BT-Drucksache 16/4907

Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge beim Zugang zum Arbeitsmarkt gleichstellen

Vom 29. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4907
16. Wahlperiode 29. 03. 2007

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Katja Kipping, Jan Korte,
Kornelia Möller, Kersten Naumann, Wolfgang Neskovic, Petra Pau und der
Fraktion DIE LINKE.

Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge beim Zugang zum Arbeitsmarkt
gleichstellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das in § 61 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) und § 10 der Beschäfti-
gungsverfahrensverordnung (BeschVerfV) normierte gesetzliche Arbeits-
verbot diskriminiert Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge und macht
ihnen im ersten Jahr ihres Aufenthalts eine eigenständige Sicherung ihres
Lebensunterhalts unmöglich.

2. Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes und der Beschäftigungsver-
fahrensverordnung verwehren Ausländerbehörden vermehrt geduldeten
Flüchtlingen die Aufnahme oder Fortsetzung einer Beschäftigung aufgrund
des § 11 BeschVerfV. Den Flüchtlingen wird unterstellt, sie seien nur zum
Zweck des Leistungsbezugs eingereist oder würden bei der Passbeschaffung
nicht mitwirken.

3. Die Arbeitsmarktprüfung nach § 39 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) erweist sich für Asylsuchende, geduldete Flüchtlinge und die-
jenigen Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, deren Aufenthalts-
erlaubnis nicht zur Erwerbstätigkeit ohne Zustimmung der Agentur für
Arbeit berechtigt, in vielen Fällen als ein faktisches Arbeitsverbot. Die
Arbeitsmarktprüfung erschwert bzw. verhindert, dass Asylsuchende und
geduldete Flüchtlinge nach einem Jahr Aufenthalt eine Beschäftigung aus-
üben können.

4. Die Arbeitsmarktprüfung stellt eine erhebliche Diskriminierung beim Zu-
gang zum Arbeitsmarkt dar, weil die Betroffenen unabhängig von ihren
Qualifikationen und ihren vorhandenen Berufserfahrungen faktisch nur auf
niedrigqualifizierte und geringfügig entlohnte Beschäftigungen verwiesen
werden. Die Arbeitsmarktprüfung trägt somit dazu bei, dass der Anteil von
Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit im Niedriglohnsektor über-

durchschnittlich hoch ist.

5. Die räumliche Beschränkung nach § 56 AsylVfG und § 61 Abs. 1 AufenthG
(Residenzpflicht) schränkt die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden und
geduldeten Flüchtlingen massiv ein. Sie stellt eine den gesamten Lebens-
alltag dominierende Erfahrung der Ausgrenzung, Isolierung und Ent-
rechtung dar, die auch die Arbeitsplatzsuche erheblich erschwert.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Asylsuchenden und geduldeten Flüchtlingen sowie Personen, denen eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, die nicht zur Erwerbstätigkeit ohne Zu-
stimmung der Agentur für Arbeit berechtigt, einen ungehinderten und
gleichrangigen Zugang zur Beschäftigung zu gewähren. Hierzu sind vorran-
gig zumindest die §§ 4 und 39 AufenthG, § 61 AsylVfG und die §§ 9 und 10
BeschVerfV entsprechend zu ändern und § 11 BeschVerfV zu streichen;

2. einen sozial gerechten Mindestlohn einzuführen, um generell alle Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer gegen Lohndumping und schlechte Arbeits-
bedingungen zu schützen und die bestehenden Entlohnungsungleichheiten
zu verringern. Dafür wird ein System dualer Mindestlöhne eingeführt, das
einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn mit tariflich vereinbarten und per
Gesetz fixierten, branchenbezogenen Mindestlöhnen koppelt;

3. die räumliche Beschränkung nach § 56 AsylVfG und § 61 Abs. 1 AufenthG
(Residenzpflicht) abzuschaffen.

Berlin, den 28. März 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Gesetzliche und faktische Arbeitsverbote verwehren bzw. erschweren gedulde-
ten Flüchtlingen und Asylsuchenden die Erwerbstätigkeit unabhängig davon,
wie lange sie schon ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Damit wird
ihnen systematisch und gesetzlich die Möglichkeit genommen, aus eigener
Kraft für sich selbst zu sorgen und unabhängig von sozialstaatlichen Leistungen
leben zu können. Diese Möglichkeit gehört jedoch zu den Grundvoraussetzun-
gen eines menschenwürdigen und selbstbestimmten Lebens.

