BT-Drucksache 16/4152

Weibliche Genitalverstümmelung verhindern - Menschenrechte durchsetzen

Vom 31. Januar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4152
16. Wahlperiode 31. 01. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Monika Knoche, Sevim Dag˘delen,
Petra Pau, Karin Binder, Diana Golze, Heike Hänsel, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin,
Katja Kipping, Jan Korte, Michael Leutert, Kersten Naumann, Elke Reinke, Frank
Spieth, Alexander Ulrich, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Weibliche Genitalverstümmelung verhindern – Menschenrechte durchsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, Abk. FGM)
beschreibt nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) alle
Verfahren, die die teilweise oder vollständige Entfernung der weiblichen äuße-
ren Genitalien oder deren Verletzung zum Ziel haben, sei es aus kulturellen
oder anderen nichttherapeutischen Gründen. FGM betrifft weltweit zwischen
130 und 150 Millionen Frauen und Mädchen mit steigender Tendenz. Jedes
Jahr werden weitere 3 Millionen Frauen und Mädchen Opfer dieser barbari-
schen Form der sexuellen Gewalt. In der BRD leben nach Schätzungen circa
30 000 potentiell gefährdete und bereits verletzte Personen. Die Genitalver-
stümmelung wird bei Mädchen und Frauen mit Wohnsitz in Deutschland nicht
nur im Ausland, sondern auch im Inland begangen. In welchem Umfang hierbei
Ärzte bzw. Ärztinnen beteiligt sind, ist nicht bekannt.

Die Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. Sie
führt in zahlreichen Fällen zum Tod und bei den meisten Opfern zu lebens-
langen Folgeschäden. Neben den Torturen, die die Durchführung des genital-
verstümmelnden Eingriffs selbst für die Betroffenen bringt, sind chronische
körperliche und psychische Probleme der Frauen und Mädchen Folgen dieser
besonderen Art der sexuellen Gewalt. So treten unter anderem Komplikationen
beim Urinieren, bei Sexualität und Menstruation, in der Schwangerschaft und
bei der Geburt auf. Zudem sind Schmerzen nicht nur beim Geschlechtsverkehr,
sondern auch im sonstigen Alltag die Folge. Traumata und psychische Symp-
tome wie Gefühle von Unvollständigkeit, Minderwertigkeit, Angst und Depres-
sionen begleiten viele Frauen ein Leben lang. Auch die Gefahren bei Geburten
und die Kindersterblichkeit steigen infolge der Verstümmelungen deutlich an.
Eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands ist in allen Fällen unmög-
lich. Damit werden Frauen dauerhaft der sexuellen Selbstbestimmung und

eines Teils ihrer Persönlichkeit beraubt, das Recht auf körperliche Unversehrt-
heit wird in schwerster Form verletzt.

Die Gewalt geht bei der FGM vom sozialen Umfeld aus und wird von ihm
sanktioniert. Für betroffene Frauen ist es daher nahezu unmöglich, über ihre
schmerzlichen Erfahrungen mit der Genitalverstümmelung zu reden oder sich
gar in einer ihre Menschenrechte unterdrückenden Gesellschaft gegen diese
Praktiken zu wehren. Für Migrantinnen, die in Deutschland leben, kommen zu

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diesen durch die Genitalverstümmelung bedingten Problemen vielfältigste All-
tagsprobleme hinzu. Die Frauen müssen sich um die soziale Absicherung und
um ihren Aufenthaltstitel kümmern und sehen sich einer zum Teil rassistischen
und fremdenfeindlichen Bürokratie und Gesellschaft gegenüber. In dieser Situ-
ation reden die wenigsten Migrantinnen über ihre eigene Betroffenheit. Auch
wenn die Angst vor der Verstümmelung oder deren Folgen Fluchtgründe
waren, sind die Hemmungen, darüber mit Behörden oder Anwältinnen bzw.
Anwälten zu sprechen, denkbar groß und schwer zu überwinden.

Die Geschichte der Genitalverstümmelung ist – wie die der Unterdrückung von
Frauen – Jahrtausende alt. Sie war und ist bei Angehörigen verschiedenster
Religionen verbreitet. Die Genitalverstümmelung wurde auch in Europa und
Amerika bis wenigstens zum 19. Jahrhundert u. a. zur Verhinderung von
Masturbation vorgenommen. Sie wird derzeit noch in einigen Ländern durch-
geführt, verbreitet insbesondere in Afrika und Asien, aber auch in Europa,
Kanada und den USA (vgl. Bundestagsdrucksache 13/8281 und Bundestags-
drucksache 16/1391).

