BT-Drucksache 16/449

WTO-Liberalisierungsrunde stoppen

Vom 25. Januar 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/449
16. Wahlperiode 25. 01. 2006

Antrag
der Abgeordneten Ulla Lötzer, Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel,
Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

WTO-Liberalisierungsrunde stoppen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Industrieländer bezeichnen die aktuelle Verhandlungsrunde der WTO als
„Entwicklungsrunde“. In Wahrheit ist die WTO kein Instrument der Entwick-
lungshilfe, sondern hat die Durchsetzung des weltweiten Freihandels zum Ziel
im Interesse der Unternehmen, die in der Lage sind, transnational zu agieren.

Auch bei der aktuellen Runde handelt es sich um eine weitere umfassende Libe-
ralisierungsrunde, in deren Zentrum die Durchsetzung des freien Marktzugangs
für Nicht-Agrargüter (NAMA) und die Liberalisierung des Dienstleistungs-
sektors (GATS) im Interesse der Industrieländer stehen.

1. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Vereinbarungen der Ministerratstagung
von Hongkong über den Abbau der Exportsubventionen bis zum Jahr 2013,
wenngleich der Zeitraum zu lange bemessen ist.

Insbesondere ist zu begrüßen, dass es den Entwicklungsländern gelang,Maßnah-
men zum Schutz ihrer Landwirtschaftsprodukte durchzusetzen, die für die Ge-
währleistung von Ernährungssicherheit, ländliche Entwicklung und die Einkom-
men der armen Bauern notwendig sind. Mit Preis- und Mengenbegrenzungen
können sie Importfluten verhindern.

Die Agrar-Exportsubventionen der Industrieländer beeinträchtigen die Absatz-
chancen der Produzenten der armen Länder sowohl auf demWeltmarkt als auch
auf den heimischen Märkten, die mit Agrarprodukten aus den Industrieländern
überschwemmt werden.

Freihandel und die Förderung des Exports von landwirtschaftlichen Erzeugnis-
sen aus Entwicklungsländernwerden als wichtiger Beitrag zu deren Entwicklung
postuliert.

Die zunehmende Exportorientierung in der Landwirtschaft – von IWF undWelt-
bank mittels ihrer Strukturanpassungsprogramme forciert – führt jedoch zu einer
Reihe negativer Effekte in den betroffenen Ländern. Ihre Landwirtschaft wird re-
duziert auf Produkte, die sich auf dem Weltmarkt verkaufen lassen (z.B. Futter-
mittel). Sie wird einseitig intensiviert und eine Konzentration auf Großbetriebe
gefördert. Verlierer sind kleinbäuerliche Produzenten.

Diese Umstrukturierung gefährdet die Umwelt. Ernährungssouveränität durch
ausreichendeVersorgung der heimischenMärktemit Lebensmitteln könnte nicht
gewährleistet werden.

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Die Abhängigkeit von externen Faktoren derWeltwirtschaft, z. B. Zinssätze oder
Wechselkurse, beeinflusst die Preise für Saatgut und Dünger und verstärkt diese
Entwicklung.

Durch dieWeltmarktausrichtung der europäischen Agrarpolitik ist auch die bäu-
erliche Landwirtschaft in Europa gefährdet. Zu den gegenwärtigen Weltmarkt-
preisen können auch in der EuropäischenUnion nur noch wenige Bauern kosten-
deckend produzieren. Das Fördersystem bevorteilt wenige große Agrarprodu-
zenten. Die einseitigeAusrichtung auf Produktivitätssteigerung und Export führt
zu erheblichen Umweltbelastungen durch die Intensivierung der Landwirtschaft
(Monokulturen, Abnahme von Grundwasserreserven, Pestizideinträge) und den
gewaltigen Anstieg des Transportaufkommens.

Gewinner des Freihandels sind vor allem das Agrobusiness, die transnationalen
Lebensmittelkonzerne und Lebensmittelhändler sowie die vorgelagerte Agrar-
industrie wie Mischfutter- und Agrarchemie-Industrie der Industrieländer.

2. Zugeständnisse an Entwicklungsländer im Agrarsektor wurden und werden
von den Industrieländern, ganzmassiv auch von der Bundesregierung, an Libera-
lisierungsfortschritte in anderen Bereichen geknüpft. Im Zentrum des Interesses
der Industrieländer stehen Schritte für eine weitere Liberalisierung bei den
Nicht-Agrargütern (NAMA) und Dienstleistungen (GATS).

Der Deutsche Bundestag lehnt diese Weichenstellung ab. Die derzeit geforderte
massive Zollsenkung für Nicht-Agrargüter würde zu einer Erhöhung der Staats-
defizite der Entwicklungsländer führen, da sie die Haupteinnahmequelle darstel-
len. Zudem benötigen viele Entwicklungsländer Schutzzölle, Subventionen und
andere Maßnahmen, um ihre jungen Industrien zu fördern und vor dem Wettbe-
werb mit entwickelten Industrien zu schützen. Würden die NAMA-Verhandlun-
gen im Sinne der Industrieländer abgeschlossen werden, ist mit einer De-Indus-
trialisierung und Erhöhung der Arbeitslosigkeit in den Entwicklungsländern zu
rechnen.

