BT-Drucksache 16/5045

Für solidarische Assoziierungsabkommen der EU mit den zentralamerikanischen Staaten und den Staaten der Andengemeinschaft

Vom 19. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5045
16. Wahlperiode 19. 04. 2007

Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Ulla Lötzer, Dr. Diether Dehm, Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, Wolfgang Gehrcke, Inge Höger, Dr. Hakki Keskin,
Katrin Kunert, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln),
Alexander Ulrich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Für solidarische Assoziierungsabkommen der EU mit den zentralamerikanischen
Staaten und den Staaten der Andengemeinschaft

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Europäische Kommission stellte in ihrer Mitteilung vom 4. Oktober 2006
„Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt“ die neue Handels-
strategie der Europäischen Union vor. Die EU-Kommission kündigt darin
Verhandlungen zu einer ganzen Reihe von bilateralen Handels- und Investi-
tionsabkommen an. Diese Strategie steht in komplementärem Verhältnis zur
Wiederaufnahme der WTO-Verhandlungen (WTO: Welthandelsorganisa-
tion) Anfang Februar 2007. Verhandlungsfelder wie Investitionsschutz, Wett-
bewerbspolitik und öffentliches Beschaffungswesen, die aufgrund des
Widerstands der Schwellen- und Entwicklungsländer nicht Bestandteil der
WTO-Runde sind, sollen über die bilateralen Verhandlungen auf die interna-
tionale Agenda gesetzt werden.

Im selben Kontext und vor dem Hintergrund des Scheiterns der US-amerika-
nischen Bemühungen um eine Gesamtamerikanische Freihandelszone (Free
Trade Area of the Americas – FTAA) sind die Europäische Union ebenso wie
die USA dazu übergegangen, bilaterale Assoziierungsabkommen mit einzel-
nen Staaten oder Staatengruppen Lateinamerikas anzustreben. Auf dem EU-
Lateinamerika-Gipfel im Mai 2006 in Wien scheiterte die Europäische Union
allerdings mit ihrer Absicht, ein Freihandelsabkommen mit dem Gemein-
samen Markt Südamerikas (MERCOSUR) abzuschließen. Auch sind seither
keine Fortschritte in den Verhandlungen, die bereits seit 1999 geführt wer-
den, zu verzeichnen.

2. Die Europäische Union beginnt unterdessen die Verhandlungen mit den Staa-
ten Zentralamerikas (Integriertes Wirtschaftssystem Zentralamerika – SIECA)
und der Andengemeinschaft (CAN), die zum Abschluss des Wiener Gipfels
angekündigt worden waren. Die Verhandlungsmandate der EU-Kommission

wurden seit Dezember 2006 ohne Konsultation zivilgesellschaftlicher Orga-
nisationen und ohne Einbezug von Parlamenten mit den EU-Mitgliedstaaten
abgestimmt. Die Verhandlungen sollen noch in der Zeit der deutschen Rats-
präsidentschaft aufgenommen werden. In den Verhandlungen stehen sich un-
gleiche Partner gegenüber. Nur 0,3 Prozent der EU-Exporte gingen 2004 in
die Staaten des SIECA und 0,7 Prozent in die Staaten der CAN. Umgekehrt
gingen 15 Prozent der SIECA-Exporte und 13 Prozent der CAN-Exporte in

Drucksache 16/5045 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

die EU. Die Asymmetrie zwischen den Verhandlungspartnern drückt sich
auch im Wohlstands- und Entwicklungsgefälle zwischen den und innerhalb
der Regionen aus.

Die Assoziierungsabkommen mit SIECA und CAN sollen den Rahmen für
eine mittelfristig einzurichtende Freihandelszone bieten. In ihren handels-
politischen Teilen sind beide Verhandlungsmandate dementsprechend auf die
Durchsetzung einer offensiven Marktöffnung ausgerichtet. Angestrebt wer-
den seitens der EU die reziproke Liberalisierung des Handels mit Gütern und
Dienstleistungen – auch im Bereich der Daseinsvorsorge –, Regeln zur Inves-
titionsliberalisierung, Wettbewerbsregeln sowie die Liberalisierung der
öffentlichen Beschaffungsmärkte.

