BT-Drucksache 16/4649

Anerkennung und Wiedergutmachung der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika

Vom 9. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4649
16. Wahlperiode 09. 03. 2007

Antrag
der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Monika Knoche,
Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Inge Höger, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin,
Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), Dr. Kirsten Tackmann,
Alexander Ulrich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Anerkennung und Wiedergutmachung der deutschen Kolonialverbrechen im
ehemaligen Deutsch-Südwestafrika

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Zwischen 1904 und 1908 verübten die Kolonialtruppen des deutschen Kaiser-
reichs im damaligen Deutsch-Südwestafrika an den Völkern der Herero und
Nama einen Völkermord. Der Deutsche Bundestag erinnert an das Ausmaß des
Verbrechens. Nach Schätzungen von Historikern könnten bis zu 80 Prozent der
Herero und 50 Prozent der Nama dem Vernichtungsfeldzug der damaligen deut-
schen „Schutztruppe“ zum Opfer gefallen sein.

Völkermord verjährt nicht, weder rechtlich noch moralisch. Obgleich die Aus-
wirkungen des deutschen Vernichtungsfeldzuges in der sozialen Wirklichkeit
Namibias immer noch präsent sind, hat bis heute kein deutscher Staat die Bereit-
schaft signalisiert, Wiedergutmachung zu leisten. Leider ist auch die Bundes-
republik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Kaiserreichs ihrer historischen
Verantwortung gegenüber den Nachfahren der Opfer des Völkermords nicht ge-
recht geworden.

Der Deutsche Bundestag bedauert es, dass sich politische Repräsentanten des
Herero-Volkes aufgrund der bisherigen Verweigerungshaltung seitens der Bun-
desrepublik Deutschland gezwungen sahen, den juristischen Weg zu beschrei-
ten. Eine Anerkennung des Völkermords und die politische Entscheidung der
Bundesregierung auf Eröffnung eines Dialoges über materielle Wiedergut-
machung würden die juristischen Auseinandersetzungen überflüssig machen.

Die Geschichte der Herero und Nama ist konstitutiver Teil der Geschichte
Namibias. Der Deutsche Bundestag begrüßt es ausdrücklich, dass die nami-
bische Nationalversammlung am 26. Oktober 2006 über alle ethnischen und
parteipolischen Grenzen hinweg einstimmig einen Antrag angenommen hat, der
den von deutschen Truppen verübten Völkermord anerkennt und die Forderun-

gen der betroffenen Volksgruppen nach materieller Wiedergutmachung gegen-
über dem deutschen Staat unterstützt. Die namibische Nationalversammlung hat
in diesem Antrag die namibische Regierung aufgefordert, eine aktive Mittler-
rolle bei der Einleitung von Verhandlungen zwischen der deutschen Regierung
und den Vertretern der betroffenen Stämme einzunehmen. Der namibische Pre-
mierminister Nahas Angula hat während der parlamentarischen Debatte positiv
auf diese Forderung Bezug genommen und den Antrag ebenfalls unterstützt.

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Der Deutsche Bundestag greift den Appell des namibischen Parlaments auf. Die
Wiedergutmachung gegenüber den betroffenen Völkern Namibias muss dabei
von einem Bemühen um eine tiefere Verankerung der Kolonialgeschichte des
deutschen Reiches im historischen Bewusstsein der deutschen Bevölkerung be-
gleitet sein. Gerade vor dem Hintergrund einer wachsenden Zahl militärischer
Interventionen auf dem afrikanischen Kontinent durch die ehemaligen Kolonial-
mächte, darunter Deutschland, befürwortet der Deutsche Bundestag die Sensibi-
lisierung der öffentlichen Debatte für die koloniale Dimension der historischen
Beziehungen zwischen Europa und Afrika.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● ihrer historischen Verantwortung gerecht zu werden und das Recht der He-
rero und Nama auf Wiedergutmachung wegen des in den Jahren 1904 bis
1908 von der deutschen Schutztruppe an diesen Volksgruppen verübten Völ-
kermords anzuerkennen;

