BT-Drucksache 16/4621

zu der zweiten Beratung des Antrags der Bundesregierung -16/4298, 16/4571- Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001), 1413 (2002), 1444 (2002), 1510 (2003), 1563 (2004), 1623 (2005) und 1707 (2006) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Vom 7. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4621
16. Wahlperiode 07. 03. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Birgit Homburger, Hellmut Königshaus,
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen,
Horst Friedrich (Bayreuth), Miriam Gruß, Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter
Haustein, Elke Hoff, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Heinz Lanfermann,
Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Markus Löning, Horst Meierhofer,
Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Jörg Rohde,
Frank Schäffler, Dr. Konrad Schily, Marina Schuster, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Christoph Waitz,
Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr),
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 16/4298, 16/4571 –

Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer
Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter
Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001),
1413 (2002), 1444 (2002), 1510 (2003), 1563 (2004), 1623 (2005) und
1707 (2006) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die gemeinsame Verantwortung für den Wiederaufbau Afghanistans

Deutschland leistet einen bedeutenden Beitrag zur Stabilisierung und zum Wie-
deraufbau Afghanistans. Mit finanziellen Zusagen in Höhe von ca. 750 Mio.
Euro bis zum Jahre 2008 ist Deutschland das viertgrößte Geberland. Ungefähr

3 000 deutsche Soldaten tragen jetzt schon in Afghanistan zur Stabilisierung der
Sicherheitslage bei. Dies ist Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen zivilen
Wiederaufbau und die Schaffung tragfähiger afghanischer Staatsstrukturen, die
die Traditionen des Landes mit demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien
in Einklang bringen sollen. Die Notwendigkeit von zivilem und militärischem
Engagement der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan ist weiter-
hin gegeben. Der Ausgangspunkt des internationalen Engagements in Afghanis-

Drucksache 16/4621 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

tan war die Vertreibung der Taliban, die nicht nur das afghanische Volk unter-
drückten, sondern darüber hinaus international agierenden Terroristen wie dem
„Al-Kaida-Netzwerk“ eine staatlich geschützte Operationsbasis boten.

Mit der Teilnahme an der International Security Assistance Force (ISAF) hat
Deutschland einen Teil der Gesamtverantwortung für den Wiederaufbau Afgha-
nistans übernommen – unabhängig von einer sinnvollen Aufgabenverteilung
zwischen den Bündnispartnern hinsichtlich der geographischen Schwerpunkt-
setzungen und der zu bewältigenden Aufgaben. Der Deutsche Bundestag sieht
die sich verschärfende Sicherheitslage und die damit einhergehenden Rück-
schläge bei den Wiederaufbau- und Stabilisierungsbemühungen der internatio-
nalen Staatengemeinschaft in Afghanistan deshalb mit großer Sorge.

2. Hauptprobleme des Wiederaufbaus

Mehr als fünf Jahre nach Beginn der Wiederaufbaubemühungen stehen drei
Hauptprobleme einem Erfolg der internationalen Staatengemeinschaft beim
Wiederaufbau des Landes nachhaltig im Wege: erstens die Zunahme des Dro-
genanbaus und des Drogenhandels, zweitens die Situation im afghanisch-pakis-
tanischen Grenzgebiet, drittens die bis in höchste Regierungskreise reichende
Korruption. Die sich verschärfende Sicherheitslage in Afghanistan im Jahre
2006 ist vor allen Dingen auf ungelöste Probleme in diesen drei Bereichen zu-
rückzuführen. Dies wiederum behindert die zivilen Wiederaufbaubemühungen,
insbesondere in den Regionen, wo zivile Hilfe am meisten gebraucht würde.

