BT-Drucksache 16/5606

Verfahrensrechte in Strafverfahren in der Europäischen Union

Vom 13. Juni 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5606
16. Wahlperiode 13. 06. 2007

Antrag
der Abgeordneten Mechthild Dyckmans, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Jörg van Essen, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth, Rainer
Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Otto Fricke,
Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann,
Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter
Haustein, Elke Hoff, Birgit Homburger, Michael Kauch, Hellmut Königshaus,
Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle
Laurischk, Harald Leibrecht, Horst Meierhofer, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk
Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Jörg Rohde,
Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele,
Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-
Murr), Martin Zeil, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Verfahrensrechte in Strafverfahren in der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Vertrag über die Europäische Union begründet in Titel VI unter anderem
die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Mit den Beschlüssen von
Tampere und Den Haag ist ein entscheidendes Konzept des Prinzips der ge-
genseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen getroffen worden.

Auf dieser Grundlage wurden Rechtsinstrumente geschaffen zur gegensei-
tigen Anerkennung von Haftbefehlen (Rahmenbeschluss 2002/584/JI des
Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Überga-
beverfahren zwischen den Mitgliedstaaten), von Entscheidungen über das
Einfrieren von Beweismaterial (Rahmenbeschluss 2003/577/JI des Rates
vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die
Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Euro-
päischen Union), von Geldstrafen und Geldbußen (Rahmenbeschluss 2005/
214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes
der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen) sowie von
Einziehungsentscheidungen (Rahmenbeschluss 2006/783/JI des Rates vom
6. Oktober 2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An-

erkennung auf Einziehungsentscheidungen).

Im Rechtsetzungsverfahren befinden sich Initiativen für weitere Rechts-
instrumente zur gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen zur
Erlangung von Beweismitteln (Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des
Rates über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen,
Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren), Freiheitsstra-
fen und sonstigen freiheitsentziehenden Maßnahmen (Vorschlag für einen

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Rahmenbeschluss des Rates über die Anwendung des Grundsatzes der
gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine frei-
heitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer
Vollstreckung in der Europäischen Union), von Bewährungsstrafen (Initia-
tive für einen Rahmenbeschluss über die Anerkennung und Überwachung
von Bewährungsstrafen und alternativen Sanktionen) und von Anordnungen
in Ermittlungsverfahren (Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates
über die Europäische Überwachungsanordnung in Ermittlungsverfahren
innerhalb der Europäischen Union).

2. Voraussetzung für die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen
ist – wie es der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in seiner Ent-
scheidung vom 3. Mai 2007 in der Rechtssache C-303/05 zum Europäischen
Haftbefehl formuliert hat – ein hohes Maß an Vertrauen und Solidarität zwi-
schen den Mitgliedstaaten. Vertrauen kann es aber nur dann geben, wenn die
Grundsätze über straf- und strafverfahrensrechtliche Normen in den euro-
päischen Mitgliedstaaten auf gemeinsamen Rechtsstandards beruhen und da-
her im Wesentlichen vergleichbar sind.

In den europäischen Verträgen niedergelegt ist insoweit, dass die Grundsätze
der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grund-
freiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit allen Mitgliedstaaten gemeinsam
sind (Artikel 6 Abs. 1 des EU-Vertrags). Zudem haben alle Mitgliedstaaten
die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert.

Eine Konkretisierung der besonders in der EMRK angesprochenen Gewähr-
leistungen ist jedoch bislang nicht erfolgt. Der Vorschlag für einen Rahmen-
beschluss des Rates über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rah-
men der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen
verarbeitet werden, ist noch nicht verabschiedet. Auch über den vorliegenden
Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmte Verfahrens-
rechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union konnte bisher
keine Einigung erzielt werden. Schließlich ist auch die Grundrechtecharta
derzeit nicht rechtsverbindlich. Ob sie Bestandteil der erneuerten vertrag-
lichen Grundlage der Europäischen Union wird, ist zur Zeit vollkommen
unsicher.

3. Der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmte Verfah-
rensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union beschränkt
sich beim jetzigen Verfahrensstand auf das Recht auf Information, das Recht
auf Verteidigung, das Recht auf einen Dolmetscher und das Recht auf Über-
setzung.

Nicht enthalten sind zum Beispiel die in Artikel 5 der EMRK enthaltenen
Rechte, im Falle einer Freiheitsentziehung unverzüglich einem Richter vor-
geführt zu werden und eine richterliche Haftkontrolle zu bewirken.

Ebenso wenig finden sich die Konkretisierungen eines fairen Verfahrens, die
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung
zu Artikel 6 der EMRK entwickelt hat, in dem Entwurf wieder. Das Recht zu
schweigen ist ebenso wenig enthalten wie die Unschuldsvermutung und das
Recht auf Akteneinsicht.

Grundsätze des deutschen Strafprozessrechts, wie das in Artikel 104 Abs. 4
des Grundgesetzes enthaltene Recht, bei Freiheitsentziehungsmaßnahmen
eine Person des Vertrauens zu benachrichtigen, das in § 136a der Strafpro-
zessordnung enthaltene Verbot der dort genannten Vernehmungsmethoden
sowie die in § 140 der Strafprozessordnung normierte Pflichtverteidigung
sind in dem Entwurf ebenfalls nicht enthalten.

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Schließlich sollen die in dem Entwurf enthaltenen Rechte erst in einem Ver-
fahrensstadium gelten, in dem der Beschuldigte festgenommen ist oder einer
Straftat angeklagt ist.

4. Bei den Verhandlungen im Rat lehnen zudem 6 Mitgliedstaaten die Verab-
schiedung eines verbindlichen Rechtsinstruments völlig ab. Überlegt wird
deshalb, den Rahmenbeschluss auf die Fälle des Europäischen Haftbefehls zu
beschränken oder zum Instrument der verstärkten Zusammenarbeit zu grei-
fen.

II. Vor diesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregie-
rung gemäß Artikel 23 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes auf, sich bei den
weiteren Verhandlungen dafür einzusetzen,

1. dass der Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses angesichts der anderen
bereits verabschiedeten und noch geplanten Rechtsinstrumente zur justiziel-
len Zusammenarbeit in Strafsachen nicht auf die Fälle des Europäischen
Haftbefehls beschränkt wird;

2. dass der Vorschlag einer verstärkten Zusammenarbeit angesichts der Tat-
sache, dass sich die anderen bereits verabschiedeten und noch geplanten
Rechtsinstrumente zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nicht auf
die Mitglieder beschränken, die von der verstärkten Zusammenarbeit Ge-
brauch machen, fallengelassen wird;

3. dass eine Rechtszersplitterung dergestalt, dass nicht alle in der Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten
Beschuldigtenrechte in den Rahmenbeschluss über Verfahrensrechte in Straf-
verfahren in der Europäischen Union übernommen werden, vermieden wird;

4. dass auf die oben unter I. Nr. 3 erwähnten Grundsätze des deutschen Straf-
prozessrechts nicht verzichtet wird;

5. dass die Rechte des Beschuldigten bereits ab einem Stadium gelten, in dem
der Beschuldigte zum ersten Mal mit den Strafverfolgungsbehörden in Kon-
takt kommt und

6. dass eine Verabschiedung der derzeit in der Beratung befindlichen Vor-
schläge für Rechtsinstrumente zur gegenseitigen Anerkennung justizieller
Entscheidungen in Strafsachen nicht in Betracht kommt, solange nicht alle
teilnehmenden Mitgliedstaaten sich auf den so umrissenen Katalog von Be-
schuldigtenrechten geeinigt haben.

Berlin, den 13. Juni 2007

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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