BT-Drucksache 16/5271

Konkrete Maßnahmen und verbindliche Strukturen für bessere Ernährung und mehr Bewegung umsetzen

Vom 9. Mai 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5271
16. Wahlperiode 09. 05. 2007

Antrag
der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Volker Beck (Köln) Cornelia Behm,
Kai Gehring, Peter Hettlich, Undine Kurth (Quedlinburg), Christine Scheel, Hans-
Josef Fell, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Reinhard
Loske, Nicole Maisch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Konkrete Maßnahmen und verbindliche Strukturen für bessere Ernährung und
mehr Bewegung umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit 2004 hat das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft zahlreiche positive Initiativen zur Prävention von Übergewicht
angestoßen, u. a. die Plattform für Ernährung und Bewegung e. V. und Projekte
zur Verbesserung der Schulverpflegung wie die Vernetzungsstelle Schulverpfle-
gung in Berlin. Der Leitgedanke einer bewussten und genussvollen Ernährungs-
kultur steht dabei im Vordergrund. Die jüngsten Studien machen deutlich, dass
das Problem Übergewicht und Fehlernährung bei Kindern und Jugendlichen so
virulent ist, dass die Bundesregierung nun weitergehende Sofortmaßnahmen er-
greifen muss.

Langfristig sind in einem zentralen Lebensbereich wie der Ernährung Verbote
unzureichend. Im Zentrum der Maßnahmen der Bundesregierung muss deswe-
gen die Stärkung der Entscheidungsfähigkeit von Kindern, Jugendlichen und
Eltern, aber auch Lehrerinnen, Lehrern und anderen pädagogischen Fachkräften
stehen. Sie müssen als Verbraucherinnen und Verbraucher informiert und bera-
ten werden, um individuell für sich und ihre Familien, aber auch in Institutionen
wie Schulen und Bildungseinrichtungen verantwortliche Entscheidungen treffen
zu können. In die Entscheidungsprozesse der Schulen müssen dabei Eltern,
Schülerinnen und Schüler wie auch der Schulträger und das Schulteam gleicher-
maßen einbezogen werden. Der Bund muss in einem „Bottom-up-Prozess“
durch die Schaffung und Finanzierung von Netzwerken und Kampagnen die da-
für notwendige Information, Meinungsbildung, Selbstbefähigung und Entschei-
dungsfindung unterstützen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben durch vielfäl-
tige Vernetzungsprojekte in den letzten Jahren bereits gute Grundlagen gelegt,
um den notwendigen Bewusstseinswandel zu fördern und Verbesserungen zu
entwickeln. Hier gilt es anzusetzen.
Die eindringliche Warnung von Ernährungsforschern und der Weltgesundheits-
organisation WHO, dass Übergewicht den Stellenwert einer Epidemie hat, erfor-
dert vor allem in Deutschland eine glaubwürdige und konkrete Politik und Un-
terstützung einer gesundheitsförderlichen Lebensführung. Nach Studien des
Robert Koch-Instituts sind ca. zwei Drittel der männlichen Bevölkerung und
ca. die Hälfte der weiblichen Bevölkerung in Deutschland übergewichtig oder
fettleibig (adipös). Nach der im April 2007 veröffentlichten Studie der Interna-

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tional Association for the Study of Obesity führt Deutschland mit 75,4 Prozent
übergewichtiger Männer und 58,9 Prozent übergewichtiger Frauen sogar die eu-
ropäische Vergleichsliste an.