2.1. Die Drogenproblematik

Während noch 2005 sichtbare Erfolge bei der Drogenbekämpfung erzielt
werden konnten, d. h. sowohl Anbaufläche, Produktion, Zahl der Drogenbauern
und Preise deutlich reduziert werden konnten, hat sich dieser Trend im Jahre
2006 wieder umgekehrt. Im letzten Jahr hat nach Angaben des United Nations
Office on Drugs and Crime (UNODC) die Drogenanbaufläche um 59 Prozent
auf 169 000 Hektar zugenommen. Die Zahl der in Drogenanbau, -verarbeitung
und -handel involvierten Personen ist auf knapp drei Millionen und somit
ca. 10 Prozent der Bevölkerung angewachsen. 92 Prozent des weltweit gehan-
delten Heroins stammen aus Afghanistan. Der Handelswert beläuft sich auf über
3 Mrd. US-Dollar. Schwerpunktmäßig nimmt der Drogenanbau insbesondere in
den südlichen Provinzen des Landes zu. Allein in der Provinz Helmand befinden
sich über 40 Prozent der landesweiten Drogenanbauflächen. Aber selbst in den
nördlichen Provinzen, für die Deutschland die regionale Verantwortung über-
nommen hat, befinden sich weiterhin Zentren des Drogenanbaus. Die Vereinten
Nationen weisen seit Jahren zu Recht darauf hin, dass die Stabilisierung des
Landes entscheidend von der Lösung der Drogenproblematik abhängt.

Schlüssige Konzepte zur Bewältigung der Drogenproblematik liegen bis heute
nicht vor. Eine mittel- und langfristige Strategie zur Drogenbekämpfung muss
auf allen drei Ebenen, d. h. bei der Produktion, dem Handel und den Konsumen-
ten ansetzen. In Afghanistan selbst sind Alternativprojekte zum Drogenanbau
für die ländliche Bevölkerung wenig attraktiv, die Drogenhandelsrouten intakt
und die aus dem Handel resultierenden Finanzströme national wie international
zu wenig kontrolliert. Darüber hinaus ist es erforderlich, die Nachbarstaaten
Afghanistans in die Maßnahmen zur Drogenbekämpfung einzubeziehen.

2.2. Das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet

Die nordwestlichen Provinzen Pakistans entziehen sich weitgehend staatlicher
Kontrolle und sind u. a. für die Taliban eine Rückzugs- und Operationsbasis.
Eine Stabilisierung der Region wird ohne die Lösung der Flüchtlingsproblema-

tik nicht zu erreichen sein. Daher müssen die pakistanische und die afghanische
Regierung mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft die Rückfüh-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4621

rung der derzeit noch drei Millionen Flüchtlinge in Pakistan in ihre Heimat tat-
sächlich durchführen.

Den dreieinhalb Millionen Einwohnern in dieser Region Pakistans müssen drin-
gend Bildungsangebote außerhalb der etablierten Koranschulen gemacht werden
und legale Einkommensperspektiven aufgezeigt werden. Allein in der Region
Belutschistan fehlen mehrere tausend reguläre Schulen. Trotz massiver militäri-
scher Präsenz zwischen 2004 und 2006 ist es der pakistanischen Regierung nicht
gelungen, die Kontrolle über diese Gebiete zu gewinnen. Daher muss die inter-
nationale Gemeinschaft die pakistanischen Sicherheitsbehörden bei der Wahr-
nehmung gemeinsamer Interessen sowie im Rahmen der Ausbildungszusam-
menarbeit unterstützen.

2.3. Korruption in Afghanistan

Alle bisherigen Vereinbarungen der internationalen Staatengemeinschaft – von
den in Bonn im Jahre 2001 beschlossenen Vereinbarungen bis hin zum „Afgha-
nistan Compact“ des Jahres 2006 – bauen auf der Idee einer nach rechtsstaat-
lichen Prinzipien funktionierenden afghanischen Zentralregierung auf. In der
Realität zeigt sich jedoch, dass Korruption und Ineffizienz das aktuelle Bild der
afghanischen Staatsstrukturen prägen.