3. Die Umsetzung der europäischen Handelsstrategie soll zu einem Zeitpunkt
erfolgen, zu dem sich in immer größeren Teilen der lateinamerikanischen Öf-
fentlichkeit eine sehr kritische Haltung zu Freihandelsabkommen mit Staaten
des Nordens durchsetzt. Diese Skepsis findet ihren politischen Ausdruck in
den Bemühungen um eine stärkere Süd-Süd-Kooperation, in der Abwehr der
FTAA und im Scheitern des Freihandelsabkommens der EU mit dem MER-
COSUR auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel von Wien 2006. In Abkehr von
alten neoliberalen Freihandelskonzepten entwickeln neue linke Regierungen
konkrete handelspolitische Alternativen. Kuba, Venezuela und Bolivien
schlossen 2006 die „Vereinbarung zur Anwendung der Bolivarianischen
Alternative für die Völker unseres Amerikas und des Handelsvertrags der
Völker (ALBA)“ ab. Die Vereinbarung umfasst ein auf Komplementarität
statt Wettbewerb ausgerichtetes Handelsabkommen, das asymmetrisch und
heterogen ausgestaltet ist und konkret an den jeweiligen Bedürfnissen der
Bevölkerungen und an dem Leistungsvermögen der Vertragspartner ansetzt.
Zum Beginn des Jahres 2007 schloss sich auch Nicaragua dem ALBA-Ver-
trag an. Der Beitritt Ecuadors ist ebenfalls für 2007 vorgesehen. Mit Bolivien,
Nicaragua und Ecuador wären dann drei der an den Assoziierungsverhand-
lungen zwischen EU und SIECA bzw. CAN beteiligten Staaten zugleich Ver-
tragsstaaten von der ALBA. Damit ist nach Ansicht des Bundestages auch die
besondere Herausforderung an die EU-Kommission verbunden, den Integra-
tionsbemühungen Rechnung zu tragen. In den vorliegenden Verhandlungs-
mandaten spiegelt sich diese Herausforderung nicht wider. Im Gegenteil
muss davon ausgegangen werden, dass durch die Verträge der EU mit dem
SIECA und der CAN ein Gegenmodell zu ALBA etabliert und einer eigen-
ständigen regionalen Integration in Lateinamerika entgegengewirkt werden
soll.

4. In scharfem Kontrast zum Verhandlungsmandat der EU-Kommission wurden
von der Regierung Boliviens bereits Mitte 2006 konkrete Vorschläge für ein
Abkommen unterbreitet, das „eine ausgeglichene Integration ungleicher Re-
alitäten erlauben“ soll. Bolivien fordert ein heterogenes Abkommen mit der
EU, das die Entwicklungsbelange der Andenstaaten berücksichtigt und die
Asymmetrien zwischen den Verhandlungspartnern in Rechnung stellt. Dem
Prinzip einer „Integration unter der Wahrung von Souveränität“ folgend, wird
betont, dass beide Partner im politischen Dialog voneinander lernen können
und dass die struktur- und gesellschaftspolitischen Handlungsspielräume der
Partnerstaaten durch das Abkommen nicht eingeschränkt werden dürfen.

Der Deutsche Bundestag erachtet die von der bolivianischen Regierung ein-
gebrachten Vorschläge zur Ausgestaltung des Abkommens zwischen der EU
und den CAN-Staaten als förderlich für eine produktive Verknüpfung des
innerlateinamerikanischen Integrationsprozesses mit den europäisch-latein-
amerikanischen Beziehungen. Der Deutsche Bundestag empfiehlt dem Euro-

päischen Rat, eine entsprechende Anpassung beider Verhandlungsmandate
der EU-Kommission zu den Verhandlungen mit der Andengemeinschaft und

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5045

den Staaten Zentralamerikas unter den in den Vorschlägen genannten Ge-
sichtspunkten vorzunehmen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

im Europäischen Rat darauf hinzuwirken, dass die Vorschläge der Regierung
Boliviens in den Verhandlungen zwischen der EU und den Andenstaaten Be-
rücksichtigung finden, dass die Vorschläge außerdem als Anregungen für die
Verhandlungen mit den Staaten Zentralamerikas aufgenommen werden und dass
die Verhandlungsmandate der EU-Kommission für beide Verhandlungsprozesse
so angepasst werden, dass

– in den Abkommen keine Bestimmungen getroffen werden, die den Integra-
tionsprozessen, die sich als Bolivarianische Alternative und in weiteren regio-
nalen Zusammenschlüssen und Vereinbarungen in Lateinamerika vollziehen,
entgegenwirken;