Übergewicht wird für den Anstieg verschiedener Folgeerkrankungen, wie Blut-
hochdruck, koronare Herzerkrankungen, Typ-2-Diabetes und orthopädische
Erkrankungen verantwortlich gemacht. Allein die Herz-Kreislauf-Leiden verur-
sachen in Deutschland Behandlungskosten von 35 Mrd. Euro jährlich. Wenn es
nicht gelingt die falsche Ernährung schnell umzusteuern, werden die Folge-
kosten von ernährungsmitbedingten Erkrankungen für das deutsche Gesund-
heitssystem in den kommenden Jahren von jetzt etwa 70 Mrd. Euro auf über
100 Mrd. Euro ansteigen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO fordert in ihrer „Globalen Strategie für
Ernährung, körperlicher Aktivität und Gesundheit“ die Mitgliedstaaten auf, Maß-
nahmen gegen die „Epidemie“ Übergewicht zu ergreifen. Sowohl das WHO-
Forum zum Lebensmittelmarketing als auch das Europäische Parlament sehen
einen Zusammenhang zwischen Werbung für ausschließlich für Kinder be-
stimmte Lebensmittel und dem Konsumverhalten und fordern Werbeeinschrän-
kungen beim Marketing für zu kalorienhaltige bzw. nährstoffarme Lebensmittel.

Die Bundesregierung ist aufgefordert bei einem Aktionsplan zur gesunden Er-
nährung und Bewegung statt hehrer Worte konkrete Taten zur Lösung des na-
tionalen Problems Übergewicht umzusetzen und nicht bei der Definition von
langfristigen Bildungszielen stecken zu bleiben. Erforderlich sind neben einer
Veränderung der strukturellen Verhältnisse, insbesondere ein Präventionsgesetz,
und einem neuen Ordnungsrahmen für die gesunde Ernährungskultur des
21. Jahrhunderts, vor allem ein ehrgeiziges Maßnahmenpaket, das konkret und
schnell greift und alle Verantwortlichen für bessere Bedingungen einer gesund-
heitsfördernden Lebensweise in die Pflicht nimmt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. gesetzliche Regelungen für die Werbung mit Kinderlebensmitteln zu schaf-
fen und Regeln für sonstige verkaufsfördernde Maßnahmen an Schulen und
in öffentlichen Jugendeinrichtungen vorzulegen;

2. eine unternehmensübergreifende, verbraucherfreundliche Kennzeichnung
auf Lebensmitteln verbindlich vorzuschreiben, die wie die Ampelkennzeich-
nung der britischen Lebensmittelbehörde klar und einfach vermittelt, wel-
chen Beitrag das Lebensmittel zu einer gesunden Ernährung leisten kann;

3. im Rahmen der Ernährungsforschung Lebensmittelprodukte, die weniger
Fett und Zucker enthalten, möglichst naturbelassen sind und die in empfeh-
lenswerten Portionsgrößen angeboten werden, in den Mittelpunkt zu stellen;

4. dafür einzutreten, dass bekannte Dickmacher wie Süß- und Snackwaren bzw.
süße Erfrischungsgetränke nicht mehr in Verkaufsautomaten und Cafeterien
der Schulen und Jugendeinrichtungen angeboten werden;

5. ein Präventionsgesetz verbunden mit der Einrichtung einer Präventionsstif-
tung vorzulegen, damit Strukturen zu schaffen und für deren finanzielle Aus-
stattung Sorge zu tragen, um eine umfassende, aufeinander abgestimmte,
lebenswelt- bzw. settingbezogene Prävention voranzubringen die unter ande-
rem Maßnahmen zu gesunder Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung
berücksichtigt;

6. sich dafür einzusetzen, dass die gesetzlichen Krankenkassen die aktuell über
den § 20 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) zur Prävention zur
Verfügung stehenden Gelder voll ausschöpfen und stärker in lebenswelt- und

zielgruppenorientierte Präventionsprogramme investieren und Ernährung
und Bewegung einbeziehen;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5271

7. ein 20 Mio. Euro umfassendes Bundesprogramm Ernährung und Bewegung
aufzulegen, dessen Maßnahmenpaket sich bevorzugt an sozial und ökono-
misch schwache Zielgruppen richtet, die lokale Vernetzung und das Zusam-
menführen der verschiedenen Akteure auf Bundes-, Landes- und kommuna-
ler Ebene, z. B. auch der durch die Bundesministerien für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz und für Gesundheit finanzierten Projekte
und Programme, fördert und das jährlich über die Entwicklung der Maßnah-
men und der Zahl übergewichtiger und fettleibiger Personen berichtet;