Die Prüfung der Bundesagentur für Arbeit in jedem Einzelfall, ob andere sog.
vorrangige Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer zur Verfügung stehen (Vor-
rangprüfung) und ob die Betreffenden zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen
als vergleichbare deutsche Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer beschäftigt
werden sollen (Arbeitsbedingungsprüfung), reduziert für geduldete Flücht-
linge, Asylsuchende sowie Personen, denen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
wurde, die nicht zur Erwerbstätigkeit ohne Zustimmung der Agentur für Arbeit
berechtigt, drastisch die Chancen auf eine Beschäftigung. Dazu kommt, dass
die komplizierten Zustimmungsverfahren für Beschäftigungen dieser Per-
sonengruppe so aufwändig und zeitraubend sind, dass Arbeitgeberinnen oder
Arbeitgeber ihre Arbeitsplatzzusagen wieder zurückziehen oder von vornherein
von einer Einstellung absehen.

Für geduldete Flüchtlinge hat sich mit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes die
Möglichkeit der Arbeitsaufnahme bzw. der Fortsetzung bestehender Arbeits-
verhältnisse noch einmal verschlechtert. Seit dem 1. Januar 2005 sind die Aus-
länderbehörden nicht nur für die Erteilung der Aufenthaltstitel, sondern auch
für die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis zuständig, wobei sie die Arbeits-
agenturen in einem für die Betroffenen undurchsichtigen internen Verfahren
beteiligen. In der Praxis wenden Ausländerbehörden diese neue Kompetenz
äußerst restriktiv an. Mit der Unterstellung, Flüchtlinge seien nur zum Zweck
des Leistungsbezugs eingereist oder würden bei der Passbeschaffung nicht mit-

wirken, vergeben einige Ausländerbehörden gemäß § 11 BeschVerfV gar keine

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Arbeitserlaubnisse mehr an geduldete Flüchtlinge. Die Konsequenzen dieses
gesetzlichen Arbeitsverbots sind dramatisch, da zum Teil geduldete Flüchtlinge
aus Arbeitsverhältnissen entlassen werden, die seit Jahren bestehen. Hinzu
kommt, dass sie auch nach langjähriger Beschäftigung kein Arbeitslosengeld I
erhalten, weil sie aufgrund des Arbeitsverbots dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur
Verfügung stehen. Das Arbeitsverbot zwingt damit Menschen, die vorher ihren
Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdient haben, systematisch zum Bezug
von Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Sie werden ge-
zwungen, eigene Wohnungen aufzugeben und wieder in Massenwohnheime zu
ziehen. Der Sozialleistungsbezug mindert auch ihre Chance, ein gesichertes
Aufenthaltsrecht zu erhalten. Auch für die Kommunen ergeben sich schwer-
wiegende finanzielle Folgen, da sie nun Menschen unterstützen müssen, die
vorher ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft gesichert haben. Von den Be-
troffenen werden die in Deutschland geltenden Arbeitsverbote und die erzwun-
gene Abhängigkeit von öffentlichen Leistungen zumeist als demütigend, als
eine nicht nachvollziehbare Bestrafung und als Verletzung ihrer Menschen-
würde und Rechte empfunden. Flüchtlingsräte formulieren den Verdacht, dass
Flüchtlinge mit gesetzlichen und faktischen Arbeitsverboten mürbe gemacht
und zur so genannten freiwilligen Ausreise gedrängt werden sollen (Presse-
erklärung, Flüchtlingsrat NRW vom 18. Februar 2006, Presseerklärung Pro
Asyl vom 1. März 2006).

Die sog. Vorrangprüfung verweist Asylsuchende, geduldete Flüchtlinge und
Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, deren Aufenthaltserlaubnis nicht
zur Erwerbstätigkeit ohne Zustimmung der Agentur für Arbeit berechtigt, auf
schlecht qualifizierte und niedrig bezahlte Beschäftigungsverhältnisse. Sie
treibt damit (zusammen mit anderen Faktoren wie die Nichtanerkennung oder
Abwertung von Bildungsabschlüssen und anderen Qualifikationen) eine rassis-
tische Segregation des Arbeitsmarktes in Deutschland systematisch voran.
Während 2002 16,4 Prozent aller deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer im Niedriglohnsektor (Vollzeit) arbeiteten, waren von allen Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern nichtdeutscher Staatsangehörigkeit 26,4 Prozent in
Vollzeit dort beschäftigt (Dokumentation des Instituts Arbeit und Technik, Ger-
hard Bosch/Claudia Weinkopf: „Mindestlöhne – eine Strategie gegen Lohn-
und Sozialdumping?“, S. 2 bis 3). Der Versuch, mit Hilfe der Vorrangprüfung
die Arbeitslosigkeit auf Kosten von Drittstaatsangehörigen zu bekämpfen, för-
dert rassistische Denkmuster wie „Ausländer nehmen uns unsere Arbeitsplätze
weg“. Statt die Ursachen der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, werden Arbeits-
lose nach rassistischen Kriterien hierarchisiert und gegeneinander ausgespielt.
Deswegen ist diese Form der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit grundsätzlich
abzulehnen.

