BT-Drucksache 16/4928

Berücksichtigung von Ausbildungsplatzangebot und Förderung von Gleichstellung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 16/1712)

Vom 30. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4928
16. Wahlperiode 30. 03. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Priska Hinz (Herborn), Monika Lazar
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Berücksichtigung von Ausbildungsplatzangebot und Förderung von
Gleichstellung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
(Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 16/1712)

Mit Beschluss vom 11. Juli 2006 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden,
dass die Tariftreueregelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 des Berliner Vergabegesetzes
nicht das Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Artikel 9 Abs. 3 des Grundgeset-
zes (GG) berührt und nicht das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Artikel 12
Abs. 1 GG verletzt.

Ähnlich der Tariftreueregelung des Berliner Vergabegesetzes sehen die Vergabe-
bzw. Gleichstellungsvorschriften der Länder Berlin, Brandenburg, Saarland,
Schleswig-Holstein und Thüringen vor, dass bei der Vergabe öffentlicher Auf-
träge zu berücksichtigen ist, ob ein Unternehmen aktive Gleichstellungspolitik
betreibt oder ausbildet.

§ 97 Abs. 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) sieht vor,
dass Aufträge an fachkundige, leistungsfähige und zuverlässige Unternehmen
vergeben werden (Satz 1). Andere oder weitergehende Anforderungen dürfen je-
doch an Auftragnehmer oder Auftragnehmerinnen gestellt werden, allerdings
nur, wenn dies durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist.

Die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher
Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge scheint die Berück-
sichtigung sozialer Aspekte bei der öffentlichen Beschaffung zuzulassen. Arti-
kel 26 der Richtlinie 2004/18/EG, die noch nicht vollständig in deutsches Recht
umgesetzt worden ist, lautet: „Die öffentlichen Auftraggeber können zusätzliche
Bedingungen für die Ausführung des Auftrags vorschreiben, sofern diese mit
dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und in der Bekanntmachung oder in den
Verdingungsunterlagen angegeben werden. Die Bedingungen für die Ausfüh-
rung eines Auftrags können insbesondere soziale und umweltbezogene Aspekte
betreffen.“

Andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben bereits gesetzlich fest-
geschrieben, dass soziale Bedingungen für die Ausführung eines öffentlichen

Auftrags vorgeschrieben werden können oder sind dabei, das zu regeln. So kann
in Österreich bei der öffentlichen Auftragsvergabe die Gleichstellungspolitik
eines Unternehmens und dessen Angebot von Ausbildungsplätzen berücksich-
tigt werden. § 21 Abs. 7 des österreichischen Bundesvergabegesetzes aus dem
Jahr 2002 lautet: „Im Vergabeverfahren kann auf die Beschäftigung von Frauen,
von Personen im Ausbildungsverhältnis, von Langzeitarbeitslosen, von behin-
derten und älteren Arbeitnehmern sowie auf Maßnahmen zur Umsetzung sons-

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tiger sozialpolitischer Belange Bedacht genommen werden. Dies kann insbeson-
dere durch die Berücksichtigung derartiger Aspekte bei der Beschreibung der
Leistung, bei der Festlegung der technischen Spezifikationen, durch die Fest-
legung konkreter Zuschlagskriterien oder durch die Festlegung von Bedingun-
gen im Leistungsvertrag erfolgen.“

Demgegenüber hat die Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Berücksichtigung von Ausbildungs-
platzangebot und Förderung von Gleichstellung bei der Vergabe öffentlicher
Aufträge (Bundestagsdrucksache 16/1505) geantwortet (Bundestagsdrucksache
16/1712), dass sie eine Bevorzugung von Unternehmen, die ausbilden oder eine
aktive Gleichstellungspolitik betreiben, für nicht vereinbar mit der Richtlinie
2004/18/EG halte. Die Bundesregierung wolle demzufolge nicht im GWB aus-
drücklich festschreiben, dass bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu berück-
sichtigen sei, ob ein Unternehmen Auszubildende habe oder nachweislich akti-
ve Gleichstellungspolitik betreibe.

Das von der Bundesregierung in Bundestagsdrucksache 16/1712 wiedergegebe-
ne Verständnis der Richtlinie 2004/18/EG entspricht unserer Ansicht nach nicht
dem Wortlaut des Artikels 26 dieser Richtlinie. Auch in der Literatur wird zu-
mindest für möglich gehalten, dass die EU-Mitgliedstaaten soziale Kriterien als
Ausführungsbedingungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe vereinbaren
(vgl. u. a. Walter Frenz: Soziale Vergabekriterien, NZBau 2007, 17 ff.; Philipp
Steinberg: Die Flexibilisierung des neuen europäischen Vergaberechts, NZBaz
2005, 85 [86 f.]).