8. die Forschungsmittel für diesen Bereich zu erhöhen. Dies gilt sowohl für die
einschlägige Ressortforschung als auch für die ressortübergreifende Pro-
grammforschung, die v. a. die sozialen und kulturellen Bedingungen der Ver-
änderung von Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten beforschen sollte
sowie Methoden und Instrumente zur Qualitätsentwicklung und Evaluation
von Präventionsansätzen vorantreibt;

9. Ansätze der Stadtentwicklung mit vielen kostenlos zugänglichen Grünanla-
gen für Stadtklima und Bewegung und einer fußgänger- und fahrradfreund-
lichen Infrastruktur, besonders bei der Schulweggestaltung, zu unterstützen
und den öffentlichen Raum so zu gestalten, dass dem kindlichen Bewegungs-
drang Rechnung getragen wird. Außerdem müssen die Ansätze des Bund-
Länder-Programms „Soziale Stadt“ entsprechend weiterentwickelt werden
und die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Kindern
das Spielen in den Mietshäusern umgebenden Grünanlagen nicht mehr unter-
sagt werden kann.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung weiterhin auf, sich ge-
meinsam mit den Ländern dafür einzusetzen,

1. eine verbindliche Beratung für die Schulen auf den Weg zu bringen, die Un-
terstützung in Fragen zu Ernährung, Bewegung und Gesundheit anbietet.
Dazu gehört auch das Ziel, möglichst flächendeckend gesunde und kosten-
günstige Schulessen anzubieten, etwa durch Beratung über regionale Ange-
bote von Bio-Catering;

2. die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für die Schul-
verpflegung verbindlich zur Grundlage zu machen;

3. Maßnahmen im schulischen Umfeld, in Kindertagesstätten und Jugendein-
richtungen zu entwickeln, die den kindlichen bzw. jugendlichen Ge-
schmackssinn durch einführende Kochkurse und praktische Lebensmittel-
kunde anregen und die regelmäßige körperliche Bewegung und eine gesunde
Lebensweise und Esskultur bewerben;

4. eine Fortbildung von Lehrerinnen, Lehrern und anderem pädagogischem Per-
sonal sicherzustellen, die Unterrichtsinhalte wie Gesundheit, gesunde Ernäh-
rung, Bewegungsförderung und innovative Hauswirtschaft in Ausbildung
und Lehrinhalten von Lehr- und Erziehungskräften sowie den medizinischen
Berufen stärkt;

5. den Gesundheits- und Breitensport umfassender als bisher zu fördern und die
Bewegungserziehung in den Schulalltag einzubauen. Dabei sollen Netz-
werke unterstützt werden, in denen die Sportorganisationen, freien Träger
und Schulträger ihre Maßnahmen für mehr Sport und Bewegung im Alltag
gegenseitig ausbauen können und Modellprojekte für eine sport-, spiel- und
bewegungsfreundliche Stadt stärker initiiert sowie bestehende Förderpro-
gramme konsequent für mehr Sport- und Bewegungsangebote genutzt wer-
den;

6. sich für eine Stärkung der Familienbildung bzw. von Elternkompetenzen ein-

zusetzen und dort als einen Schwerpunkt die Bedeutung von Gesundheitsprä-
vention, gesunder Ernährung und Bewegung zu vermitteln;

Drucksache 16/5271 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

7. eine bedarfsdeckende, gesunde Verpflegung und moderne Essräume in Schu-
len und Kindertagesstätten anzubieten.

Berlin, den 9. Mai 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Angesichts von knapp 40 Millionen Bundesbürgerinnen und -bürgern mit Über-
gewichtsproblemen wird die Verantwortung des Staates für dieses Ernährungs-
problem, anders als noch vor wenigen Jahren, nicht mehr ernsthaft bestritten.
Das Problem von Übergewicht und Adipositas (starkes Übergewicht) hat sich
seit dem Zeitraum von 1985 bis 1999 dramatisch verschärft. So gibt es 50 Pro-
zent mehr übergewichtige und doppelt so viele adipöse Kinder wie noch vor 20
Jahren. In absoluten Zahlen ausgedrückt: 1,9 Millionen übergewichtige (15 Pro-
zent) und 800 000 (6,3 Prozent) adipöse Kinder und Jugendliche stellt die Kin-
dergesundheitsstudie KIGGS des Robert Koch-Instituts im Jahr 2006 fest. Be-
sonders häufig betroffen sind Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus,
mit Migrationshintergrund und deren Mutter übergewichtig oder adipös ist.