● die Bereitschaft gegenüber der namibischen Regierung zu erklären, in einen
offenen Dialog ohne Vorbedingungen über Versöhnung und Wiedergutma-
chung unter Einbeziehung der betroffenen Volksgruppen einzutreten, wobei
deutsche Unternehmen bzw. deren Rechtsnachfolger, die in Deutsch-Süd-
westafrika von Zwangsarbeit oder Enteignungen profitiert haben, angemes-
sen an der Leistung etwaiger Entschädigungszahlungen zu beteiligen sind;

● die Gründung einer Stiftung in die Wege zu leiten, deren Zweck es ist, in
Deutschland das historische Bewusstsein über die Kolonialpolitik im ehema-
ligen Deutsch-Südwestafrika zu stärken, das Wissen über die kulturelle Viel-
falt und nationale Identität Namibias zu vertiefen und den bilateralen Aus-
tausch insbesondere auf Ebene der Jugend- und Bildungsarbeit zwischen bei-
den Ländern zu intensivieren.

Berlin, den 7. März 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die Kriegsführung der deutschen Kolonialtruppe in Deutsch-Südwestafrika in
den Jahren 1904 bis 1907 erfüllt die heute geltenden Kriterien für Völkermord.
Auch wenn die exakten Opferzahlen strittig sind, besteht am grundsätzlichen
Motiv der Vernichtung keinerlei Zweifel. Nach der im Krieg gegen die Herero
entscheidenden Schlacht am Waterberg vom 11./12. August 1904 flohen zehn-
tausende Männer, Frauen und Kinder vor den deutschen Truppen in die
Omaheke-Wüste. Das Sandfeld wurde daraufhin militärisch abgeriegelt, um die
Herero darin verdursten zu lassen. Am 2. Oktober 1904 gab der verantwortliche
General Lothar von Trotha den Vernichtungsbefehl aus: „Innerhalb der deut-
schen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh er-
schossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf…“. Der damalige deut-
sche Generalstabschef Alfred von Schlieffen nannte den Krieg einen „Rassen-
kampf“ und billigte ausdrücklich die „Vernichtung oder vollständige Knech-
tung“ der Herero.

Unter dem Eindruck des Vernichtungsfeldzugs gegen die Herero erhoben sich
die Nama, die die deutschen Truppen in einen jahrelangen Guerillakrieg ver-

wickelten. Auch deren Widerstand wurde brutal und unter gezielter Inkauf-
nahme der Vernichtung auch von Frauen und Kindern niedergeschlagen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4649

Die Völker der Damara und San befanden sich zu keinem Zeitpunkt in einem er-
klärten Krieg gegen das Kaiserreich. Dennoch waren sie von der deutschen
Kriegsführung ähnlich nachhaltig betroffen. Die Deutschen vermochten die Da-
mara in der Regel nicht von den Herero zu unterscheiden. Die San wurden als
„Buschmänner“ von den Kolonialherren wie Tiere gejagt.

Ausgangspunkt der Aufstände war die Erfahrung mit dem deutschen Kolonialis-
mus. Weite Landstriche, die von den Einheimischen bewirtschaftet worden sind,
wurden von den Kolonialbehörden durch Abschluss betrügerischer, auch militä-
risch erzwungener „Schutzverträge“ der jeweiligen Bevölkerung entzogen. Im
Verlauf des Krieges forcierte die Regierung in Berlin die Enteignungen durch
Methoden, die der Definition des Völkermords entsprechen.

Per kaiserliches Dekret vom 26. Dezember 1905, sowie durch die Bekanntma-
chungen vom 23. März 1906 und 8. Mai 1907 erklärte sie das Land der aufstän-
dischen Bevölkerungsgruppen zum Staatseigentum. Den traditionell von der
Viehzucht lebenden Herero und den Nama wurde der Besitz von Pferden und
Rindern verboten. Zehntausende Tiere wurden ohne Zahlung von Kompensa-
tionsleistungen geraubt. Damit wurden auch die ökonomischen Existenzgrund-
lagen der überlebenden Herero und Nama zerstört und ihre Gemeinschaften so-
zial entwurzelt. Die von den deutschen Kolonialisten durchgeführten Landent-
eignungen begründeten die extrem ungleiche Landverteilung im heutigen Ost-,
Zentral- und Südnamibia. Sie wirken bis in die Gegenwart nach.

