BT-Drucksache 16/4158

Sofortmaßnahmen beim BAföG - für mehr Zugangsgerechtigkeit und höhere Bildungsbeteiligung

Vom 31. Januar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4158
16. Wahlperiode 31. 01. 2007

Antrag
der Abgeordneten Kai Gehring, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Katrin Göring-Eckardt,
Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sofortmaßnahmen beim BAföG – Für mehr Zugangsgerechtigkeit und höhere
Bildungsbeteiligung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) ist eine tragende Säule der
individuellen Bildungsfinanzierung junger Erwachsener. In den letzten 35 Jah-
ren hat es die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem entscheidend verbes-
sert. Dabei war und ist das BAföG ein Mittel, um bildungsfernen Schichten den
Zugang zu Hochschulreife und Hochschulstudium zu ermöglichen. Ohne diese
Form der Bildungsfinanzierung wäre die soziale Selektion im Bildungssystem
und beim Hochschulzugang noch gravierender. Gerade für junge Menschen aus
einkommensschwachen Familien ist eine umfangreiche Lebensunterhaltsfinan-
zierung wie durch das BAföG unersetzlich.

Die rot-grüne Bundesregierung hat das BAföG grundlegend verbessert: durch
eine deutliche Anhebung der Freibeträge und Bedarfssätze, die Begrenzung der
Darlehenssumme auf höchstens 10 000 Euro, die vollständige Angleichung der
Förderleistungen in Ost und West, die Ausweitung der Auslandsförderung und
die weitgehende Berücksichtigung von Kindererziehung bei der Förderdauer.
Die Reformschritte haben den Kreis der BAföG-Berechtigten erweitert, den
Einkommensschwächsten einen besseren Zugang zu Studium und Ausbildung
eröffnet und die Voraussetzungen für eine deutlich erhöhte Bildungsbeteiligung
geschaffen. Die Zahl der Geförderten stieg zwischen 1998 und 2004 um über
50 Prozent. Gleichzeitig erhöhte sich die Studienanfängerquote in diesem Zeit-
raum um fast 10 Prozentpunkte auf 38 Prozent.

Gleichwohl ist die Struktur des BAföG nicht mehr zukunftsfähig und eine
grundlegende Reform perspektivisch erforderlich. Dabei muss jede und jeder,
der dazu befähigt ist, die Möglichkeit haben, ein Hochschulstudium zu absolvie-
ren. Die Ausbildungsförderung muss hierzu beitragen, soweit den Studierenden
andere Leistungen nicht zur Verfügung stehen. Sie muss junge Erwachsene in
ihrer Ausbildungsphase als eigenständige Individuen sehen und weitgehend un-

abhängig von der Finanzkraft ihrer Eltern behandeln. Unabhängig von der Not-
wendigkeit einer grundlegenden Strukturreform der Ausbildungsförderung sind
die im Folgenden formulierten Sofortmaßnahmen jetzt notwendig, um kurzfris-
tig zu mehr Zugangsgerechtigkeit und höherer Bildungsbeteiligung beizutragen.

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Eine Weiterentwicklung des BAföG ist dringend erforderlich, da die Fördersätze
seit 2002 nicht mehr an die allgemeine Kostenentwicklung angepasst worden
sind. Seitdem sind die finanziellen Belastungen und Lebenshaltungskosten von
Studierenden jedoch kontinuierlich gestiegen. Dies stellt auch der soeben von
der Bundesregierung verabschiedete 17. BAföG-Bericht fest. Bereits im Jahr
2003 musste mehr als die Hälfte der Studierenden neben dem Studium arbeiten,
um ebendies zu finanzieren. Durch die Einführung allgemeiner Studiengebüh-
ren in zahlreichen Bundesländern ist die Ausgabenbelastung für die Studieren-
den weiter gestiegen. Da es nicht Aufgabe des Bundes ist, die Studiengebühren
der Länder querzusubventionieren, müssten zumindest alle BAföG-Empfänge-
rinnen und -Empfänger von der Gebührenpflicht befreit werden oder die zu zah-
lenden Studiengebühren durch Stipendiensysteme der Länder aufgefangen wer-
den. Auch die von der Regierungskoalition beschlossene dreiprozentige Mehr-
wertsteuererhöhung erhöht die Lebenshaltungskosten der Studierenden. Auf der
Einnahmeseite reduziert der von 27 auf 25 Jahre verkürzte Kindergeldbezug die
Möglichkeit von Eltern, die Studienfinanzierung ihrer Kinder zu unterstützen.
Die Ablösung des Erziehungsgeldes durch das Elterngeld macht zudem eine
stärkere Berücksichtigung von Kindern bei der Förderung studierender Eltern
erforderlich. Hinzu kommt, dass eine weitere – für die Entwicklung zur moder-
nen Wissensökonomie dringend gebotene – Steigerung der Studierendenquote
ohne eine deutliche und kontinuierliche Erhöhung der Ausgaben von Bund und
Ländern für das BAföG nicht möglich sein wird.

