zu unterziehen und die
künftige Entwicklungszusammenarbeit verstärkt auf die Förderung von
Kleingewerbe, Handwerk und Kleinhandel sowie Landwirtschaft und die Be-
teiligung der Armen am Wirtschaftsgeschehen ausrichten, denn nur so kann
eine nachhaltige und wirksame Armutsursachenbekämpfung erreicht wer-

den;

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– weitere Hilfezusagen sind an eine glaubwürdige neue nationale Armuts-
bekämpfungsstrategie zu binden;

– gemeinsam mit der Europäischen Union das Instrument des Schuldenerlasses
für die ärmsten Länder auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit zu überprüfen;

– künftige Entschuldungsmaßnahmen an die Umsetzung der Kriterien von
Good Governance, die Einhaltung der Menschenrechte, die Bekämpfung von
Korruption und den Aufbau einer soliden Wirtschaft sowie den Aufbau eines
effizienten Steuersystems zu knüpfen und die Einhaltung dieser Bedingungen
zu verfolgen;

– vor dem Hintergrund der deutschen technischen und finanziellen Unterstüt-
zung des bolivianischen Verfassungsprozesses darauf hinzuwirken, dass die
neue Verfassung die Rechte und Pflichten aller Bürger gleichermaßen be-
rücksichtigt und die Mechanismen der repräsentativen Demokratie nicht aus-
gehebelt werden;

– die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit, insbesondere der Schutz des Eigen-
tums, bei den Regierungsverhandlungen mit Nachdruck einzufordern und die
Verstaatlichung der Erdöl- und Gasindustrie zu verurteilen;

– die neue Konzeption des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung für Länder mit schlechter Regierungsführung in die
weitere Entwicklungszusammenarbeit mit Bolivien einzubeziehen und um-
zusetzen;

– generell die weitere Entwicklungszusammenarbeit mit Bolivien an die Ein-
haltung von Good Governance und Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen.

Berlin, den 12. Juni 2007

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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