Seit 2004 hat Deutschland auf Initiative des Ernährungsministeriums mit neuen
Strategien zur Prävention von Übergewicht – neben der Ernährungsaufklärung
auch die Bewegungsförderung und die Stressbewältigung – erste Grundlagen
für eine neue Ernährungsbewegung gelegt. Im Vordergrund der Maßnahmen
standen vor allem die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher und der
Kinder. Eine besondere Bedeutung kommt dabei Erziehungs-, Bildungs- und
Präventionsmaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen zu.

Die bisherigen Fortschritte reichen aber nicht aus und müssen auf der Grundlage
der bisherigen Erfahrungen noch stärker konkretisiert und auf schnellgreifende
Maßnahmen ausgerichtet werden. Insbesondere sind nun auch die Länder, die
Schulträger und die Schulen sowie die Ernährungs- und Werbewirtschaft in die
Programme mit einzubeziehen.

Die Aktivitäten der Bundesregierung in den letzten Monaten waren zu sehr von
unproduktiven Schuldzuweisungen an Eltern und Schulen sowie unverbindli-
chen und halbherzigen Diskussionen um das richtige Bildungsangebot geprägt.
Die ernste Lage der Epidemie Übergewicht ist dadurch ebenso heruntergespielt
worden wie wertvolle Zeit verloren gegangen.

Ursachen und Folgen von Übergewicht

Übergewicht entsteht als Folge einer anhaltend positiven Energiebilanz, also
einer zu hohen Energieaufnahme in Bezug auf den Energieverbrauch. Dies hat
viele Ursachen. Falsche, nicht an den Lebensstil angepasste Ernährung mit zu
viel Fett und Zucker ist eine davon. Mangelnde Bewegung aufgrund veränderter
Lebensbedingungen eine andere. Aber auch sozioökonomische wie -kulturelle
Gründe werden von der Wissenschaft verantwortlich gemacht. Das Spektrum
reicht von aggressiver Werbung, übermäßigem Fernsehkonsum, Reduzierung
der Freizeitakitiväten auf Computerspiele, genetisch-biologischen Faktoren bis
hin zum Schlaf- und Freizeitverhalten.

In zunehmendem Maße sind gerade auch junge Menschen aus sozioökonomisch

schwachen Haushalten mit Migrationshintergrund betroffen. So ist nach den Da-
ten der Schuleingangsuntersuchungen in Berlin 2001 der Anteil an adipösen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/5271

Kindern aus Ausländerfamilien mit über 20 Prozent am höchsten, im Vergleich
zu 10,6 Prozent bei den herkunftsdeutschen Kindern.

Der signifikante Trend zum Übergewicht verschärft auch die Folgeerkrankun-
gen. Ansteigende Fälle von sogenannter Altersdiabetes bereits im Kindesalter,
motorische Einschränkungen durch Fettleibigkeit in jungen Jahren, die die Auf-
nahme einer Berufstätigkeit erschweren, oder psychische Probleme im Zusam-
menhang mit dem Körpergewicht werden die Sozial- und Gesundheitssysteme
mittel- bis langfristig belasten. Auch die persönliche Lebensqualität der Betrof-
fenen leidet darunter oftmals nachhaltig.

Die Behandlungskosten für ernährungsmitbedingte Erkrankungen umfassen
5 bis 10 Prozent der Gesundheitskosten einer Volkswirtschaft. Allein die Herz-
Kreislauf-Leiden verursachen in Deutschland Behandlungskosten von 35 Mrd.
Euro jährlich, Krankheiten des Muskel- und Skelettsystems 25 Mrd. Euro und
sonstige ernährungsmitbedingte Krankheiten verursachen weitere 10 Mrd. Euro.

