BT-Drucksache 16/4487

Für einen umfassenden Schutz religiös Verfolgter in der Bundesrepublik Deutschland

Vom 1. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4487
16. Wahlperiode 01. 03. 2007

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Ulla Jelpke, Kersten Naumann,
Bodo Ramelow, Hüseyin-Kenan Aydin, Jan Korte, Wolfgang Neskovic
und der Fraktion DIE LINKE.

Für einen umfassenden Schutz religiös Verfolgter in der Bundesrepublik
Deutschland

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 des Rates der Europäischen
Union über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Flücht-
lingen oder Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, die
so genannte Qualifikationsrichtlinie, stellt nach Ablauf der Umsetzungsfrist
vom 10. Oktober 2006 unmittelbar anwendbares Recht in Deutschland dar.

2. Der Deutsche Bundestag weist darauf hin, dass nach Artikel 10 Abs. 1b der
Richtlinie 2004/83/EG der Begriff der Religion bei der Prüfung der Verfol-
gungsgründe „insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische
Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen
Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit
anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Ver-
haltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse
Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind“, umfasst.

3. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Aufforderung des Hohen Flüchtlings-
kommissars der Vereinten Nationen (UNHCR; vgl. dessen Stellungnahme
von Januar 2006 zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Aufenthaltsgesetzes, S. 3 ff.), im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung
in Deutschland, die lediglich die private Religionsausübung – das so ge-
nannte religiöse Existenzminimum – als asylrechtlich relevant betrachtet und
es für zumutbar erachtet, auf eine öffentliche Religionsausübung zu verzich-
ten, eine konsequente Anwendung des Schutzkonzepts der Qualifikations-
richtlinie hinsichtlich der öffentlichen Religionsausübung sicherzustellen.

4. Der Deutsche Bundestag bedauert, dass die maßgeblichen Hinweise des Bun-
desministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG des
Rates vom 13. Oktober 2006 (vgl. S. 8 f.) die Gefahr beinhalten, dass die Be-

hördenpraxis und Rechtsprechung in Deutschland am Begriff des „religiösen
Existenzminimums“ und den damit verbundenen Einschränkungen des
Flüchtlingsschutzes bei religiös Verfolgten festhalten.

5. Der Deutsche Bundestag erinnert daran, dass sich die Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit ihren am 30. November 2006 im
Deutschen Bundestag debattierten Anträgen „Solidarität mit verfolgten
Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten“ (Bundestags-

Drucksache 16/4487 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

drucksache 16/3608) und „Glaubensfreiheit weltweit achten“ (Bundestags-
drucksache 16/3614) für einen umfassenden Schutz von religiös Verfolgten
eingesetzt haben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Hinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie
2004/83/EG des Rates vom 13. Oktober 2006 bei der Prüfung der Verfolgungs-
gründe hinsichtlich des Begriffs der Religion entsprechend dem Wortlaut von
Artikel 10 Abs. 1b der Richtlinie abzuändern und diesen Wortlaut auch im
Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der aufenthalts- und asylrechtlichen
Richtlinien der Europäischen Union zu beachten, um einen uneingeschränkten
Schutz vor Verfolgung theistischer, nichttheistischer und atheistischer Glau-
bensüberzeugungen zu gewährleisten.

Begründung

Die bisherige Asylrechtsprechung und -praxis in Deutschland ist mit dem von
mehreren Fraktionen des Deutschen Bundestages vertretenen Grundsatz der
Solidarität mit aus religiösen Gründen Verfolgten und der Achtung der Glau-
bensfreiheit weltweit (zu der auch die Freiheit des Nichtglaubens gehört) nicht
vereinbar. Dies zeigen unter anderem mehrere Petitionen an den Deutschen Bun-
destag (z. B. 1-15-06-266-027568), mit denen abgelehnte Asylsuchende sich ge-
gen ihre Abschiebung wenden. Diese wird von Behörden und Gerichten in
Deutschland oftmals damit begründet, dass keine Verfolgung aus religiösen
Gründen vorliege, wenn die Betroffenen ihren Glauben im Privaten leben könn-
ten.