Bis in höchste Kreise der Regierung und der zentralen wie regionalen Verwal-
tung – einschließlich der Sicherheitsapparate – wurden von Präsident Hamid
Karzai Personen berufen, die in direktem Zusammenhang mit Kriegsverbre-
chen, Korruption und Drogengeschäften stehen. Dies gefährdet die Akzeptanz
der Zentralregierung in der afghanischen Bevölkerung und somit mittelbar auch
die der internationalen Staatengemeinschaft. Ohne eine Strategie zur Korrup-
tionsbekämpfung und Effizienzsteigerung wird die afghanische Regierung nicht
in der Lage sein, Rückhalt in der afghanischen Bevölkerung zu erlangen und die
international getroffenen Vereinbarungen umzusetzen.

3. Geberhilfe

Die finanzielle Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft zum
Wiederaufbau Afghanistans beläuft sich von 2001 bis 2008 auf ca. 12 Mrd. US-
Dollar. 30 Prozent dieser Hilfe werden von der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten geleistet. Mit dieser Hilfe konnten bereits beachtliche Erfolge
erzielt werden, insbesondere im Bereich der Grundversorgung, bei Infrastruk-
turmaßnahmen und im Gesundheits- und Bildungsbereich. Von einem „Durch-
bruch“ bei den Wiederaufbaubemühungen ist Afghanistan jedoch noch weit
entfernt. Deutliche Defizite zeigen sich auch in dem von Deutschland federfüh-
rend betreuten Bereich des Polizeiaufbaus. Der Deutsche Bundestag sieht mit
großer Sorge, dass die Europäische Union eine deutliche Reduzierung ihrer
finanziellen Zusagen für den Zeitraum von 2007 bis 2010 angekündigt hat.

Die Koordination der Geberhilfe für Afghanistan ist unzureichend. Dies gilt für
die Arbeit der beteiligten Ressorts der Bundesregierung und ihrer Durchfüh-
rungsorganisationen. Und es gilt erst recht für die Koordination unter den Ge-
berländern der ISAF. Die operative Abstimmung zwischen militärischen und
polizeilichen Maßnahmen auf der einen und zivilen Aufbaumaßnahmen auf der
anderen Seite bedarf dringend der Verbesserung. Dies gilt auch für die Abstim-
mung der aufeinander aufbauenden zivilen Maßnahmen wie den Bau von Schu-
len und die gleichzeitig notwendige Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern.

Der im Jahre 2006 in London verabschiedete „Afghanistan Compact“ wird der
Situation in Afghanistan nur unzureichend gerecht. Die Zielvereinbarungen des
„Afghanistan Compact“ gehen zum einen von einer stabilen Sicherheitslage,
zum anderen von funktionierenden Strukturen in der afghanischen Zentralregie-

rung aus. Beides entspricht nicht der Realität. Eine enge geberseitige Koordinie-

Drucksache 16/4621 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

rung ist in diesem Umfeld eine Grundvoraussetzung für den Erfolg der Wieder-
aufbaubemühungen. Dabei gilt es auch zu verhindern, dass die Entwicklungs-
unterschiede innerhalb des Landes nicht so groß werden, dass alte Stammesriva-
litäten wieder aufbrechen. Vierteljährliche Treffen des seit 2006 existierenden
Joint Coordination and Monitoring Board (JCMB) reichen für eine effiziente
Koordinierung der Geberhilfe bei weitem nicht aus.