Die von den Industrieländern geforderte Beschleunigung der Liberalisierung
durch den Abbau „nicht-tarifärer Handelshemmnisse“ (Einfuhrverbote, Subven-
tionen, Kennzeichnungen) in Sektoren wie Chemie, Forst- und Fischereipro-
dukte befördert weltweit den Raubbau an den natürlichen Ressourcen und den
Abbau umweltpolitischer Regulierungs- und Eingriffsmöglichkeiten.

3. Im Zuge der Liberalisierung des Dienstleistungssektors sollen weite Bereiche
der öffentlichen Daseinsvorsorge privatisiert und nationale Qualitäts- oder Sozi-
alstandards als „Handelshemmnisse“ beseitigt werden. Gerade die EU drängte
bereits im Vorfeld massiv darauf, eineMindestverpflichtung imDienstleistungs-
bereich festzuschreiben.

Im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge sind noch viele politische und
finanzielle Anstrengungen notwendig, um allen Menschen einen freien und
sicheren Zugang zu öffentlichen Gütern zu ermöglichen. Eine Unterwerfung der
Bereiche der öffentlichenDaseinsvorsorge unter dieVerwertungslogiken der Pri-
vatwirtschaft ist kontraproduktiv und verschärft weltweit die Versorgungs- und
Zugangsprobleme, statt sie zu lösen.

EineÖffnung der Dienstleistungsmärkte der weniger entwickelten Länderwürde
den Aufbau einer eigenen Dienstleistungswirtschaft verhindern, da diese nicht
mit international agierenden Dienstleistungsunternehmen konkurrieren können.
Gleichzeitig würden Arbeitsplätze in den Dienstleitungsbranchen der Industrie-
länder vernichtet werden.

4. Bei dem in Hongkong zugesagten „Entwicklungspaket“ von 2 Mrd. US-Dollar
handelt es sich vor allem um eine Umschichtung von zugesagten Entwicklungs-
hilfegeldern in handelsbezogene Maßnahmen, letztlich also um eine Reduzie-
rung der Entwicklungshilfe zum Aufbau eigener tragfähiger wirtschaftlicher
Strukturen zugunsten einer Förderung der Abhängigkeit von Export und Mono-
strukturen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/449

5. Maßstab für die Beurteilung der Ergebnisse der Ministerratstagung in Hong-
kong kann nicht nur sein, inwieweit sich Regierungen von Entwicklungsländern
durchsetzen konnten. Maßstab muss sein, inwieweit multilaterale Vereinbarun-
gen zu mehr Gerechtigkeit imWelthandel führen, eine tragfähige Entwicklungs-
perspektive für die Menschen in den Entwicklungsländern eröffnet wird. Maß-
stab muss darüber hinaus sein, inwieweit solche Vereinbarungen in Industrie-
und Entwicklungsländern den Herausforderungen an ein sozialökologisch nach-
haltigesWirtschaften gerecht werden undArbeit schaffen, statt sie zu vernichten.
Dies ist jedoch mit einer Liberalisierungs- und Exportagenda, wie die der WTO,
nicht zu erreichen. Im Gegenteil: Rechtlich verbindliche Liberalisierungsverein-
barungen verengen politischeGestaltungsräume und stehen daher demBemühen
um sozialen Ausgleich und ökologischer Nachhaltigkeit und oftmals auch volks-
wirtschaftlicher Vernunft entgegen. Wirtschaftspolitik und Regierungen setzen
zunehmend auf Export und die Erhöhung der Weltmarktanteile. Die Folgen sind
weltweite Überproduktion und ein verschärfter Verdrängungswettbewerb, nicht
nur in Entwicklungsländern, sondern gerade auch in Industrieländern. Ungleich-
heiten zwischen den und innerhalb der Gesellschaften werden zugespitzt. Be-
richte von UNCTAD, UNDP oder ILO haben diesen Zusammenhang mehrfach
nachgewiesen.

In Fragen verbindlicher Regelungen zu Sozialstandards imWelthandel, des Ver-
hältnisses vonHandel undUmwelt und vonHandel und biologischer Vielfalt gab
es keinerlei Fortschritte in denVerhandlungen. Stattdessen treiben transnationale
Konzerne Regierungen zumWettlauf um niedrigste Steuern, Sozialdumping und
zumAbbau ökologischer Vorschriften.