Mit dem Antrag von CDU/CSU und SPD vom 29. November 2006 (Bundes-
tagsdrucksache 16/3608) wird die Bundesregierung wiederum aufgefordert, sich
für ein „umfassendes Verständnis von Religionsfreiheit im Sinne der Allgemei-
nen Erklärung der Menschenrechte“ einzusetzen. Sowohl die Allgemeine Er-
klärung der Menschenrechte als auch der Internationale Pakt über bürgerliche
und politische Rechte, auf die sich der Antrag bezieht, definieren die zu schüt-
zende Religionsfreiheit unter anderem als die Freiheit, die Religion allein oder
in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat zu bekennen.

Dem steht die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG 2 BvR 478/86 u. a.; Be-
schluss vom 1. Juli 1987) und vom Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG
1 C 9.93, Urteil vom 20. Januar 2004) entwickelte Asylrechtsprechung gegen-
über, wonach lediglich die private Religionsausübung – das so genannte religiöse
Existenzminimum – asylrechtlich schutzbedürftig und es überdies zumutbar sei,
zur Vermeidung von Verfolgung auf eine öffentliche Religionsausübung zu ver-
zichten.

Diese Rechtsprechung ist jedoch nicht mit den seit dem 10. Oktober 2006 ver-
bindlichen Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar (vgl. Reinhard Marx,
Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/
EG, Stand: 10. August 2005, Kapitel 4, S. 14 Rn. 13 ff.). Ebenso wenig ist ein
Ausschluss von der Schutzgewährung in Fällen des Glaubenswechsels im Zu-
fluchtland im Rahmen des Konzepts „gewillkürter Nachfluchtgründe“ mit der
Qualifikationsrichtlinie vereinbar (vgl. Reinhard Marx, a. a. O., S. 23).

Die Hinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der Richt-
linie 2004/83/EG des Rates vom 13. Oktober 2006 (vgl. S. 8 f.) weisen zwar auf

den Artikel 10 Abs. 1 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie und auf die
grundsätzliche Relevanz der religiösen Betätigung im öffentlichen Bereich bei

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4487

der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft hin. Die Hinweise nehmen jedoch unzu-
lässige Einschränkungen bei der Anwendung der Qualifikationsrichtlinie vor
und legen in der jetzigen Form nahe, die restriktive Rechtsprechung und Anwen-
dungspraxis im Asylverfahren zum „religiösen Existenzminimum“ fortzuset-
zen, wenn es heißt: „Der Grundsatz, dass nur die Religionsausübung im privaten
Bereich („forum internum“) geschützt ist, gilt daher nicht mehr uneinge-
schränkt. Allerdings kann die öffentliche Religionsausübung nur dann zu den
unabdingbaren Elementen einer Religion gerechnet werden, wenn sie zu dem für
die Menschenwürde unverzichtbaren Teil des religiösen Selbstverständnisses zu
zählen ist. Die hierbei zu beachtenden Kriterien sind vergleichbar mit denjeni-
gen, die bislang für die Feststellung des religiösen Existenzminimums maßgeb-
lich waren“ (a. a. O., S. 9). Ein möglichst umfassender Schutz religiös Verfolg-
ter wird so nicht erreicht.

Der Abgeordnete Hüseyin-Kenan Aydin hat am 30. November 2006 im Deut-
schen Bundestag (Plenarprotokoll 16/70, S. 6890) in seiner Rede darauf hinge-
wiesen, dass einer Anprangerung der Verfolgung von Christen und Christinnen
etwa in Pakistan auch die entsprechende Anerkennung dieser Verfolgung im
Asylverfahren in Deutschland folgen muss.

Berlin, den 28. Februar 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.