BT-Drucksache 16/5456

Keine neuen Raketen in Europa - stattdessen Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüstungskontrolle und Abrüstung

Vom 23. Mai 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5456
16. Wahlperiode 23. 05. 2007

Antrag
der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Inge Höger, Dr. Hakki Keskin,
Katrin Kunert, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Dr. Gregor
Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Keine neuen Raketen in Europa – stattdessen Stärkung der globalen Sicherheit
durch Rüstungskontrolle und Abrüstung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Welt ist durch Massenvernichtungswaffen bedroht. Durch Rüstungskont-
rolle und Abrüstungsmaßnahmen der vergangenen Jahrzehnte wurde zwar bis
zu einem gewissen Grad das Problem der Proliferation eingehegt. Hinsichtlich
der Waffenarsenale der sieben bekannten Atommächte China, Frankreich, Groß-
britannien, Indien, Pakistan, Russland und den USA wurden jedoch kaum
Abrüstungsfortschritte erzielt. Das Zerstörungspotential ist gewaltig geblieben.
Nach wie vor können die Staaten eine Sprengkraft entfesseln um die Welt mehr
als einmal zu zerstören. Statt ihrer Pflicht zu einer ernsthaften Abrüstung nach-
zukommen, scheinen die Atomwaffenstaaten derzeit vor allem bestrebt zu sein,
ihr Monopol zu verteidigen und gerade im Bereich strategischer Waffensysteme
ihre Dominanz zu sichern. Alle Atomwaffenstaaten modernisieren ihre Träger-
systeme und erweitern die Reichweite ihrer Atomwaffen – zuletzt z. B. Groß-
britannien mit der Entscheidung zur Modernisierung der Trident-Raketen. Die
USA und Indien bauen ihre nukleare Kooperation aus, und die USA erwägen
ihre Atomsprengköpfe zu modernisieren und für neue Verwendungszwecke
anwendbar zu machen, z. B. in Form von sogenannten Mini-Nukes. Durch
strategische Raketenabwehrsysteme wird versucht, einen besseren Schutz vor
Angriffen und Vergeltungsmaßnahmen zu erreichen. In diesem Sinne dient die
Aufstellung eines strategischen Raketenabwehrsystems indirekt auch immer der
Normalisierung der Atomwaffen in den Waffenarsenalen. Um zu verhindern,
dass andere „Noch-nicht-Atomwaffenstaaten“ diese Initiativen zur Legitimation
für eine eigene atomare Aufrüstung nehmen, müssen im Hinblick auf die 2010
anstehende Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag ernsthafte
Anstrengungen unternommen werden für eine neue globale Abrüstungsinitia-
tive, die bei Arsenalen der bestehenden Atomwaffenstaaten ansetzt.
Das geplante mehrstufige Raketenabwehrsystem, welches Interkontinentalrake-
ten sowohl in der Startphase, außerhalb der Erdatmosphäre als auch nach Wie-
dereintritt abfangen soll, wird internationale Abrüstungsbemühungen vor allem
im Bereich strategischer atomarer Waffen schwächen und das gesamte Rüs-
tungskontrollregime untergraben. Zeugnis dafür ist der einseitige Ausstieg der
USA aus dem ABM-Vertrag im Jahr 2002. China und Russland interpretieren
das geplante Raketenabwehrsystem auch als Entwertung ihres militärischen

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Potentials. Durch die Stationierung von Teilen des Raketenabwehrsystems nahe
der russischen Grenze sind militärstrategische Konsequenzen zu erwarten. Die
Abfangraketen würden in einigen Fällen den russischen Luftraum durchfliegen
müssen. Die Radare würden auch Teile des russischen Atomwaffenarsenals und
Luftraums erfassen, die Abfangraketen möglicherweise auch zum Abfangen
russischer Raketen geeignet sein. Zudem haben sich die USA offengehalten,
später die dort stationierten Teilsysteme für andere Ziele und Aufgaben zu
rekonfigurieren. Die Stationierung verstößt außerdem gegen den Geist des
NATO-Russland-Abkommens von 1997, in dem die NATO Russland zusicherte,
im Zuge der Osterweiterung der NATO keine Truppen und Waffen strategischer
Bedeutung, wie z.B. Atomwaffen, in Nähe der Grenze zu Russland dauerhaft
aufzustellen. Das Raketenabwehrsystem bietet der russischen Regierung in
jedem Fall weitere Argumente um die bereits eingeleitete Modernisierung der
eigenen Atomwaffen und Trägersysteme zu beschleunigen. Ein funktionieren-
des Raketenabwehrsystem bedeutet außerdem die verstärkte militärische Nut-
zung des Weltraums durch Stationierung von Früherkennungssatelliten und
durch die Entwicklung von Waffen für Abfangmissionen außerhalb der Erd-
atmosphäre. Internationale Bemühungen für ein Verbot der militärischen Nut-
zung des Weltraums werden dadurch unterlaufen. Andere Staaten können dies
als Rechtfertigung dafür nehmen, selber geeignete Schutzmaßvorrichtungen im
Weltraum zu stationieren.