Gute Ansätze zur Förderung des Ernährungsbewusstseins

Die zahlreich durchgeführten Ernährungsprojekte der rot-grünen Bundesregie-
rung konzentrierten sich zunächst auf einen Bewusstseinswandel in Kindergar-
ten, Schule und Öffentlichkeit, z. B.

● Projekt „Essen + Schule = Note 1“ bietet Schulen Unterstützung beim Thema
Schulverpflegung.

● REVIS (Reform zur Ernährungs- und Verbraucherbildung in Schulen) war
ein Forschungsprojekt der Universitäten Paderborn, Flensburg, Heidelberg,
das innovative Bildungsziele und -kompetenzen für die Ernährungs- und Ver-
braucherbildung entwickelt hat, die von den Ländern nun nur noch umgesetzt
werden müssen.

● Kampagne „Kinderleicht“ wirkt dem zunehmenden Übergewicht bei Kin-
dern und Jugendlichen präventiv entgegen.

● Kampagne „Bio kann jeder“ unterstützt die von 90 Prozent der Eltern ge-
wünschte Einführung von Bio-Lebensmittel in die Gemeinschaftsverpfle-
gung von Kindern und Jugendlichen.

● Modellvorhaben „Gesunde Schulverpflegung an Berliner Grundschulen“ mit
einer sehr erfolgreichen Vernetzungsstelle für die Schulverpflegung in Ber-
lin.

● Wettbewerb „Kinderleicht. Besser essen. Mehr bewegen“, der mit über
15 Mio. Euro 24 Präventionsprojekte über 3 Jahre in ganz Deutschland för-
dert und vernetzt.

● Die Nationale Verzehrstudie II wird Anfang 2008 aktuelle Erkenntnisse über
den Ernährungszustand der Bevölkerung vorlegen.

Mittlerweile wird auf vielen Fachtagungen und Diskussionsveranstaltungen
über die Rolle der Ernährung für eine gesunde Lebensführung diskutiert und der
Staat zum Handeln aufgefordert.

Der Leitgedanke einer bewussten und genussvollen Ernährungskultur wie sie
auch von Initiativen wie Slow food und Vertretern der ökologischen Ernährung
vertreten werden, steht dabei zu Recht im Vordergrund.

Aufklärung und Bildung reichen nicht aus

Die von der Plattform Ernährung und Bewegung e. V. (peb) beauftragte Unter-
suchung „Wege zur nachhaltigen Erreichbarkeit von Eltern zur Prävention des

Übergewichtes bei Kindern und Jugendlichen“ aus dem Jahre 2006 kommt zu

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dem Ergebnis, dass Bildungsarbeit mit sozial benachteiligten Eltern am wir-
kungsvollsten durch direkte Gespräche in kleinen Gruppen, in lokalen Netzwer-
ken und niedrigschwelligen Angeboten durchzuführen ist. Neben Informationen
sind also strukturelle Aspekte und zielgruppenorientierte Kommunikationsstra-
tegien erfolgsentscheidend.

Die Auswertung internationaler Präventionsprogramme zeigt ebenfalls, dass
Aufklärung und Information nicht ausreichend sind, um das Ess- und Bewe-
gungsverhalten dauerhaft zu verbessern, wenn die gesellschaftlichen Verhält-
nisse nicht ebenfalls geändert werden.

Gesundheit und Krankheit entstehen in den Lebenswelten (Settings) der Men-
schen (Schulen, Betriebe, Kindertagesstätten, Stadtteile/Kommunen). Einen we-
sentlichen Anteil haben die Lebensbedingungen wie Einkommen, Bildung, so-
ziale Beziehungen. Bei sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen wirken pre-
käre Lebensbedingungen (Einkommens- und Arbeitslosigkeit, fehlende soziale
Netze etc.) oft als Risikofaktor. Sie bedingen unter anderem Übergewicht und
Adipositas. Präventionsprogramme müssen deshalb auch an den Lebensbedin-
gungen ansetzen und diese verbessern. Es gilt, die Lebenswelt selbst positiv zu
beeinflussen und sie nicht nur als Zugang für Maßnahmen zu nutzen. Hier bietet
sich das Instrument der Kampagne an, bei der die Lebenskontexte durch einen
Maßnahmen-Mix (Information, Aufklärung, Befähigung, Möglichkeiten der
Einflussnahme) längerfristig positiv beeinflusst werden.

