BT-Drucksache 16/4147

Rechtliche Situation Intersexueller in Deutschland

Vom 30. Januar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4147
16. Wahlperiode 30. 01. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Karin Binder, Katja Kipping, Kersten
Naumann, Petra Pau, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Rechtliche Situation Intersexueller in Deutschland

Es gilt als natürliche und unumstößliche Wahrheit, dass Menschen entweder
männlich oder weiblich sind. Welcher dieser beiden Kategorien sie zugeordnet
werden, ließe sich an ihren Körpern festmachen. Jedoch hat es schon immer
Menschen gegeben, deren Körper sich nicht ohne weiteres in dieses binäre
Schema einordnen lassen. Sie werden Hermaphroditen, Zwitter, Intersexuelle
oder neuerdings nach dem so genannten Chicago Consensus DSD-Patienten
(DSD = Disorders of Sexual Development, vgl. z. B. http://dsd2006.abstract-
management.de/overview/?ID=1777) genannt. Mit dem Begriff „Intersexuali-
tät“ hat sich die medizinische Sicht auf dieses historisch schon seit langem be-
kannte Phänomen durchgesetzt. Intersexualität fasst eine Vielzahl von verschie-
denen Diagnosen zusammen und meint im weitesten Sinne das Vorhandensein
von körperlichen Merkmalen beider Geschlechter bei einer Person. Dem medi-
zinischen Diskurs entsprechend wird die geschlechtliche Uneindeutigkeit in ih-
ren zahlreichen Varianten als Krankheit verstanden, die therapiert werden kann
– und muss. Die Eindeutigkeit der Bipolarität der Geschlechter wird bei dieser
Herangehensweise immer schon vorausgesetzt – obwohl es weder anatomisch,
gonadal, hormonell noch chromosomal möglich ist, die Menschheit in zwei tat-
sächlich klar voneinander abzugrenzende Kategorien einzuteilen (vgl. z. B.
Anne Fausto-Sterling „Sexing the Body“, 2000; Suzanne Kessler, „Lessons
from the Intersexed“, 1998). Wird nach der Geburt bei einem Kind eine der zur
Intersexualität zählenden Diagnosen gestellt, beginnt ein leidvoller Weg. Zu-
nächst wird eine geschlechtliche Zuordnung vorgenommen. Gängige Praxis ist
dabei, sich in ca. 90 Prozent der Fälle für das weibliche Geschlecht zu entschei-
den, da dieses bislang chirurgisch „leichter“ herzustellen ist (vgl. Cheryl Chase,
Hermaphrodites with Attitude: Emergence of Intersex Poitical Activism; in:
GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies. The Transgender Issue 4, No. 2,
S. 189–212, 1998). Die operative Herstellung eindeutiger Genitalien ist von
langjährigen Folgeuntersuchungen und Hormoneinnahmen begleitet und geht
oft mit erheblichen sensorischen Einbußen einher. Es wird also in Kauf genom-
men, dass viele Patientinnen/Patienten ihre sexuelle Empfindsamkeit einbüßen.
Die Operation wird den Eltern mit der Begründung nahegelegt, sie entspreche
dem Interesse der zwischengeschlechtlichen Kinder, so könnten diese ihre psy-

chisch-sexuelle Identität möglichst ungestört entwickeln (vgl. Oliver Tolmein
FamRZ 2002, 957 ff.). Studien, die diese Annahme belegen, sind allerdings
nicht bekannt. Den Eltern wird normalerweise dazu geraten, gegenüber dem
Kind Stillschweigen über den wahren Charakter der operativen und sonstigen
medizinischen Eingriffe zu bewahren. Ab der Pubertät und im Erwachsenenal-
ter auftretende körperliche oder sexuelle Probleme können so von den Betroffe-
nen oft nur mit Mühe auf ihre eigentliche Ursache zurückgeführt werden. Die

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medizinischen Unterlagen sind meist sehr schwer zugänglich. Da bislang keine
Langzeitstudien über die Behandlungserfolge vorliegen und vor allem auch
nicht wissenschaftlich untersucht wurde oder wird, wie nicht operierte, nicht
zugewiesene Intersexuelle mit ihrem Leben zurechtkommen, basiert die Kate-
gorisierung von Intersexualität als Krankheit zum großen Teil auf einer wissen-
schaftlich nicht fundierten, stillschweigenden Voraussetzung der Notwendig-
keit der Zweigeschlechtlichkeit. Eine qualitative Studie von Preves (Sharon E.
Preves, Intersex and Identity: The Contested Self, 2003) deutet jedenfalls dar-
auf hin, dass Nichtoperierte weniger psychische Probleme haben als Operierte.