Gerade die Vorrangprüfung ermöglicht, dass Betroffene leichter von Arbeit-
geberinnen und Arbeitgebern ausgebeutet werden können, weil sie aufgrund
ihres aufenthaltsrechtlichen Status und der stärkeren Abhängigkeit von der Ver-
fügbarkeit von Arbeitsplätzen sozial verwundbarer bzw. erpressbarer sind als
bevorrechtigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Um zu verhindern, dass
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber diese stärkere Abhängigkeit ausnutzen und
Drittstaatsangehörige zu schlechteren Konditionen einstellen als andere Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, ist es notwendig, die Rechtsstellung von Dritt-
staatsangehörigen zu stärken. Das wäre auch ein Beitrag zur Verhinderung
einer stetigen Erweiterung des Niedriglohnsektors.

Mit der sog. Arbeitsbedingungsprüfung für Drittstaatsangehörige ist nicht er-
reicht worden, soziale Standards zu halten und Lohndumping zu verhindern.
Für die systematische Herabsetzung von Lohn- und Arbeitsstandards ist die
neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte verantwortlich. Die

Arbeitsbedingungsprüfung hat hingegen faktisch vor allem dafür gesorgt, dass
selektiv Drittstaatsangehörige vom Arbeitsmarkt ferngehalten wurden, weil die

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Arbeitsagenturen nur für sie die Bezahlung von tariflichen bzw. ortsüblichen
Löhnen zur Voraussetzung der Beschäftigung machen. Aus diesem Grund wur-
den bereits Anträge von geduldeten Flüchtlingen auf eine Arbeitserlaubnis ne-
gativ beschieden, die potenziell von der Bleiberechtsregelung der Bundesländer
begünstigt sind. Weil Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nicht bereit sind, ge-
duldeten Flüchtlingen tarif- bzw. ortsübliche Löhne zu zahlen, finden diese
keine Beschäftigung und erhalten deswegen auch keine Aufenthaltserlaubnis.
Schutzmaßnahmen wie z. B. ein sozial gerechter und gesetzlicher Mindestlohn
(gemäß dem Antrag der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache
16/1878) zur Bekämpfung des Lohndumpings sind deswegen zielführender,
weil sie alle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zur Zahlung eines Mindestlohns
verpflichten. Die Einführung eines Systems dualer Mindestlöhne, das einen
gesetzlich festgelegten Mindestlohn mit tariflich vereinbarten und per Gesetz
fixierten, branchenbezogenen Mindestlöhnen koppelt, ist deswegen das geeig-
nete Mittel, um den Gleichbehandlungsgrundsatz bei den Arbeits- und Beschäf-
tigungsverhältnissen durchzusetzen und die Einhaltung von Mindeststandards
für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu gewährleisten.

Im Übrigen sind weitere gesetzliche Änderungen wie die Abschaffung der
räumlichen Beschränkung der Bewegungsfreiheit nach § 56 AsylVfG und § 61
Abs. 1 AufenthG (Residenzpflicht) notwendig, um Asylsuchende und ge-
duldete Flüchtlinge beim Zugang zum Arbeitsmarkt gleichzustellen. Denn die
so genannte Residenzpflicht verhindert, dass Betroffene eine Beschäftigung
außerhalb des Amtsbereichs der Ausländerbehörde oder eine mobile Beschäfti-
gung aufnehmen können. Hiervon unabhängig stellt sie eine in der EU ein-
malige Form der Ausgrenzung, Isolierung und Entrechtung von Flüchtlingen
dar, die ihren gesamten Lebensalltag dominiert.

Der Bleiberechtsbeschluss der Innenministerkonferenz (IMK) vom 17. Novem-
ber 2006 und die Vorschläge der Koalition der CDU/CSU und SPD für eine
geplante bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung verbinden grundsätzlich die
Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis mit dem Vorliegen
eines dauerhaften Beschäftigungsverhältnisses, das den Lebensunterhalt
sichert. Es ist abzusehen, dass deswegen nur sehr wenige geduldete Flüchtlinge
eine Aufenthaltserlaubnis erhalten werden. Für eine zukünftige bundesgesetz-
liche Bleiberechtsregelung muss davon abgesehen werden, die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis von einem Beschäftigungsverhältnis abhängig zu machen
(siehe Bundestagsdrucksache 16/3912). Die IMK-Regelung schränkt die Auf-
hebung der Vorrangprüfung für geduldete Flüchtlinge lediglich auf einen Zeit-
raum von 10 Monaten und auf die von der Bleiberechtsregelung potentiell be-
günstigten Personen ein. Diese Aufhebung ist ein indirektes Eingeständnis der
Länder, dass die von ihnen geforderte eigenständige Lebensunterhaltssicherung
den Betroffenen unter den gegebenen arbeitsrechtlichen Bestimmungen gar
nicht möglich ist. Die zeitliche Aufhebung der Vorrangprüfung wird an dem
gesetzlichen und faktischen Ausschluss vom Arbeitsmarktzugang der überwie-
genden Mehrheit der Flüchtlinge jedoch nichts ändern.

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