Bereits heute fördern die gesetzlichen Krankenkassen Präventionsprogramme,
die in den Lebenswelten der Menschen ansetzen. Hierbei handelt es sich laut
§ 20 SGB V um Maßnahmen, die den allgemeinen Gesundheitszustand verbes-
sern sollen. Diese Maßnahmen sind zumeist unspezifisch (Kompetenzerwerb,
Steigerung des Selbstwertgefühls etc.) und zielen auch auf strukturelle Verände-
rungen in den Lebenswelten ab. Die Menschen werden durch umfassende Teil-
habe an diesen Programmen in die Lage versetzt, selbstbestimmt mit ihrer Ge-
sundheit umzugehen. Genau diesen Aspekt erfüllen viele der von den Kranken-
kassen angebotenen, auf die Individuen zielenden, Kurse (z. B. Rückenschule)
nicht. Erreicht werden insbesondere Personengruppen, die ohnehin schon ge-
sundheitsbewusst leben.

Etliche Ernährungsprogramme haben sich als wenig wirksam und nachhaltig er-
wiesen. Die Programme sind oft nicht hinreichend in Qualitätsentwicklungspro-
zesse eingebunden. Gerade für komplexe Ernährungsprogramme, die in den Le-
benswelten (Settings) der Menschen ansetzen, wurden in jüngerer Vergangen-
heit entsprechende Instrumente entwickelt. So ermittelt die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung Projekte guter Praxis, deren Qualität mit den vor
Ort tätigen Akteurinnen und Akteuren weiterentwickelt wird. Die Spitzenver-
bände der gesetzlichen Krankenkassen haben in jüngster Vergangenheit Evalu-
ierungsinstrumente für Setting-Projekte entwickelt. Ein weiteres Evaluierungs-
instrument steht mit dem Health Impact Assessment zur Verfügung. Hier kön-
nen die Auswirkungen politischer Programme auf die Gesundheit der Bevölke-
rung analysiert werden. Diese Erfahrungen gilt es zu nutzen und sie in eine
Gesamtstrategie zu integrieren.

Städtische Lebensräume und das Wohnumfeld beeinflussen die Gesundheit.
Auch hier gilt es, diese gesundheitsgerecht zu beeinflussen (z. B. durch Grünflä-
chen, Spielplätze, Fahrradwege etc.). Vor allem aber hilft der Aufbau von ge-
sundheitsförderlichen Strukturen. Auch hier gibt es bereits gute Ansätze wie das
Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die
soziale Stadt“ oder das Programm „Entwicklung und Chancen junger Menschen
in sozialen Brennpunkten“. Diese Programme können helfen, Übergewicht und
Adipositas zu reduzieren, und sollten Synergieeffekte mit durch die Bundes-

ebene geförderten Präventionsaktivitäten nutzen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/5271

Im Rahmen der Haushaltsberatungen 2008 sollten auch Vorschläge eingebracht
werden, die im Rahmen der Ressortforschung Methoden und Instrumente zur
Qualitätsentwicklung, Wirksamkeitsnachweisen und Evaluation von Präven-
tionsansätzen und -projekten sichten, bewerten und gegebenenfalls weiterent-
wickeln.

Neuer Ordnungsrahmen für klare Ernährungsbotschaften

Die WHO sieht einen überzeugenden wissenschaftlichen Beleg für den kausalen
Zusammenhang zwischen Übergewicht und Fettverzehr und einen wahrschein-
lichen Zusammenhang zum übermäßigen Verzehr von Zucker. Ein Forum der
Weltgesundheitsorganisation WHO zum Lebensmittelmarketing für Kinder hat
sich bereits im Mai 2006 dafür ausgesprochen, Kinder durch Werbeeinschrän-
kungen vor dem Marketing für zu kalorienhaltige bzw. nährstoffarme Lebens-
mittel zu schützen.

