BT-Drucksache 16/4287

Situation Intersexueller in Deutschland

Vom 5. Februar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4287
16. Wahlperiode 05. 02. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Karin Binder, Katja Kipping,
Kersten Naumann, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Situation Intersexueller in Deutschland

Es gilt als natürliche und unumstößliche Wahrheit, dass Menschen entweder
männlich oder weiblich sind. Welcher dieser beiden Kategorien sie zugeordnet
werden, ließe sich an ihren Körpern festmachen. Jedoch hat es schon immer
Menschen gegeben, deren Körper sich nicht ohne weiteres in dieses binäre
Schema einordnen lassen. Sie werden Hermaphroditen, Zwitter, Intersexuelle
oder neuerdings nach dem so genannten Chicago Consensus DSD-Patienten
(DSD = Disorders of Sexual Development, vgl. z. B. http://dsd2006.abstract-
management.de/overview/?ID=1777) genannt. Mit dem Begriff „Intersexu-
alität“ hat sich die medizinische Sicht auf dieses historisch schon seit langem
bekannte Phänomen durchgesetzt. Intersexualität fasst eine Vielzahl von ver-
schiedenen Diagnosen zusammen und meint im weitesten Sinne das Vorhan-
densein von körperlichen Merkmalen beider Geschlechter bei einer Person.
Dem medizinischen Diskurs entsprechend wird die geschlechtliche Uneindeu-
tigkeit in ihren zahlreichen Varianten als Krankheit verstanden, die therapiert
werden kann – und muss. Die Eindeutigkeit der Bipolarität der Geschlechter
wird bei dieser Herangehensweise immer schon vorausgesetzt – obwohl es
weder anatomisch, gonadal, hormonell noch chromosomal möglich ist, die
Menschheit in zwei tatsächlich klar voneinander abzugrenzende Kategorien ein-
zuteilen (vgl. z. B. Anne Fausto-Sterling „Sexing the Body“, 2000; Suzanne
Kessler, „Lessons from the Intersexed“, 1998). Wird nach der Geburt bei einem
Kind eine der zur Intersexualität zählenden Diagnosen gestellt, beginnt ein
leidvoller Weg. Zunächst wird eine geschlechtliche Zuordnung vorgenommen.
Gängige Praxis ist dabei, sich in ca. 90 Prozent der Fälle für das weibliche
Geschlecht zu entscheiden, da dieses bislang chirurgisch „leichter“ herzustellen
ist (vgl. Cheryl Chase, Hermaphrodites with Attitude: Emergence of Intersex
Poitical Activism, in: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies. The Trans-
gender Issue 4, No. 2, S. 189 bis 212, 1998). Die operative Herstellung ein-
deutiger Genitalien ist von langjährigen Folgeuntersuchungen und Hormonein-
nahmen begleitet und geht oft mit erheblichen sensorischen Einbußen einher. Es
wird also in Kauf genommen, dass viele Patientinnen/Patienten ihre sexuelle
Empfindsamkeit einbüßen. Die Operation wird den Eltern mit der Begründung
nahegelegt, sie entspreche dem Interesse der zwischengeschlechtlichen Kinder,

so könnten diese ihre psychisch-sexuelle Identität möglichst ungestört ent-
wickeln (vgl. Oliver Tolmein, FamRZ 2002, 957 ff.). Studien, die diese Annah-
me belegen, sind allerdings nicht bekannt. Den Eltern wird normalerweise dazu
geraten, gegenüber dem Kind Stillschweigen über den wahren Charakter der
operativen und sonstigen medizinischen Eingriffe zu bewahren. Ab der Pubertät
und im Erwachsenenalter auftretende körperliche oder sexuelle Probleme
können so von den Betroffenen oft nur mit Mühe auf ihre eigentliche Ursache

Drucksache 16/4287 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

zurückgeführt werden. Die medizinischen Unterlagen sind meist sehr schwer
zugänglich. Da bislang keine Langzeitstudien über die Behandlungserfolge vor-
liegen und vor allem auch nicht wissenschaftlich untersucht wurde oder wird,
wie nicht operierte, nicht zugewiesene Intersexuelle mit ihrem Leben zurecht-
kommen, basiert die Kategorisierung von Intersexualität als Krankheit zum gro-
ßen Teil auf einer wissenschaftlich nicht fundierten, stillschweigenden Voraus-
setzung der Notwendigkeit der Zweigeschlechtlichkeit. Eine qualitative Studie
von Preves (Sharon E. Preves, Intersex and Identity: The Contested Self, 2003)
deutet jedenfalls darauf hin, dass Nichtoperierte weniger psychische Probleme
haben als Operierte.