4. Mehr Engagement heißt mehr Verantwortung

Der Deutsche Bundestag ist sich der Tatsache bewusst, dass mit der Entsendung
zusätzlicher militärischer Kräfte nach Afghanistan und der Ausweitung des
Operationsgebietes der Bundeswehr auch eine größere Verantwortung auf
operativer Ebene einhergeht. Der Deutsche Bundestag erwartet von der Bundes-
regierung deshalb, dass sie dieser Verantwortung gerecht wird und bei den
ISAF-Partnern darauf drängt, die Operationsführung im Süden und Osten des
Landes so zu gestalten, dass das notwendige militärische Vorgehen und die
zivile Wiederaufbauhilfe enger als bisher aufeinander abgestimmt werden. Auch
für den Süden und Osten Afghanistans gilt, dass die Priorität beim zivilen
Wiederaufbau liegen muss. Militärische Operationen im Rahmen von ISAF ver-
folgen einzig und allein das Ziel, die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen
zu schaffen. Der Kernansatz des ISAF-Einsatzes ist politischer und nicht mili-
tärischer Natur. Dies muss in der Informationspolitik und Rhetorik der Vertreter
des Bündnisses klar zum Ausdruck kommen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. der mit der Ausweitung des militärischen deutschen Engagements einher-
gehenden Verantwortung gerecht zu werden und entsprechend dem Prinzip
einer engen Vernetzung von militärischem und zivilem Wiederaufbau ver-
stärkt Einfluss auf die Operationsführung im Süden und Osten des Landes zu
nehmen und den Deutschen Bundestag über ihre diesbezüglichen Bemühun-
gen zu unterrichten;

2. gemeinsam mit den ISAF-Partnern einen operativen Gesamtansatz für den
Wiederaufbau des Landes zu entwickeln, der die Erfahrungen der unter-
schiedlich konzipierten Wiederaufbaubemühungen, insbesondere auch die
der Provincial Reconstruction Teams (PRT), mit einbezieht;

3. für schnell sichtbare, dringend erforderliche Projekte in Nordafghanistan im
Rahmen der Provincial Development Funds bis 2007 ausreichend Mittel zur
Verfügung zu stellen und für die Folgejahre eine zumindest gleich bleibende
Mittelausstattung zu gewährleisten;

4. die 2007 wieder aufgenommenen Entwicklungsprojekte in den Provinzen
Paktia, Paktika und Khost erheblich auszuweiten;

5. die bisherige Drogenbekämpfung im Rahmen der internationalen Gemein-
schaft, insbesondere auch mit den unmittelbaren Nachbarstaaten, zu evalu-
ieren, eine neue gemeinsame Strategie zu erarbeiten und diese entschlossen
umzusetzen. Dabei ist ein Schwerpunkt beim Drogenhandel zu setzen;

6. im Rahmen der internationalen Gemeinschaft eine Initiative zur besseren
Koordinierung der Geberleistungen zu ergreifen;

7. in Abstimmung mit der internationalen Gemeinschaft gegenüber der
Regierung Hamid Karzai in aller Deutlichkeit hervorzuheben, dass sie ihrer
Verantwortung für einen Erfolg der Wiederaufbaubemühungen insbesondere
im Bereich der Korruptionsbekämpfung und damit der Personalpolitik nach-
kommen muss. In diesem Zusammenhang ist die afghanische Regierung auf-
zufordern, innerhalb von sechs Monaten einen Plan zur Korruptionsbekämp-
fung und zur Effizienzsteigerung der Regierungs- und Verwaltungsstrukturen

vorzulegen;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/4621

8. international abgestimmt Pakistan aufzufordern und dabei politisch zu
unterstützen, gegen islamistische, terroristische und kriminelle Kräfte im
eigenen Land, insbesondere im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet,
vorzugehen;

9. die Arbeit der Bundesressorts auf allen Ebenen umfassend zu vernetzen;

10. eine Initiative zu ergreifen und gegenüber dem Deutschen Bundestag dar-
zulegen, wie sie ihrer zentralen Verantwortung für den Polizeiaufbau in
Afghanistan zukünftig besser gerecht werden will;

11. den Deutschen Bundestag zukünftig über eingegangene Anforderungen der
NATO zur Entsendung militärischer Kräfte zeitnah und in geeigneter Form
zu unterrichten und in dem Zusammenhang dem Deutschen Bundestag Ein-
sicht in die betreffenden Dokumente zu gewähren;

12. zum Schutz der eingesetzten deutschen Soldaten alles zu tun, was technisch
und organisatorisch möglich ist;

13. dafür Sorge zu tragen, dass einsatzbedingte Mehrausgaben zukünftig nicht
zu Lasten des Einzelplans 14 gehen.

Berlin, den 6. März 2007

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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