Nach den Feststellungen des Abschlussberichts der Sonderberichterstatterin der
Vereinten Nationen, Halima Embarek Warzazi, besteht ein direkter Zusammen-
hang zwischen FGM und dem Grad an Unwissenheit, Armut und niedrigem
sozialen Status von Frauen (vgl. VN-Dokument E/CN.4/Sub.2/1996/6 vom
14. Juni 1996). Ebenso wie andere Formen der Gewalt an Frauen dient die
Genitalverstümmelung der Unterdrückung von Frauen, der Kontrolle ihrer
Sexualität und der Verhinderung einer freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit als
gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder. Die Geschichte zeigt, dass eine
Stärkung der Rechte der Frau vor allem mit der Stärkung ihrer sozialen Stel-
lung innerhalb der Gesellschaft zusammenhängt. Sexuelle Gewalt und Diskri-
minierung gegenüber Frauen wurde in Europa zunächst und vor allem von der
Frauenbewegung thematisiert und bekämpft. Dies ging historisch einher mit
der allgemeinen zivilisatorischen Entwicklung und mit dem Zugang von
Frauen und einer insgesamt breiteren Schicht der Bevölkerung zu Bildung. Die
Verbesserung der sozialen Lage von Frauen, der Zugang zu Bildung und die
ökonomische Unabhängigkeit sind elementare Schritte auf dem Weg zur effek-
tiven Verhinderung der Genitalverstümmelung und anderer Formen sexueller
Gewalt als Mittel patriarchaler Herrschaft.

Die WHO verurteilte bereits 1982 die Beteiligung medizinischen Personals an
der Genitalverstümmelung. 1996 schloss sich der Deutsche Ärztetag dieser
Stellungnahme an. Die Bundesärztekammer hat mittlerweile die Empfehlungen
vom 25. November 2005 zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher
Genitalverstümmelung (female genital mutilation) bekannt gegeben, um Ärz-
tinnen und Ärzte durch entsprechende Information zu sensibler und kompeten-
ter medizinischer und darüber hinausgehender Hilfe zu befähigen.

Auch internationale Islamgelehrte verabschiedeten im November 2006 in Kairo
einen Beschluss in Form einer Fatwa, wonach weibliche Genitalverstümme-
lung ein strafbares Verbrechen sei und gegen die höchsten Werte des Islam ver-
stoße.

Der Deutsche Bundestag verurteilt jede Form der Gewalt an Frauen. In seiner
Entschließung auf Bundestagsdrucksache 13/10682 stellte er fest, dass es sich
bei der Genitalverstümmelung um eine gefährliche bzw. schwere Körperverlet-
zung gemäß den §§ 224, 226 des Strafgesetzbuches (StGB) handelt. Strafbar
kann die Genitalverstümmelung auch nach § 225 StGB als Misshandlung von
Schutzbefohlenen sein. In vielen europäischen und anderen Ländern ist FGM
ebenfalls strafbar. Die Ärztinnen und Ärzte, aber auch andere Täter machen
sich – selbst bei erteilter Einwilligung des Opfers oder von Angehörigen – straf-

bar, wenn sie sich an einer FGM beteiligen oder diese durchführen. Ärztinnen
und Ärzten kann in entsprechenden Fällen die Approbation entzogen werden.

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Der Deutsche Bundestag stellt fest, dass die bisherigen Anstrengungen zur Ver-
hinderung der Genitalverstümmelung nicht ausreichen und weitergehender
Handlungsbedarf besteht.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit:

a) sich gegen jedwede Gewalt an Frauen und Kindern zu engagieren; sich
insbesondere im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit für die effek-
tive Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen und konsequent auf
Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsbezogener und sexueller Ge-
walt an Frauen und Mädchen hinzuwirken,

b) vorhandene Armut in Ländern, in denen FGM verbreitet ist, durch ent-
sprechende Projekte und Hilfsangebote zu bekämpfen und durch einen
besseren Sozialstandard die Lebenssituation der von Genitalverstümme-
lung betroffenen und bedrohten Kinder und Frauen zu verbessern,

c) die Erarbeitung von Bildungsförderprogrammen durch Länder, die ein
entsprechendes Defizit an allgemein zugänglicher Bildung insbesondere
für weibliche Personen aufweisen, zu unterstützen und sich für deren
politische und finanzielle Unterstützung auf europäischer und internatio-
naler Ebene einzusetzen,

d) die Kooperation mit entsprechenden Organisationen zu suchen, die sich
in afrikanischen und asiatischen Ländern engagieren, und hierbei solche
Projekte zu bevorzugen, die eine Beteiligung der betroffenen Frauen för-
dern,

e) in den Ländern, in denen FGM verbreitet ist, Aufklärungskampagnen
über Gewalt an Mädchen und Frauen insbesondere in Form der Genital-
verstümmelung zu initiieren und zu unterstützen;

2. auf europäischer Ebene
a) sich auf allen Ebenen für die Durchsetzung und Weiterentwicklung von

Konzepten zur Verhinderung der Gewalt an Mädchen und Frauen in jeder
Form einzusetzen und entsprechende Aktivitäten zu ergreifen, die gezielt
die Stärkung der Rechte von Frauen und die Verhinderung der Verletzung
dieser Rechte fördern,

b) sich für eine europaweite Harmonisierung im Hinblick darauf einzu-
setzen, dass Länder, in denen FGM verbreitet ist, nicht als sogenannte
sichere Herkunftsländer eingestuft werden;