Viele der überlebenden Herero und Nama wurden als Gefangene unter men-
schenunwürdigen Bedingungen in so genannten Konzentrationslagern einge-
pfercht. Sie waren zur Verrichtung schwerer körperlicher Arbeit vor allem im
Eisenbahnbau gezwungen. In dem berüchtigten Lager auf der Haifischinsel vor
der Lüderitzbucht starb ein Großteil der Inhaftierten an den Folgen bewusst her-
beigeführter Unterversorgung. Die Militärführung billigte überdies in den
Lagern die Vergewaltigung von Herero- und Nama-Frauen durch deutsche Sol-
daten. Ergebnis waren zahlreiche ungewollte Schwangerschaften.

Erst mit der namibischen Unabhängigkeit waren die Nachfahren der Opfer in der
Lage, gegenüber der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des
deutschen Kaiserreichs die offizielle Anerkennung des Völkermords einzufor-
dern. Das Auswärtige Amt hat die von den Repräsentanten der Herero im Jahre
1990 entsprechend erhobenen Forderungen nach moralischer und finanzieller
Wiedergutmachung zurückgewiesen und seitdem jeden Dialog verweigert.
Auch während der Staatsbesuche in Namibia von Bundeskanzler Dr. Helmut
Kohl im Jahr 1995 und von Bundespräsident Roman Herzog im Jahr 1998
fanden die Herero kein Gehör. Vor diesem Hintergrund reichte die Herero
People’s Reparations Corporation unter Führung von Paramount-Chief Kuaima
Riruako, sowie 199 individuelle Herero am 19. September 2001 auf rechtlicher
Grundlage des Alien Tort Claims Act vor dem Bezirksgericht des Distrikts
Columbia in den USA Klage gegen einzelne deutsche Unternehmen ein, die in
Deutsch-Südwestafrika von der kolonialen Ausbeutung des Landes profitiert
hatten. Bei den verklagten Firmen handelte es sich um die Deutsche Afrika-
Linien als Nachfolgerin der Schifffahrtsgesellschaft Woermann-Linie, um die
Terex als Nachfolgerin der in Deutsch-Südwestafrika führenden Bergbau- und
Eisenbahngesellschaft von Orenstein-Koppel Co. und um die Deutsche Bank,
die gemeinsam mit der später übernommenen Diskonto-Gesellschaft zwischen
1890 und 1915 das Bankwesen in der Kolonie kontrollierte. In einem separaten
Verfahren vor dem US Federal Court in Washington wurde die Bundesrepublik
Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs auf Wiedergut-
machung verklagt. Die Klagen blieben folgenlos.

Infolge des erfolgreichen innernamibischen Dialogs um die Forderung nach

Wiedergutmachung schlossen sich 2006 auch die Repräsentanten der Nama und
Damara den von den bis dahin vornehmlich von Herero vorgebrachten An-

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sprüchen an. Unter den verschiedenen Repräsentanten der Herero besteht heute
Einigkeit, dass Wiedergutmachung nur in Form nachhaltig wirkender Projekte
zur Entwicklung der angestammten Siedlungsgebiete erfolgen kann. Davon
würden alle dort heute ansässigen Bewohner Namibias profitieren, einschließ-
lich der Nachfahren deutscher Siedler.

Die Bereitschaft des deutschen Staates zu materieller Wiedergutmachung legt
den Grundstein zu nachhaltiger Aussöhnung, da es den betroffenen Volksgrup-
pen, als auch der Regierung in Windhoek die Ernsthaftigkeit des deutschen Wil-
lens zur Übernahme besonderer Verantwortung im Verhältnis zu Namibia signa-
lisiert. Sie ist gleichbedeutend mit der historischen Anerkennung des Genozids.

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