Der Deutsche Bundestag wird die weiteren Verhandlungen in Genf kritisch be-
gleiten, da verhindert werden muss, dass die Industrieländer hinter verschlosse-
nen Türen durchDruck auf einzelne EntwicklungsländerVereinbarungen herbei-
führen, die einem fairen Handel, sozialer Sicherheit, ökologischen Notwendig-
keiten sowie einer entwicklungspolitischen Perspektive entgegenstehen.

Vor allem gilt es, Alternativen zu entwickeln, die den sozialen, ökologischen und
Entwicklungsinteressen gegenüber der WTO rechtsverbindlich Geltung ver-
schaffen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich dafür einzusetzen,

1. dass die umfassende Liberalisierung des Welthandels nicht weitergeführt
wird,

2. dass innerhalb des Agrarsektors

– der Abbau der Exportsubventionen zügig und vollständig umgesetzt wird,

– die Agrarpolitik, insbesondere inDeutschland und der EU, von der Export-
orientierung auf die Orientierung hin zu regionaler Erzeugung und Ver-
marktung umgestellt wird,

– dass jedes Land das Recht hat, seine Landwirtschaft zu unterstützen, so-
weit es sich darum handelt, die regionale Produktion und Vermarktung
von Agrarprodukten zu fördern, Ernährungssouveränität herzustellen, den
ländlichen Raum zu erhalten und die Lebensbedingungen der Landwirte
und der in der Landwirtschaft Beschäftigten zu sichern,

3. dass im Bereich Marktzugang für Nicht-Agrargüter (NAMA) jedes Land das
Recht hat, zum Schutz und Aufbau der regionalen Produktion und Vermark-
tung von Industriegütern, zum Schutz der Lebens- und Arbeitsbedingungen
sowie der Umwelt Schutzzölle zu erheben und nicht-tarifäre Standards und
Instrumente (Einfuhrverbote, Subventionen, Kennzeichnungen) zu entwi-
ckeln und zu erhalten,

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4. dass im Bereich Dienstleistungen

– öffentliche Güter aus denWTO-Verhandlungen ausgenommen werden,

– keine Mindest-Liberalisierungsverpflichtungen vereinbart werden, son-
dern jedes Land souverän über Bereiche und Umfang vonMarktöffnungen
im Dienstleistungsbereich entscheiden kann,

– auch in plurilateralen und bilateralen Verhandlungen jedem Land das
Recht zugestanden wird, spezielle Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit,
Kultur, öffentlicher Verkehr, Wasser-, Abwasser- und Energieversorgung
etc.) zu nicht handelbaren öffentlichen Gütern zu erklären, deren Liberali-
sierung nicht gegen den Willen des jeweiligen Landes durchgeführt wer-
den kann,

5. dass im Bereich Patentierung und geistiges Eigentum

– Patente auf Leben verboten werden,

– traditionelle Systeme des Austausches und der kostenlosenWiederaussaat
nicht beschnitten werden,

– Ziele und Bestimmungen der Konvention über die biologische Vielfalt
erhalten werden und bei der Nutzung genetischer Ressourcen eine faire
Teilhabe der Entwicklungsländer an der Verwertung sichergestellt wird,

– die Produktion und der Zugang zu Generika sichergestellt und danach im-
mer weiter verbessert werden (dies muss für alle Medikamente gelten, die
zur Behandlung von Krankheiten einsetzbar sind. Die Unternehmen der
forschenden Pharmaindustrie müssen durch die Bundesregierung zu Preis-
nachlässen und Patentverzichten in Entwicklungsländern aufgefordert
werden),

– der gesamte Bereich TRIPS (Übereinkommen über handelsbezogene As-
pekte der Rechte am geistigen Eigentum) aus der WTO ausgenommen
wird,

6. dass im Rahmen der UN-Organisationen Konventionen zu den Bereichen
„öffentliche Güter“, „geistiges Eigentum“, „Ernährungssouveränität“, „In-
vestitionen“ und die „Einbeziehung transnationaler Konzerne in soziale und
ökologische Verantwortung“ ausgearbeitet werden und UN-Konventionen
wie auch die ILO-Kernarbeitsnormen einen rechtsverbindlichen Status und
einen Vorrang vor Handelsabkommen erhalten,

7. dass sowohl die WTO als auch der handelspolitische Prozess in Deutschland
und Europa insgesamt umfassend und unter Einbeziehung der nationalen Par-
lamente Gewerkschaften und Nicht-Regierungsorganisationen demokrati-
siert und in den Rahmen der UN-Institutionen eingebunden werden,

8. dass für die Entwicklungsländer das Prinzip der Sonderbehandlung („special
and differential treatment“) im Rahmen der WTO gestärkt wird, indem diese
nicht nur als Ausnahmeregelung Anwendung findet, sondern als grundsätzli-
ches Recht in allen WTO-Beschlüssen solange festgeschrieben wird, wie die
ökonomischen Ungleichgewichte zwischen Nord und Süd/Ost bestehen.

Berlin, den 24. Januar 2006

Ulla Lötzer
Hüseyin-Kenan Aydin
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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