Zudem fordert die Europäische Union von ihren Mitgliedstaaten nachdrücklich
die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen (vgl. u. a. die
Verordnung (EG) Nr. 1922/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 20. Dezember 2006 zur Errichtung eines Europäischen Instituts für Gleich-
stellungsfragen, insbesondere Erwägungsgrund 1 dieser Verordnung). Die Bun-
desregierung ist des Weiteren durch das Grundgesetz nach Artikel 3 Abs. 2 dazu
verpflichtet, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen
und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzu-
wirken.

Wir fragen deshalb die Bundesregierung:

1. Welche Rechtsauffassung vertritt die Bundesregierung zur Auslegung von
Artikel 26 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 31. März 2004?

a) Ist es aus Sicht der Bundesregierung ein „sozialer Aspekt“, ob ein Unter-
nehmen aktive Gleichstellungspolitik betreibt, und entspricht es demzu-
folge dem europäischen Recht, wenn dieser Aspekt als zusätzliche Bedin-
gung für die Ausführung eines öffentlichen Auftrags vorgeschrieben wird,
und wie wird das begründet?

b) Ist es aus Sicht der Bundesregierung ein „sozialer Aspekt“, ob ein Unter-
nehmen ausbildet, und entspricht es demzufolge dem europäischen Recht,
wenn dieser Aspekt als zusätzliche Bedingung für die Ausführung eines
öffentlichen Auftrags vorgeschrieben wird, und wie wird das begründet?

2. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Juli 2006 für die Berück-
sichtigung von aktiver Gleichstellungspolitik und Lehrlingsausbildung bei
der öffentlichen Auftragsvergabe?

a) Hält die Bundesregierung eine gesetzliche Regelung, nach der bei der öf-

fentlichen Auftragsvergabe die aktive Gleichstellungspolitik eines Unter-

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nehmens berücksichtigt werden muss, für verfassungsgemäß, und wie be-
gründet sie das?

b) Hält die Bundesregierung eine gesetzliche Regelung, nach der bei der öf-
fentlichen Auftragsvergabe berücksichtigt werden muss, ob ein Unterneh-
men Lehrlinge ausbildet, für verfassungsgemäß, und wie begründet sie
das?

c) Hält die Bundesregierung die landesgesetzlichen Regelungen in den Län-
dern Berlin, Brandenburg, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen,
die vorsehen, dass bei der öffentlichen Auftragsvergabe die aktive Gleich-
stellungspolitik eines Unternehmens berücksichtigt werden muss, für mit
den bundesgesetzlichen Vergaberechtsvorschriften, insbesondere dem
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, vereinbar, und wie begründet
sie das?

d) Hält die Bundesregierung die landesgesetzlichen Regelungen in Berlin,
die vorsehen, dass bei der öffentlichen Auftragsvergabe berücksichtigt
werden muss, ob ein Unternehmen Lehrlinge ausbildet, für mit den bun-
desgesetzlichen Vergaberechtsvorschriften, insbesondere dem Gesetz ge-
gen Wettbewerbsbeschränkungen, vereinbar, und wie begründet sie das?

3. Welche gesetzgeberischen Handlungsmöglichkeiten für Bund, Länder und
Kommunen ergeben sich aus Artikel 26 der Richtlinie 2004/18/EG des Euro-
päischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 und dem Beschluss
des BVerfG vom 11. Juli 2006?

a) Würde es aus der Sicht der Bundesregierung sowohl den Vorgaben des
europäischen Rechts als auch den Vorgaben des Grundgesetzes entspre-
chen, wenn im GWB ausdrücklich festgeschrieben wird, dass bei der Ver-
gabe öffentlicher Aufträge zu berücksichtigen ist, ob ein Unternehmen ak-
tive Gleichstellungspolitik betreibt, und wie wird das begründet?

b) Würde es aus der Sicht der Bundesregierung sowohl den Vorgaben des
europäischen Rechts als auch dem Grundgesetz entsprechen, wenn im
GWB ausdrücklich festgeschrieben würde, dass bei der Vergabe öffent-
licher Aufträge zu berücksichtigen ist, ob ein Unternehmen Ausbildungs-
plätze anbietet, und wie wird das begründet?

4. Beabsichtigt die Bundesregierung, soweit rechtliche Handlungsmöglichkei-
ten gegeben sind, diese auch zu nutzen?

Berlin, den 30. März 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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