Das Besondere am Umgang mit Intersexuellen ist, dass hier somatisch nur zum
Teil und psychisch überhaupt nicht revidierbare medizinische Eingriffe an Säug-
lingen, Kindern und Jugendlichen und damit an (noch) nicht Einwilligungsfähi-
gen vorgenommen werden. Das Ziel dieser Eingriffe ist die Herstellung eines
geschlechtlich eindeutig einzuordnenden Körpers. An diesen vereindeutigten
Körper wird von psychiatrischer Seite die Erwartung der Herausbildung einer
ebenfalls vereindeutigten Geschlechtsidentität geknüpft. In jüngster Zeit werden
immer mehr Fälle öffentlich, bei denen die körperliche Geschlechtszuweisung
im Rahmen der bipolaren Ordnung Mann/Frau bei den Betroffenen Widerspruch
erregt, sei es in Form der Ablehnung des jeweils zugewiesenen Geschlechts oder
auch in der Zurückweisung der geschlechtlichen Zuordnung an sich. Weltweit
setzen sich Organisationen und Interessensvertretungen von Intersexuellen für
das Recht auf Selbstbestimmung, die Vermeidung chirurgischer Eingriffe an
Minderjährigen, die Aufklärung der Eltern in alternativen Beratungsstellen und
die kompetente psychologische Betreuung der Familienmitglieder ein (so z. B.
in den USA die Intersex Society of North America ISNA und in Deutschland die
Gruppe „XY Frauen“).

In der Bundesrepublik Deutschland hat die aktuelle Debatte des Themas Inter-
sexualität inzwischen auch die Medien und damit eine breitere Öffentlichkeit er-
reicht (siehe z. B. taz 4. März 2005; FAZ 1. März 2002 und der Film „Das ver-
ordnete Geschlecht“ von Oliver Tolmein/Bertram Rotermund). In der deutschen
Rechtsordnung ist die Existenz intersexueller Menschen aber weiterhin nicht
vorgesehen (vgl. Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdruck-
sache 16/4147).

Wir fragen die Bundesregierung:

A. Statistik und Grundsätzliches

1. Wie viele Kinder werden nach den Informationen der Bundesregierung jähr-
lich in Deutschland geboren, die als intersexuell klassifiziert werden können
(Angaben bitte in absoluten Zahlen und Prozent, wenn notwendig mit einer
Einschätzung der Datenlage und den Grundlagen von Schätzungen)?

2. Seit wann werden in Deutschland geschlechtszuweisende Maßnahmen an
Säuglingen, Kleinkindern und Minderjährigen vorgenommen?

3. Wie viele Säuglinge und Kinder im vorpubertären Alter werden pro Jahr nach
der Diagnose der Intersexualität geschlechtszuweisenden medizinischen
Maßnahmen (Hormonbehandlung, chirurgische Eingriffe) unterworfen?

4. Ist nach dem Erkenntnisstand der Bundesregierung ein Rückgang ge-
schlechtszuweisender medizinischer Maßnahmen in den letzten Jahren zu
verzeichnen?

5. Wie lange befinden sich Intersexuelle durchschnittlich in medizinischer Be-

handlung?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4287

6. Erhalten nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung Intersexuelle beglei-
tend zu medizinischer Behandlung auch psychologische bzw. psychothera-
peutische Betreuung?

7. Ist der Bundesregierung bekannt, dass eine Vielzahl von Intersexuellen im
Erwachsenenalter die an ihnen vorgenommenen Eingriffe kritisiert?