Auch das Europäische Parlament verurteilt in seiner Entschließung zur „Förde-
rung gesunder Ernährung und körperlicher Bewegung: eine europäische Dimen-
sion zur Verhinderung von Übergewicht, Adipositas und chronischen Krankhei-
ten“ (2006/2231(INI)) die Häufigkeit und Intensität der Fernsehwerbung für
ausschließlich für Kinder bestimmte Lebensmittel und weist darauf hin, dass
eindeutig nachgewiesen wurde, dass die Fernsehwerbung das kurzfristige Kon-
sumverhalten von Kindern zwischen 2 und 11 Jahren beeinflusst.

Einige europäische Länder wie Großbritannien oder Lettland haben bereits
Maßnahmen wie Werbeverbote für Süßwaren im Fernsehen vor 21 Uhr oder ein
Verkaufsverbot von ungesunden Lebensmitteln an Schulen ergriffen.

Die EU-Verordnung für nährwert- und gesundheitsbezogene Lebensmittelkenn-
zeichnung stellt seit Anfang 2007 die Auslobungen auf Lebensmittelverpackun-
gen auf eine neue Grundlage. Werbebotschaften mit Gesundheitsbezug müssen
in Zukunft wissenschaftlich belegt sein und werden in einem europaweiten Re-
gister gesammelt. Bis 2010 soll ein verbraucherfreundliches Kennzeichnungs-
system entwickelt werden.

Die britische Lebensmittelbehörde Food Standard Agency (FSA) hat seit 2004
an einer Methode gearbeitet, die Verbraucherinnen und Verbrauchern zeigen
soll, welches Lebensmittel gut und welches schlecht für die tägliche Ernährung
ist. Aufgrund wissenschaftlicher Studien und Verbraucherbefragungen wurde
ein Kennzeichnungssystem entwickelt, das einfach und leicht verständlich ist
und den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Kaufentscheidung erleichtern
soll. In Studien bevorzugten 65 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
farbige Darstellungen, eine Ampel-Kennzeichnung kam auf die besten Ergeb-
nisse: Rote, gelbe oder grüne Punkte weisen auf einen hohen, mittleren oder
niedrigen Gehalt an Fett (gesamt), gesättigten Fettsäuren, Zucker oder Salz in
den gekennzeichneten Lebensmitteln hin.

Ein widerspruchfreies politisches Vorgehen bezieht auch die Kommunikation
von Ernährungsbotschaften durch andere Akteure mit ein. Seriöse Ernährungs-
aufklärung darf durch anders lautende Werbebotschaften nicht entwertet wer-
den. Allein für Schokolade und Zuckerwaren wurden in Deutschland im Jahr
2004 mit 569,1 Mio. Euro Werbegeldern ein hundertfaches von dem eingesetzt,
was die Bundesregierung mit bescheidenen 5 Mio. Euro für Ernährungsaufklä-
rung vorgesehen hat. Und der Ernährungsbericht 2004 der Deutschen Gesell-
schaft für Ernährung kommt zu dem Schluss, dass Süßes und fette Snacks mit
25 Prozent am häufigsten im Fernsehen dargestellt werden und das im Fernse-
hen vermittelte Ernährungsbild nur wenig mit einer Gesundheit fördernden Er-
nährung zu tun hat.

Drucksache 16/5271 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Gesunde Ernährung an Schulen

Um den Trend in der Entwicklung von Übergewicht abzuschwächen und mög-
lichst umzukehren, müssen Maßnahmen zur Ernährung und Bewegung in Kin-
dertagesstätten, Schulen, Ausbildung und Bildungswesen umgehend konkreti-
siert werden. Kinder sollten von frühester Kindheit an mit einem ausgewogenen
und gesundheitsfördernden Lebensstil vertraut gemacht werden. Die Stärkung
eines gesunden Ernährungsbewusstseins und die Förderung der Ernährungsin-
formation und -bildung in Kindertagesstätten, Schulen und im Alltag benötigen
dringend ein Umdenken und neue Wege in den zuständigen Länderministerien.
Aus- und Fortbildungsleitlinien von Lehr- und Erziehungskräften sowie medizi-
nischen Berufen müssen entsprechend angepasst werden.

