BT-Drucksache 16/5245

Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements

Vom 9. Mai 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5245
16. Wahlperiode 09. 05. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Katrin Kunert,
Kersten Naumann, Elke Reinke, Jörn Wunderlich, Oskar Lafontaine
und der Fraktion DIE LINKE.

Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Bürgerschaftliches Engagement befördert den sozialen Zusammenhalt des
Gemeinwesens und damit die soziale Integration sowohl der Aktiven als auch
der Betroffenen. Allerdings dient dieses Engagement heute mehr denn je als
Ersatz öffentlicher Leistungen und damit der finanziellen Entlastung der
öffentlichen Hand. Viele Kommunen sind trotz aktueller Zuwächse bei den
Gewerbesteuereinnahmen nach wie vor nicht in der Lage, ihre laufenden
Ausgaben aus den Einnahmen zu bezahlen. Eine Ursache dafür sind die stark
gestiegenen Sozialausgaben. Allein im Zeitraum 2000 bis 2006 ist ein An-
stieg um rund 11 Mrd. Euro zu verzeichnen. Bürgerschaftliches Engagement
degeneriert – unter dem Signum vermeintlicher Verantwortungsnahme durch
die Bürgerinnen und Bürger für ihre eigenen Interessen – zum Lückenbüßer
im Zuge des Abbaus des Sozialstaates.

2. Zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements und der gemeinnützigen
Tätigkeit sind in den vergangenen Jahren bereits verschiedene Maßnahmen
in Angriff genommen worden. Aktuell existieren verschiedene Erleichterun-
gen bezüglich der Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie
großzügige steuerliche Abzugsmöglichkeiten, die bürgerschaftlich Enga-
gierte unterstützen sollen. Allerdings wurden gleichzeitig öffentliche Mittel
für gemeinnützige Zwecke und Vereine gekürzt. Die Projektförderung hat die
institutionelle Förderung abgelöst und damit den Vereinen erheblich finan-
ziellen Spielraum und Planungssicherheit entzogen. Weiterhin hat die weit-
gehende Streichung von Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaß-
nahmen die Tätigkeit von gemeinnützigen Institutionen beeinträchtigt. Ent-
sprechend gestalten sich die Rahmenbedingungen, in denen sich bürger-
schaftliches Engagement und Institutionen bewegen, ambivalent.

3. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Förderung des bürgerschaft-
lichen Engagements geht an Bedürfnissen zahlreicher Engagierter vorbei.

Zwar enthält der Gesetzentwurf durch die Präzisierung der förderwürdigen
Zwecke in der Abgabenordnung Verbesserungen, im Übrigen beschränkt sich
die Bundesregierung aber auf steuerliche Maßnahmen. Bereits die Enquete-
Kommission stellte 2002 in ihrem Abschlussbericht fest, dass die „Schaffung
weiterer steuerlicher Anreize keine angemessene und wirkungsvolle Förde-
rung des bürgerschaftlichen Engagements darstellt“. Neben der Chance, die
Lebensqualität durch gemeinnützige Institutionen und freiwillig Aktive zu

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erhöhen, birgt der Weg einer auf steuerliche Instrumente fokussierten Förde-
rung – gerade vor dem Hintergrund der Kürzung öffentlicher Mittel – Vertei-
lungsrisiken. Diese liegen vor allem darin, dass die Stifterinnen und Stifter
durch großzügige Zugaben an Stiftungen ihre Steuerlast über einen mehrjäh-
rigen Zeitraum senken können. Gleichzeitig liegt die Verwendung der auf
diese Weise bereitgestellten Mittel im Ermessen des Stifters bzw. der Stif-
tungsgemeinschaft. Damit sind diese Mittel einem demokratischen und par-
lamentarischen Entscheidungsprozess entzogen. Öffentliche Güter gelangen
damit unter den Einfluss von Individualinteressen.

Dazu kommt, dass die steuerlichen Instrumente auf Seiten der Aktiven nicht
die Wirkung entfalten können, die sich die Bundesregierung von ihnen ver-
spricht. So soll das Gesetz zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
„Hilfen für Helfer im Sinne von Erleichterungen für das bürgerschaftliche
Engagement“ geben. Allerdings profitieren von z. B. der Übungsleiterinnen-
pauschale bzw. ihrer Erhöhung sowie dem Steuerabzug für ein bestimmtes
bürgerschaftliches Engagement nur diejenigen, die tatsächlich Steuern zah-
len. Keine Würdigung und Unterstützung erfahren die 27 Prozent der Er-
werbslosen, 30 Prozent der Studierenden und 28 Prozent der Rentnerinnen
und Rentner, die sich bürgerschaftlich engagieren. Dazu kommt, dass z. B.
Daten darüber, wie viele Steuerpflichtige Aufwandsentschädigungen in wel-
cher Höhe erhalten und die Übungsleiterpauschale nutzen, nicht existieren
und demzufolge Aussagen über die Wirksamkeit steuerlicher Abzugs- bzw.
Freibeträge für bürgerschaftliches Engagement durch die Bundesregierung
nicht getroffen werden können (Antwort auf die Kleine Antwort der Fraktion
DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 16/4256). Damit liegt die Vermutung
nahe, dass die aktuellen Nutznießer der steuerlichen Förderung zusätzlich ge-
fördert werden. Dies sind – laut dem 2. Freiwilligensurvey – vor allem gut
verdienende Männer mit einem hohen Bildungsniveau. Der Gesetzentwurf
der Bundesregierung zur weiteren Förderung des bürgerschaftlichen Engage-
ments kann deshalb nicht als die beabsichtigte „Hilfe für Helfer“ verstanden
werden.