Die genannten Entwicklungen machen eine Anpassung des BAföG unverzicht-
bar. Die von der Bundesregierung angekündigten BAföG-Änderungen für 2007
bleiben jedoch weit hinter den Erwartungen und Anforderungen zurück. Um
mehr Studienberechtigten – vor allem aus armen Familien – ein Studium zu er-
möglichen, muss die Anhebung der Bedarfssätze Bestandteil einer umfassenden
BAföG-Reform sein. Eine aufkommensneutrale Novelle wird daher den Her-
ausforderungen überhaupt nicht gerecht.

Das BAföG darf weder mittel- noch langfristig auf eine reine Kreditfinanzierung
umgestellt werden. Staatliche oder privatwirtschaftliche Studienkredite dürfen
die öffentlich finanzierten Ausbildungszuschüsse nicht ersetzen. Dies hätte
sonst immense Verschuldungsrisiken für Studierende zur Folge, wie bereits die
von der Bundesregierung eingeführten KfW-Studienkredite zeigen. Ein Stu-
dierender, der einen KfW-Studienkredit in der durchschnittlichen Höhe von
490 Euro über eine Regelstudienzeit von acht Semestern erhält, muss beim der-
zeitigen Zinssatz nach dem Studium einen Schuldenberg von über 50 000 Euro
abtragen. Bei einer Inanspruchnahme des Kredits über 14 Semester summiert
sich der Betrag auf über 90 000 Euro. Eine derartige Darlehensbelastung
schreckt Hochschulzugangsberechtigte vom Studium ab und lässt zudem grö-
ßere Ausfälle bei der BAföG-Rückzahlung befürchten. Gerade Studierende aus
bildungsfernen und einkommensschwachen Familien dürfte die Perspektive
einer relativ hohen Verschuldung in besonderer Weise von einem Studium ab-
halten.

Studierende mit Kindern brauchen besondere Unterstützung. Dazu sind fami-
lienfreundlichere Bedingungen an den Hochschulen und vor allem mehr und
bessere Kinderbetreuungsangebote notwendig. Ein erster Schritt dazu wäre die
Ausweitung des Rechtsanspruchs auf Tagesbetreuung auf Kinder ab einem
Jahr. Darüber hinaus sollten die Bemühungen an den Hochschulen intensiviert
werden, zusätzliche Unterstützungsangebote für die spezifischen Bedarfslagen
studierender Eltern einzurichten. Außerdem sollten in Ausbildung befindliche
oder studierende Eltern durch eine Kinderkomponente im BAföG direkt in der
Erziehungsphase unterstützt werden. Deren Höhe muss sich an der Zahl der
Kinder orientieren. Für alle BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger, die von

der neuen Kinderkomponente nicht mehr profitieren, muss der bislang gel-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4158

tende Darlehensteilerlass in der Rückzahlungsphase im Grundsatz erhalten
bleiben.