Die Existenz von Intersexuellen ist im rechtlichen Rahmen der Bundesrepublik
Deutschland aber nicht vorgesehen. Nicht nur das Personenstandsgesetz sichert
die geschlechtliche Einteilung der Bevölkerung in männlich und weiblich ab,
Geschlecht ist ebenfalls ein Identifikationsmerkmal der Person, das in vielen
Dokumenten und Papieren auftaucht. Das Amtsgericht München und das Land-
gericht München I lehnten es dementsprechend ab, das eingetragene Ge-
schlecht eines Intersexuellen im Personenstandsregister in „Zwitter“ zu ändern.
Die medizinische Wissenschaft ginge von einer Zweigeschlechtlichkeit des
Menschen aus. Ein Anspruch auf die rechtliche Anerkennung des Geschlechts
„Zwitter“ aufgrund des Selbstbestimmungsrechts gemäß Artikel 2 Abs. 1
i. V. m. Artikel 1 Abs. 1 GG bestünde nicht, da zwei wesentliche Institute des
Rechts (Ehe und Wehrpflicht) die Zuordnung der Menschen zu zwei Ge-
schlechtern erforderten. Selbst das Grundgesetz gehe in Artikel 3 Abs. 2 Satz 1
von einer Unterscheidung der Menschen in männlich und weiblich aus (AG
München, NJW-RR 2001, S. 1586; LG München I, NJW-RR 2003, S. 1590).
An dieser Rechtsprechung wird kritisiert, dass laut Bundesverfassungsgericht
die psychische Geschlechtsidentität von Transsexuellen vom Recht auf freie
Entfaltung der Persönlichkeit aus Artikel 2 Abs. 1 i. V. m. Artikel 1 Abs. 1 GG
geschützt ist (BVerfGE 49, 286). Die psychische Geschlechtsidentität Inter-
sexueller sei ebenfalls gemäß Artikel 2 Abs. 2 i. V. m. Artikel 1 Abs. 1 GG ge-
schützt – das Recht müsse also die psychische Geschlechtsidentität anerkennen,
nicht die durch Medizin und Recht konstruierte Zuordnung (Oliver Tolmein,
FamRZ 2002, 957 ff.).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Gibt es nach Auffassung der Bundesregierung eine zwingende Notwendig-
keit zur bipolaren Geschlechterdefinition im Recht?

Wenn ja, worin besteht diese?

Wenn nein, welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung unter beste-
henden rechtlichen Bedingungen, die Kategorie „Geschlecht“ künftig aus
allen offiziellen Dokumenten zu streichen oder die Eintragung des Ge-
schlechts „Zwitter“ oder einer vergleichbaren Bezeichnung zuzulassen?

2. Wie steht die Bundesregierung zu der Argumentation, die grundgesetzlich
geschützte freie Entfaltung der Persönlichkeit schütze auch die psychische
Geschlechtsidentität Intersexueller und der Schlussfolgerung, dass eine Auf-
rechterhaltung der Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht
mit Mitteln des Rechts (etwa durch entsprechenden Eintrag im Personen-
standsregister) verfassungswidrig wäre?

3. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass medizinische Interventionen
zum Zwecke einer geschlechtlichen Polarisierung an nicht Einwilligungs-
fähigen den verfassungsrechtlich zugesicherten Grundrechten auf Selbstbe-
stimmung und körperliche Unversehrtheit zuwiderlaufen?

Wenn ja, sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf?

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4. Ist der Bundesregierung bekannt, ob es in Deutschland seit der Durchfüh-
rung geschlechtszuweisender Maßnahmen an nicht Zustimmungsfähigen
Schadensersatzforderungen gegenüber den beteiligten Medizinerinnen
bzw. Medizinern aufgrund geschlechtlicher Fehlzuweisungen gegeben hat?

Wenn ja, wie wurde in den entsprechenden Fällen entschieden?

5. Wie lässt sich die gängige medizinische Praxis der Geschlechtszuweisung
bei intersexuellen Kindern nach Ansicht der Bundesregierung mit § 1631c
BGB vereinbaren, der die Sterilisation von Minderjährigen verbietet?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung aus rechtlicher Sicht die Gültigkeit
eines zwischen Arzt bzw. Ärztin und Eltern geschlossenen Behandlungs-
vertrags zum Zwecke medizinischer Eingriffe an nicht Einwilligungsfähi-
gen zur Geschlechtsfestlegung oder Geschlechtsveränderung?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Diskrepanz im Bürgerlichen Ge-
setzbuch, das bei Interessenkonflikten zwischen Sorgeberechtigten und
Kindern im Bereich der Vermögenssorge Rechtsgeschäfte einer Genehmi-
gungspflicht unterwirft (§ 1643 BGB), nicht aber bei irreversiblen medizi-
nischen Eingriffen, die nach Äußerungen zahlreicher Ärzte zumindest auch
erforderlich seien, um das Leiden der Eltern, ein unnormales Kind bekom-
men zu haben, zu lindern?

8. In welchem Verhältnis stehen nach Ansicht der Bundesregierung im Falle
der elterlichen Entscheidung für eine genitalverändernde Operation ihres
Kindes der § 1552 BGB zur Regelung des elterlichen Sorgerechts und die
Grundrechte des Kindes (Menschenwürde, Handlungsfreiheit, Freiheit der
Person)?

9. Hält die Bundesregierung es für erforderlich, die elterliche Verfügungs-
gewalt gegenüber Kindern dergestalt einzuschränken, dass Eingriffe an
Minderjährigen mit dem Ziel der Vereindeutigung des Körpergeschlechts
innerhalb des binären Rahmens Mann bzw. Frau ausgeschlossen werden
(bitte begründen)?

10. Sind nach Auffassung der Bundesregierung die medizinischen Eingriffe
zum Zwecke einer geschlechtlichen Polarisierung an nicht Einwilligungs-
fähigen vereinbar mit den Bestimmungen der Europäischen Menschen-
rechtskonvention?

Wenn nein, sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf?

Berlin, den 29. Januar 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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