– die Abkommen dem im europäischen Entwicklungskonsens formulierten
Anspruch, dass auf allen Politikfeldern der EU Kohärenz mit ihren entwick-
lungspolitischen Zielen hergestellt werden muss, gerecht werden;

– verbindlich festgelegt wird, dass die Zivilgesellschaft und gesellschaftliche
Organisationen breit und aktiv in den Verhandlungsprozess einbezogen und
die Parlamente der beteiligten Staaten und Staatengruppen umfassend über
den Verhandlungsverlauf informiert und in alle wichtigen Entscheidungen
einbezogen werden;

– der Armutsbekämpfung, der Herstellung und Bewahrung von Ernährungs-
sicherheit und dem Ausbau von sozialen Basisdiensten in den Partnerstaaten
hohe Priorität eingeräumt wird;

– sich die Asymmetrie zwischen den Verhandlungspartnern im nichtreziproken
Charakter der Abkommen wiederfindet und in diesem Sinne Mechanismen
zum Schutz im Aufbau befindlicher Industrien und der Landwirtschaft in den
schwächeren Ökonomien des SIECA und der CAN eingebaut werden;

– für die Exporte aus den SIECA- und CAN-Staaten ein allgemeiner und ein-
seitiger zollfreier Zugang zu den EU-Märkten festgelegt wird, dass in diesem
Sinne die bisherigen Festlegungen im Allgemeinen Präferenzsystem auf alle
verarbeiteten Waren ausgedehnt werden;

– den Partnerstaaten die volle Souveränität bezüglich Extraktion, Vermarktung
und Distribution der auf ihrem Territorium befindlichen Rohstoffe einge-
räumt wird;

– die politischen Spielräume der Partnerstaaten nicht durch Investitionsregeln
und wettbewerbspolitisch begründete Marktöffnungen für ausländische
Unternehmen verengt werden;

– anstelle des bislang genutzten Mustervertragstextes der EU zur Niederlas-
sungsfreiheit und in Anlehnung an den Mustertext des International Institute
of Sustainable Development (IISD) ein Mandat für Verhandlungen zu einem
„Investitionsabkommen für zukunftsfähige Entwicklung“ erarbeitet wird;

– zum öffentlichen Beschaffungswesen keine Liberalisierungsverhandlungen
geführt werden, sondern stattdessen eine Kooperation im Bereich sozial und
ökologisch verantwortungsvoller Beschaffung vereinbart wird;

– wichtige öffentliche Güter und Basisdienste in den Bereichen Bildung, Ge-
sundheit, öffentlicher Transport, Energieversorgung, Wasserver- und Abwas-
serentsorgung von Liberalisierungsverhandlungen ausgenommen werden

und die Abkommen die Partnerstaaten darin unterstützen, die Leistungsfähig-
keit der öffentlichen Trägerschaft in diesen Bereichen auszubauen;

Drucksache 16/5045 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
– die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sowie
die ILO-Konventionen 169 über die Rechte der indigenen Völker vollum-
fänglich Eingang in die Abkommen finden;

– in den Abkommen der deutliche Wille erkennbar wird, den Kernarbeits-
normen, insbesondere dem Recht auf Vereinigungsfreiheit und auf Kollektiv-
verhandlungen, tatsächlich – auch gegenüber multinationalen Konzernen, die
sich in den Partnerstaaten engagieren – zur Durchsetzung zu verhelfen;

– keine Regelungen zur Arbeitsmigration im Handelsteil der Abkommen
getroffen werden und an anderer Stelle die Rechte von Migrantinnen und
Migranten entsprechend der Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz
der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen fest-
geschrieben werden;

– der politische Dialog auf gleicher Augenhöhe und wechselseitig geführt wird
und unterschiedliche Erfahrungen mit der Entwicklung von Demokratie und
Partizipation von allen Parteien gleichberechtigt in den Dialog eingebracht
werden können;

– Anbau und traditionelle Nutzung der Kokapflanze entkriminalisiert und die
Bemühungen der bolivianischen Regierung, im Konsens mit den Koka pro-
duzierenden Kleinbauern den Anbau zu kontrollieren und die Zweckentfrem-
dung zur Gewinnung von Kokain zu verhindern, unterstützt werden.

Berlin, den 30. März 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.