Falls die Bundesregierung ihre geplante Kürzung bei Schülerinnen und Schülern
an Abendschulen und Kollegs umsetzt, spart sie am falschen Ende. Die aller-
meisten jungen Erwachsenen an Abendschulen und Kollegs führen bereits ein
eigenständiges, elternunabhängiges Leben. Diese Lebensrealität wird konter-
kariert durch die Absicht der Bundesregierung, die elternunabhängige Förde-
rung für diesen Empfängerkreis stark einzuschränken. Es würde den Bildungs-
biographien der Schülerinnen und Schüler keinesfalls gerecht, eine drei- bis
fünfjährige Berufstätigkeit für eine elternunabhängige BAföG-Förderung vor-
auszusetzen. Überdies ist das finanzielle Einsparpotenzial einer elternabhängi-
gen Förderung äußerst gering. Eine Kürzung auf Kosten derjenigen, die beson-
ders lernwillig sind, entspricht nicht den Anforderungen an eine alternde Gesell-
schaft. Daher muss eine Gleichstellung in die andere Richtung erfolgen: Auch
wer ein Erststudium aufnimmt, sollte dann elternunabhängig gefördert werden,
wenn eine berufliche Ausbildung erfolgreich absolviert wurde. Dies erhöht die
Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit zwischen beruflicher und akademischer
Ausbildung.

In Deutschland aufgewachsene Studierende mit Migrationshintergrund (Bil-
dungsinländer), deren Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen sind, werden derzeit
vom Leistungsbezug nach BAföG bzw. dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB III) ausgeschlossen. Dies trägt dazu bei, dass der – im Vergleich zu Stu-
dierenden ohne Migrationshintergrund – geringere Anteil von so genannten Bil-
dungsinländern an den Hochschulen seit Jahren rückläufig ist. Eine weitere
Folge ist der hohe Anteil von Bildungsinländern, die aufgrund finanzieller Pro-
bleme ihr Studium unterbrechen oder abbrechen.

Über fünf Jahre nach Einführung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft müs-
sen die BAföG-Regelungen endlich an das Lebenspartnerschaftsgesetz ange-
passt werden. Die fehlende Anerkennung von Lebenspartnerschaften benachtei-
ligt insbesondere Lebenspartnerinnen und Lebenspartner, die aus Staaten außer-
halb der EU kommen. Anders als ausländischen Ehegatten ist ihnen der Zugang
zur Ausbildungsförderung versperrt.

Generell muss die Gestaltung des BAföG wie jede Form der Bildungsfinanzie-
rung verstärkt die unterschiedlichen Lebens- und Lernphasen sowie die Flexibi-
lisierung von Bildungsbiografien berücksichtigen. Eine so verstandene neue
Lebenslauf- und Zeitpolitik braucht adäquate, passgenaue und flexible Finanzie-
rungsinstrumente.

Eine Reform der Ausbildungsförderung muss Zugänge und Teilhabe sichern so-
wie alle bedürftigen Auszubildenden unterstützen. Sie muss zudem zu einer Er-
höhung der Bildungsbeteiligung beitragen und die Durchlässigkeit der Bil-
dungsgänge erhöhen. Die folgenden Sofortmaßnahmen sollen dazu beitragen,
das BAföG diesen Zielen anzunähern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich bei den Ländern dafür einzusetzen, dass Studierende, die BAföG erhalten,
von der Gebührenpflicht befreit werden oder die zu zahlenden Studiengebühren
durch Stipendiensysteme der Länder aufgefangen werden. Eine Berücksichti-
gung der Studiengebührenbelastung bei der Berechnung der BAföG-Bedarfs-
sätze würde zu einer Quersubventionierung der Studiengebühren durch den
Bund führen. Daher muss eine Vereinbarung von Bund und Ländern zudem den-
jenigen Studierenden Rechnung tragen, die bei einer Berücksichtigung der Ge-
bührenbelastung BAföG-förderberechtigt wären.