4. Für die Zukunftsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft ist bürger-
schaftliches Engagement eine wesentliche Voraussetzung. Wie das 2. Frei-
willigensurvey ergeben hat, ist das Engagement von Bürgerinnen und Bür-
gern in den vergangenen Jahren weiter gestiegen. Bürgerschaftliches Enga-
gement besitzt jedoch nicht nur zahlenmäßig eine weitreichende Bedeutung:
Bürgerinnen und Bürger sind aktiv, um in Bezug auf politische Entscheidun-
gen ihre Interessen zu artikulieren, zu bündeln, einzubringen und durchzuset-
zen. Ein demokratisches Gemeinwesen kann nur funktionieren, wenn Bürge-
rinnen und Bürger aktive Gestalter bzw. Mitgestalter des öffentlichen Lebens
sind. Damit wirken sie auf mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung
hin.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

weitere Maßnahmen zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und
der Gemeinnützigkeit in Angriff zu nehmen. Diese sollen sich auf den außer-
steuerlichen Bereich konzentrieren und im Wesentlichen folgende Schwer-
punkte beinhalten:

1. Instrumente der direkten Demokratie – Volksinitiative, Volksbegehren und
Volkentscheid – auf Bundesebene einzuführen, die Bürgerbeteiligungsver-
fahren um innovative Formen wie Runde Tische, Bürgergutachten sowie
Bürgerforen zu ergänzen und damit eine politische Kultur der Beteiligung
und des Dialogs zu befördern, die dem gestiegenen Engagement und dem

wachsenden Kompetenzbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger Rechnung
trägt,

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2. Förderung einer Anerkennungskultur, die

a) auf die Schaffung von Öffentlichkeit für bürgerschaftliches Engagement
durch regelmäßige Berichterstattung in allen Medien – insbesondere den
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – hinwirkt,

b) auf die Qualifizierung der bestehenden Internetseiten zu einem bundes-
weiten Portal und stärkere Nutzung des Internets für Information und Be-
teiligung zielt und in diesem Sinne auf die Bundesländer einwirkt,

c) sich auch in der Einstellungs„kultur“ der Behörden des Bundes und der
bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öf-
fentlichen Rechts wiederfindet, indem bürgerschaftliches Engagement als
wichtige Qualifikation und entscheidendes Befähigungskriterium berück-
sichtigt wird, und außerdem Sonderurlaub für bürgerschaftlich Engagierte
gewährt wird,

3. Verbesserung der Rahmenbedingungen für bürgerschaftlich Engagierte, in-
dem ein einfaches, verständliches sowie transparentes Antrags- und Abrech-
nungsverfahren für öffentliche Zuwendungen geschaffen und der Versiche-
rungsschutz für Engagierte weiter ausgebaut werden,

4. Förderung von Projekten, die auf eine Öffnung der Schule in die Gesellschaft
zielen, den Jugendlichen und Kindern Möglichkeiten und Räume für ein
frühzeitiges Lernen von bürgerschaftlichem Engagement bereitzustellen und
sie als zivilgesellschaftliche Akteure ernst zu nehmen sowie ihnen ein um-
fangreiches Fortbildungs- und Informationsangebot zur Verfügung zu stellen,

5. Benennung eines Beauftragten der Bundesregierung für bürgerschaftliches
Engagement sowie in jedem Kreis einen Ansprechpartner für bürgerschaft-
lich Engagierte,

6. Anerkennung der Weiterbildung von bürgerschaftlich Engagierten als Bil-
dungsurlaub und bei Erwerbslosen die dafür aufgewendete Zeit nicht auf den
3- Wochen-Urlaubsanspruch anzurechnen,

7. Angebot kostenloser Qualifikations- und Fortbildungskurse,

8. Ausbau der Datenerhebung zum ehrenamtlichen Engagement und der Ge-
meinnützigkeit, um den Wissensstand über die Bedeutung bürgerschaftlichen
Engagements und die Wirkung steuerlicher und außersteuerlicher Förderins-
trumente auszubauen,

9. Finanz- und haushaltspolitische Maßnahmen:

a) Kommunen und Länder müssen finanziell verstärkt in die Lage versetzt
werden, gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Darüber hinaus ist es not-
wendig, gemeinnützige Institutionen und bürgerschaftlich Tätige durch
direkte Zuwendungen zu unterstützen. Um die Finanzkraft zu stärken,
werden die Vermögensteuer wieder erhoben sowie die Erbschaft- und Ge-
werbesteuer reformiert;

b) die Fehlbedarfsfinanzierung von gemeinnützigen Organisationen ist auf
eine Festbetragsfinanzierung umzustellen und verstärkt als institutionelle
Förderung zu leisten;

c) auf die Bundesländer dahingehend einzuwirken, dass bürgerschaftliches
Engagement dezentral gefördert wird und die dadurch entstandenen Sach-
aufwendungen (wie Fahrt- und Telefonkosten) unbürokratisch (z. B.
durch Bürgerinnenjurys) erstattet werden sowie eine kostenfreie Infra-
struktur für bürgerschaftliches Engagement zur Verfügung zu stellen;

d) über die Höchstsätze für die Abzugsfähigkeit von Spenden für gemeinnüt-

zige Zwecke hinaus ist ein zusätzlicher absoluter Höchstbetrag zu erhal-
ten;

Drucksache 16/5245 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
e) die „Übungsleiterpauschale“ ist in ihrem Anwendungsbereich auszudeh-
nen;

f) neben den Kirchen sind alle gemeinnützigen Institutionen von der Grund-
erwerbsteuer zu befreien.

Berlin, den 8. Mai 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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