3. auf Bundesebene
a) die finanzielle Unabhängigkeit aller sich in Deutschland aufhaltenden

betroffenen Frauen und Mädchen zu sichern,
b) Initiativen von Menschen gleich welcher Staatsangehörigkeit zu unter-

stützen, die auf die Verhinderung der Genitalverstümmelung und anderer
Gewalt an Kindern und Frauen abzielen,

c) eine zentrale Stelle zur Koordination und Vernetzung der Initiativen ge-
gen Genitalverstümmelung zu schaffen und diese sachlich und personell
ausreichend auszustatten,

d) deutschlandweite Aufklärungskampagnen über Gewalt an Kindern und
Frauen – insbesondere in Form der Genitalverstümmelung – zu organi-
sieren, in denen über die medizinischen (physischen und psychischen)
Folgen, die Strafbarkeit derartiger Handlungen und über die Hilfsange-
bote staatlicher und nichtstaatlicher Stellen und die asylrechtlichen Be-
dingungen informiert wird, dabei sind Multiplikator/innen besonders zu
adressieren,
e) Länder, in denen FGM relevant verbreitet ist, nicht als so genannte
sichere Herkunftsländer einzustufen,

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f) eine unabhängige Beratung, z. B. durch kompetente Beratungsstellen
oder Rechtsanwältinnen bzw. Rechtsanwälte, vor der Erstanhörung im
Rahmen des Asylverfahrens sicherzustellen,

g) insbesondere bei Asylantragstellerinnen aus Ländern, bei denen bekannt
ist, dass in ihnen FGM verbreitet ist, für besonders sensible Anhörungen
durch entsprechend qualifizierte weibliche Mitarbeiterinnen des Asyl-
Bundesamtes (inklusive weiblicher Sprachmittlerinnen) zu sorgen,

h) im Falle des im Verlaufe des Asylverfahrens erfolgenden späteren Vor-
bringens des Fluchtgrundes Genitalverstümmelung dafür Sorge zu tra-
gen, dass dies nicht als „gesteigertes Vorbringen“ und verspätetes Vor-
bringen bewertet wird und hierzu eine Gesetzesinitiative vorzulegen,

i) einen Gesetzentwurf vorzulegen, der einen grundsätzlichen Anspruch auf
eine kostenfreie Inanspruchnahme einer Dolmetscherin bei Arztbesuchen
von Migrantinnen bzw. Migranten vorsieht,

j) die Abschiebung von FGM- Betroffenen und FGM- Bedrohten in jedem
Fall abzuwenden,

k) für eine möglichst umfassende und wirksame Anwendung des § 60
Abs. 1 Satz 3 des Aufenthaltgesetzes (AufenthG) insbesondere in der
Praxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu sorgen, etwa
durch entsprechende Verwaltungshinweise, die maßgeblich auf den
Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz (hier in Bezug auf
geschlechtsspezifische Verfolgung) basieren;

4. in Zusammenarbeit mit den Bundesländern

a) sich in geeigneter Weise gegenüber den Bundesländern für die Schulung
und Information aller professionell Betroffenen, insbesondere bei der
Polizei, der Staatsanwaltschaft, den Gesundheits- und Ausländerbehörden,
Gerichten, Rechtsanwälten bzw. Rechtsanwältinnen, Schulen und Kinder-
gärten, einzusetzen,

b) die eben genannten in die Lage zu versetzen, jederzeit Aufklärung und
Hilfe im Einzelfall zu leisten,

c) mehrsprachige Informationen für Asylsuchende und Migrantinnen, insbe-
sondere bei Polizei und Ausländerbehörden und bei geeigneten Multipli-
katoren bzw. Multiplikatorinnen, hinsichtlich des besonderen Asylgrunds
der geschlechtspezifischen Verfolgung zur Verfügung zu stellen, und diese
Informationen auch nichtstaatlichen Stellen wie z. B. Ärztekammern und
Beratungsstellen für Migrantinnen anzubieten,

d) Migrantinnenorganisationen und besonders geschulte Beratungs- und
Hilfseinrichtungen (wie z. B. Frauenhäuser) für betroffene und bedrohte
Mädchen und Frauen in jeglicher Hinsicht zu unterstützen,

e) die medizinische und psychologische Betreuung von Asylbewerberinnen
allgemein zu verbessern;

5. in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer, den Berufsverbänden und
medizinischen Fachgesellschaften auf eine umfangreiche Information der
Ärztinnen und Ärzte zum Thema Genitalverstümmelung hinzuwirken und
dabei über die strafrechtliche Lage aufzuklären, insbesondere durch Aus-
und Weiterbildung.

Berlin, den 30. Januar 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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