Drucksache 16/4158 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

das Bundesausbildungsförderungsgesetz zu reformieren und dabei

● die Bedarfssätze für Lebensunterhalt und Unterkunft schnellstmöglich ent-
sprechend den seit der letzten Erhöhung im Jahr 2002 gestiegenen Lebens-
haltungskosten zu erhöhen und künftig regelmäßig bedarfsgerecht anzupas-
sen;

● die Bedarfssätze für die Unterkunft von Schülerinnen, Schülern und Studie-
renden in Zukunft so auszugestalten, dass sie die tatsächlich anfallenden an-
gemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung abdecken. Dafür müssen die
Höchstgrenzen der Bedarfssätze für Unterkunft und Heizung in § 12 Abs. 3
und § 13 Abs. 3 BAföG aufgehoben werden. Die bisherigen pauschalierten
Höchstsätze für die Kosten der Unterbringung haben sich als nicht ausrei-
chend erwiesen;

● die Einkommens- und Vermögensfreibeträge für Empfängerinnen und Emp-
fänger der Ausbildungsförderung an die steigende Einkommensentwicklung
anzupassen, um den Kreis der BAföG-Berechtigten zu erweitern. Dabei muss
gewährleistet werden, dass die Studierenden nicht für den Zuverdienst be-
straft werden, der für sie aufgrund der in vielen Ländern eingeführten Stu-
diengebühren notwendig ist;

● die Elternfreibeträge zu erhöhen, um sie an die steigende Einkommensent-
wicklung anzupassen. Dies ermöglicht einem größeren Kreis von Studieren-
den den Zugang zur Ausbildungsförderung und wirkt dem Umstand entge-
gen, dass das Einkommen mancher Familien oberhalb der BAföG-Grenzen
liegt und dennoch nicht für eine auskömmliche Lebensunterhaltsfinanzierung
der studierenden Kinder ausreicht („Mittelschichtsloch“);

● die Förderung von Studierenden mit Kindern durch eine Kinderkomponente
im BAföG während des Studiums deutlich zu verbessern. Diese sollte als
Vollzuschuss gestaltet sein. Der bisherige Darlehensteilerlass von Hoch-
schulabsolventen mit Kind sollte dabei für eine Übergangsphase im Grund-
satz erhalten bleiben;

● das BAföG nicht nur am „Normalstudium“ auszurichten, sondern auch
flexible Lebens- und Studienentwürfe wie ein Teilzeitstudium besser anzuer-
kennen und zu fördern;

● die BAföG-Förderung beim Besuch von Abendschulen und Kollegs weiter-
hin für alle elternunabhängig zu gewähren. Darüber hinaus muss die Förde-
rung auch immer dann unabhängig vom Elterneinkommen erfolgen, wenn
nach einer betrieblichen Ausbildung ein Hochschulstudium begonnen wird;

● künftig auch vollständige Auslandsstudiengänge ohne vorherige Orientie-
rungsphase im Inland zu fördern;

● zu gewährleisten, dass ein Wechsel von Studiengängen mit Diplom-, Magis-
ter- oder Staatsexamensabschluss zu einem gestuften Bachelor- oder Master-
studiengang nach dem zweiten Fachsemester nicht zu einem Verlust der
BAföG-Förderung führt, wenn er – z. B. aufgrund einer Umstrukturierung
der Studiengänge an der Hochschule – verpflichtend vorgenommen wird;

● Vorschriften, die Migrantinnen und Migranten trotz einer dauerhaften Auf-
enthaltsperspektive in Deutschland vom Leistungsbezug nach BAföG bzw.
dem SGB III ausschließen, abzuschaffen. Stattdessen sind die Förderungs-
instrumente so fortzuentwickeln, dass Studierende mit Migrationshinter-
grund künftig eine begabungsgerechte Förderung erhalten, die eine mög-
licherweise wirtschaftlich prekäre Lage ihrer Herkunftsfamilie besser be-

rücksichtigt, damit sie zum Vorteil aller ihre Begabungsreserven entwickeln
können;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/4158

● in diesem Zusammenhang sicherzustellen, dass im Bereich des SGB II die
Ausbildung und Qualifizierung junger Menschen Vorrang vor der Vermitt-
lung in Beschäftigung hat und dass die Pflicht zur unverzüglichen Aufnahme
einer Arbeit oder Arbeitsgelegenheit aus § 3 Abs. 2 Satz 1 SGB II nicht dazu
führt, dass von der Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums und der
zugehörigen Förderung durch das BAföG abgeraten wird;

● Lebenspartnerinnen und Lebenspartner nach dem Lebenspartnerschafts-
gesetz mit Ehegatten gleichzustellen.

Berlin, den 31. Januar 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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