Das Raketenabwehrsystem der USA dient der Absicherung der geopolitischen
Dominanz und militärischen Interventions- und Machtpolitik. Es unterstreicht
die aggressive globale Counter-Proliferation Strategie der USA, inklusive des
beanspruchten Vorrechts, Atomwaffen als erste auch gegen Nichtatomwaffen-
staaten einzusetzen. Jegliche Unterstützung und Duldung eines US-Systems auf
dem Gebiet der NATO-Mitgliedstaaten bzw. in der Europäischen Union bedeu-
tet daher eine symbolische Unterstützung der derzeitigen US-Strategie. Vor die-
sem Hintergrund müssen die Raketenabwehrpläne der USA und die Überlegun-
gen der NATO, sowohl ein mehrstufiges Raketenabwehrsystem für den Schutz
von NATO-Truppen bei militärischen Einsätzen im Ausland aufzustellen als
auch ein System für einen Schutz der NATO-Mitgliedstaaten zu entwickeln,
zusammen betrachtet werden. Sie sind: Initiativen zur Absicherung und Stär-
kung der jeweiligen militärischen Offensivfähigkeiten.

Das US-Raketenabwehrsystem untergräbt internationale Bemühungen, durch
Dialog und vertrauensbildende Maßnahmen Bedrohungen zu minimieren,
Rüstungskontrolle zu stärken und Abrüstung zu erreichen. Das Beispiel der
Verhandlungen über das nordkoreanische Atomwaffenprogramm unterstreicht,
dass sich Fortschritte durch internationale diplomatische Bemühungen erzielen
lassen. Eine Gewährleistung der eigenen Unverwundbarkeit reduziert zwangs-
läufig die Bereitschaft, mit friedlichen diplomatischen Mitteln und unter
Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der anderen Staaten eine Lösung in
Proliferationsfragen herbeizuführen. Es ist daher mit Sorge zu betrachten, dass
die Unterstellungen der US-Regierung hinsichtlich der Intentionen und Hand-
lungen des Iran sowie die Aufstellung eines gegen den Iran gerichteten Raketen-
abwehrsystems eher auf eine Verhärtung des Konfrontationskurses mit der
iranischen Regierung hindeuten und die Bemühungen um vertrauens- und
sicherheitsbildende Maßnahmen mit dem Iran insgesamt erschwert werden.
Ohnehin erfolgt die Aufstellung eines Raketenabwehrsystems zum Schutz der
USA vor einem Angriff mit nuklearbestückten Interkontinentalraketen, d. h.
Raketen mit einer Reichweite von mehr als 5 500 km und einer Fluggeschwin-
digkeit von mehr als 5 km pro Sekunde, ohne den Nachweis, dass eine reale
Bedrohung vorliegt. Gleiches gilt für die Behauptung, dass durch die Stationie-
rung von Teilsystemen in Polen und der Tschechischen Republik auch Europa

vor Interkontinentalraketen aus dem Nahen Osten geschützt werden kann.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5456

Die Gefahr ist groß, dass die von den USA geplante Stationierung von Radar-
systemen in der Tschechischen Republik und Abfangraketen in Polen die
Entstehung einer neuen Aufrüstungsspirale im Bereich strategischer Waffen-
systeme fördert. Die für dieses globale Programm zuständige Ballistic Missile
Defense Organisation geht davon aus, dass mehrere 100 Mrd. US-Dollar noch
investiert werden müssen, um das umfassende Raketenabwehrsystem inklusive
weltraumgestützter Radare, orbitaler Abfangraketen und Laserwaffen vollstän-
dig zu realisieren. Auch andere Staaten werden als Antwort auf die US-ameri-
kanische Aufrüstung bestrebt sein, ein ähnliches System aufzubauen und ein
noch größeres Arsenal an nuklearen Interkontinentalraketen zur Überwindung
des Abwehrschirms aufzustellen.

Insgesamt ist festzustellen: Die im Raketenabwehrsystem gebündelten und
integrierten strategischen Waffensysteme bergen ein erhebliches Risiko für die
Menschheit. Die Folgen einer nuklearen Explosion im Weltraum für die
Bevölkerung sind nicht einmal annähernd abzuschätzen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich weder bilateral noch innerhalb der NATO für die Stationierung eines
Raketenabwehrsystems in Polen, Tschechien oder einem anderen euro-
päischen Staat zu verwenden;

2. sich weder bilateral noch innerhalb der NATO an der Entwicklung und dem
Aufbau eines Systems zur Abwehr interkontinentaler ballistischer Raketen
zu beteiligen;

3. sich sowohl bilateral als auch innerhalb der NATO dafür einzusetzen, dass
auch die bereits installierten Raketenabwehr-Frühwarnsysteme in Groß-
britannien und Dänemark außer Dienst gestellt werden;

4. eine weitere Militarisierung des Weltraums zu verhindern und sich für ein
Zusatzprotokoll einzusetzen, welches auch den temporären Aufenthalt von
Waffensystemen im Weltraum untersagt, sowie sich noch stärker dafür ein-
zusetzen, dass im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz Verhandlungen
über ein Abkommen zur Verhinderung der Stationierung von Waffen im
Weltraum aufgenommen werden;

5. sich noch intensiver einzusetzen für einen Dialog zwischen den USA und
dem Iran zur diplomatischen Lösung der politischen Konflikte;

6. neue Anstrengungen zu unternehmen den „Haager Verhaltenskodex gegen
die Proliferation ballistischer Raketen“ zu stärken und weitere wichtige
Staaten, die über Trägertechnologien verfügen, zu einem Beitritt zu bewegen;

7. rechtzeitig im Rahmen der Vorbereitungstreffen für die Überprüfungskon-
ferenz des Nichtverbreitungsvertrags im Jahr 2010 Vorschläge für Abrüs-
tungsschritte der Atomwaffenbesitzerstaaten zu erarbeiten und in die Vor-
bereitung einzubringen.

Berlin, den 23. Mai 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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