Wenn ja, wie bewertet sie das?

Welche Konsequenzen zieht sie daraus?

8. Ist die Bundesregierung bereit, Mittel zur Entschädigung Intersexueller, die
Opfer der medizinischen Geschlechtszuweisung geworden sind, zur Verfü-
gung zu stellen?

Wenn nein, warum nicht?

B. Forschung zum Thema Intersexualität

1. Werden mit Bundesmitteln Forschungen zu Ursachen und zur Bekämpfung
von Intersexualität gefördert?

Wenn ja, an welche Institutionen und Einrichtungen wurden diese in welcher
Höhe vergeben?

2. Sieht die Bundesregierung neben der Studie „Behandlungserfahrungen und
Behandlungszufriedenheit von Personen mit verschiedenen Formen der
Intersexualität“, die derzeit am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
durchgeführt wird, weitergehenden Forschungsbedarf zur Evaluation der
sozialen, rechtlichen und wissenschaftlichen Situation intersexueller Men-
schen in Deutschland, angeleitet von dem Ziel, diese Situation zu verbessern?

3. In welcher Höhe fördert die Bundesregierung derzeit nicht-medizinische For-
schung zur Evaluation der sozialen und rechtlichen Situation intersexueller
Menschen in Deutschland?

C. Zur medizinischen Praxis

1. Sind der Bundesregierung die grundlegenden Erwägungen zur standardisier-
ten Einführung medizinischer Interventionen an intersexuell Geborenen in
den 50er und 60er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland bekannt?

Wenn ja, wie bewertet sie diese?

2. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass standardisiert durchgeführte
medizinische Eingriffe an nicht Einwilligungsfähigen zur Geschlechtsfest-
legung oder Geschlechtsveränderung der vorhergehenden theoretischen Fun-
dierung inklusive einer Untersuchung der Langzeitfolgen bedurft hätten?

Wenn nein, warum nicht?

3. Teilt die Bundesregierung die in der Medizin vorherrschende Auffassung,
dass die als intersexuell bezeichneten Menschen krank sind?

Wenn ja, wie begründet sie diese?

4. Teilt die Bundesregierung die in der Medizin vorherrschende Auffassung,
dass die Vereindeutigung des Geschlechts bei Säuglingen und Kleinkindern
notwendig ist?

Wenn ja, wie begründet sie diese Auffassung?

Wenn nein, hält sie ein generelles Verbot oder rechtliche Einschränkungen
von geschlechtszuweisenden Operationen an nicht Einwilligungsfähigen für
geboten?

Drucksache 16/4287 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
5. Welche Veränderungen der herrschenden Meinung in der medizinischen Wis-
senschaft bezüglich der Notwendigkeit und Praxis geschlechtszuweisender
Operationen in den letzten Jahren sind der Bundesregierung bekannt?

D. Unterstützung der Selbsthilfe- und Beratungsinfrastruktur

1. Welche Selbsthilfegruppen und Interessenvertretungen für Intersexuelle sind
der Bundesregierung bekannt?

2. Welche Unterstützung erfahren Intersexuelle und ihre Infrastruktur derzeit
aus Bundesmitteln?

3. Welche Maßnahmen hält die Bundesregierung für erforderlich, um den Auf-
bau einer bundesweiten Infrastruktur für erwachsene intersexuelle Menschen
zu unterstützen?

4. Was kann und will die Bundesregierung unternehmen, um die Einrichtung
außerklinischer Kontaktzentren mit einem psychologischen Beratungsange-
bot für Intersexuelle zu fördern, welche die von Fachleuten und Interessens-
verbänden für wesentlich erachtete Kontaktaufnahme von Eltern und inter-
sexuellen Kindern mit anderen Menschen in der gleichen Situation und die
psychologische Beratung aller Beteiligten ermöglichen würde?

5. Welche Schritte kann und will die Bundesregierung hin zu einer breiten, all-
gemein zugänglichen und akzeptanzfördernden Aufklärung über die Existenz
intersexueller Menschen unternehmen?

Berlin, den 31. Januar 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.