Die Gemeinschaftsverpflegung in Schulen, Kindergärten oder öffentlichen Ein-
richtungen brauchen hochwertige Qualitätsstandards und einen kostengünsti-
gen, möglichst kostenlosen Zugang für sozio-ökonomisch Benachteiligte. Ein
verpflichtendes Angebot, das die neuen DGE-Empfehlungen für gesunde Schul-
verpflegung verbindlich einhält, sollte bei Ganztagsbetreuung zur Förderauflage
werden. Schädliche Störfaktoren wie Marketing für Süßwaren oder Soft drinks
oder ungesunde Sortimente in Verkaufsautomaten müssen durch die Landesge-
setzgebung verhindert werden.

Gerade auch Kindertagesstätten und Schule können die Bewegungs- und Ernäh-
rungsgewohnheiten nachhaltig beeinflussen: Spielerische Bewegung, regelmä-
ßiger Sport, ausgewogene Ernährung und gesunder Lebensstil sollten deshalb
schwerpunktmäßig vorgesehen werden. Der Ausbau des Schulsports und breit
angelegte Sportkampagnen für die Allgemeinheit ergänzen die gesunde Schul-
verpflegung. Auch hier kommt den Ländern eine besondere Verantwortung zu.

Neue Strukturen für eine konsistente Ernährungspolitik

Auch in der Europäischen Union wurde mit dem Grünbuch über die „Förderung
gesunder Ernährung und körperlicher Bewegung: eine europäische Dimension
zur Verhinderung von Übergewicht, Adipositas und chronischen Krankheiten“
ein umfangreicher Konsultationsprozess angestoßen und nach deutschem Vor-
bild mit der europäischen Plattform „Ernährung, Bewegung und Gesundheit“
eine neue Struktur unter Einbeziehung aller Altersgruppen und verschiedener
Institutionen und Akteure eingerichtet.

Dieser integrierte Ansatz zur Prävention von Übergewicht wird seit Mai 2004
von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Rahmen der „Globalen Strate-
gie für Ernährung, körperliche Aktivität und Gesundheit“ empfohlen. Das vom
Deutschen Bundestag verabschiedete Präventionsgesetz (Bundestagsdruck-
sache 15/5363) mit einer Stiftung „Prävention und Gesundheitsförderung“ und
neuen Präventionsprogrammen muss endlich in Kraft treten.

Die Komplexität des Problems Übergewicht verlangt nach vielfältigen Maßnah-
men und einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung, die von allen gesell-
schaftlichen Akteuren getragen wird. Deshalb stehen gerade auch Eltern, Erzie-
her, Lehrer, Ärzte, Krankenkassen, aber auch die Lebensmittelindustrie und die
Werbewirtschaft jeweils in ihrem Verantwortungsbereich in der Pflicht.

Vor Ort muss mit Kindertagesstätten, Schulen, Horten und sonstigen Bildungs-
einrichtungen, im Schul- und Vereinssport sowie in Einrichtungen der Kinder-
und Jugendarbeit ein breites und dichtes Netz für die Bekämpfung und Präven-
tion von Übergewicht geschaffen werden. An 24 Standorten fördert die Bundes-
regierung bereits regionale und lokale Initiativen aus den Bereichen Ernährung,
Bewegung, Erziehung und Gesundheit, die sich mit dem Ziel zusammenge-
schlossen haben, Übergewicht bei Kindern in Deutschland vorzubeugen. Dieser

Ansatz muss ausgebaut werden. Die Schulverpflegung muss ebenso einbezogen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/5271

werden wie kommunale Aktivitäten zur Bewegungsförderung. Ziel von Stadt-
planung und Architektur muss die bewegungsfreundliche Stadt, eine moderne
Fußgänger- und Radwegeinfrastruktur und eine bewegungsaktive Gebäudege-
staltung sein. Spielverbote für Kinder in den Wohnhäusern umgebenden Grün-
anlagen sollten endgültig der Vergangenheit angehören.

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