BT-Drucksache 16/393

Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr herstellen - Wehrpflicht aussetzen

Vom 18. Januar 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/393
16. Wahlperiode 18. 01. 2006

Antrag
der Abgeordneten Birgit Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner
Hoyer, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Daniel Bahr
(Münster), Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick
Döring, Mechthild Dyckmans, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth),
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Joachim
Günther (Plauen), Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb,
Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald
Leibrecht, Ina Lenke, Markus Löning, Patrick Meinhardt, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina
Schuster, Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr herstellen – Wehrpflicht aussetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die deutsche Sicherheitspolitik ist den gemeinsamen Werten der europäisch-
atlantischen Staatengemeinschaft verpflichtet. Weltweit sind Menschenrechte,
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft zu stärken und Folter,
Gewalt, Vertreibung und Unterdrückung zu bekämpfen. Menschenrechte und
Völkerrecht, Frieden und Freiheit sowie die Lebensgrundlagen Europas sind
die höchsten zu schützenden Güter. Freiheitsrechte und Menschenwürde sind
die Grundlage einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung für das geeinte
Europa.

Die sicherheitspolitische Lage hat sich zum Ende des letzten Jahrhunderts
grundlegend geändert und zu einer massiven militärischen Kräfteverschiebung
geführt. Massenarmeen entsprechen nicht mehr den heutigen sicherheitspoliti-
schen Erfordernissen. Militärische Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen
(UN), der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE),
des Nordatlantischen Bündnisses (NATO) und der Europäischen Union (EU)
zur Bekämpfung humanitärer Katastrophen, grober Missachtungen der Men-
schenrechte, organisierter Kriminalität und des internationalen Terrorismus ver-

deutlichen in aller Schärfe, dass es neue Anforderungen an Streitkräfte gibt.

Frieden und Freiheit gehören unteilbar zusammen. Sie sind im Interesse der
Menschen im Rahmen der Völkergemeinschaft herbeizuführen und zu sichern,
notfalls auch mit militärischen Mitteln, allerdings nur als ultima ratio. Dieser
Maxime der NATO verdanken wir Deutschen unsere Einheit in Freiheit. Des-
halb haben wir unsere neue Rolle, die des vereinten Deutschland, verantwor-

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tungsvoll anzunehmen und die Bündnisfähigkeit der Bundeswehr konsequent
und nachhaltig zu verbessern.

Die Bundeswehr ist ein wesentliches Instrument deutscher Friedenspolitik! In
dieser Aufgabe hat sie sich, trotz unübersehbarer struktureller Mängel, durch
das beispielhafte Engagement ihrer Soldatinnen und Soldaten und deren über-
durchschnittlichen Einsatz- und Leistungswillen vielfach bewährt.

Die Bundeswehrstruktur der Zukunft muss jedoch ohne Abstriche den Anfor-
derungen entsprechen, die von NATO und EU an die deutschen Streitkräfte
gestellt werden. Die Bundeswehr hat uneingeschränkt bündnisfähig zu sein.

Die NATO ist seit mehr als einem Jahrzehnt jedem denkbaren Gegner im kon-
ventionellen Bereich vielfach überlegen, ohne auch nur einen Reservisten einbe-
rufen zu müssen. Mit der letzten Erweiterungsrunde hat sich die konventionelle
Überlegenheit weiter erhöht. Die große Mehrheit der NATO-Mitgliedstaaten
hat deshalb die Friedens- sowie die Verteidigungsstärke ihrer Streitkräfte deut-
lich reduziert und die Wehrpflicht bereits ausgesetzt oder plant, dieses in Kürze
zu tun. Eine Entscheidung, die auch schnellstens für die Bundeswehr getroffen
werden muss.

Es ist zweifelsfrei richtig, dass die allgemeine Wehrpflicht der Ausdruck des
Verteidigungswillens aller ist und dass persönliche Freiheit, Recht und Men-
schenwürde alle angehen. Ebenso ist es unstrittig, dass die Wehrpflichtarmee
eine transparente Armee ist, weil sie über die ständig wechselnden Jahrgänge in
einem permanenten Austausch mit der Gesellschaft steht. Zweifellos ist es auch
richtig, dass sie Bevölkerung und Streitkräfte dadurch automatisch verbindet
und durch die Betroffenheit von mehr Personen ein größeres Interesse für Fra-
gen der Sicherheit in Politik und Gesellschaft schafft. Politik und Öffentlichkeit
werden permanent an ihre Verantwortung für die Armee erinnert. Letztlich hat
die Wehrpflicht auch die Führungskultur der Streitkräfte wesentlich mit ge-
prägt, denn durch sie kam es zur konsequenten Anwendung der damals heftig
umstrittenen Prinzipien der Inneren Führung, die das Bild des Staatsbürgers in
Uniform heute wesentlich bestimmen, das fast ausschließlich von den rund
220 000 länger dienenden Soldatinnen und Soldaten gelebt wird.

Die Wehrpflicht stellt einen so tiefen Eingriff in die individuelle Freiheit der
jungen Bürger dar, dass sie von einem demokratischen Rechtsstaat nur dann ab-
gefordert werden kann und darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates
wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern
abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung
oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Wehrdienstes müssen sicherheits-
politisch begründet werden. Die äußere Sicherheit Deutschlands und der Bünd-
nisstaaten ist aber nicht durch konventionelle Angriffe bedroht, auch nicht nach
den Attentaten vom 11. September 2001. Die frühere Landesverteidigung ist
heute ausschließlich als Bündnisverteidigung zu begreifen.

Die NATO fordert auch deshalb von Deutschland keine Wehrpflichtarmee, son-
dern Streitkräfte, die gut ausgebildet, modern ausgerüstet, voll einsatzbereit
und schnell verlegbar sind. Dafür benötigt die Bundeswehr keine Grundwehr-
dienstleistenden. Deren Pflichteinsatz in diesem Auftragsspektrum ist nicht nur
vom Deutschen Bundestag untersagt worden; aufgrund der kurzen Grundwehr-
dienstdauer von nur neun Monaten wäre er auch unverantwortlich. Je schneller
die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt wird, desto besser wäre die Bundeswehr
in der Lage, die neu gestellten Aufgaben zu bewältigen. Ihre Einsatzfähigkeit
würde steigen, die Belastung der einzelnen Soldaten hingegen sinken. Bei einer
intelligent angelegten Streitkräftestruktur wird zudem keiner der Vorteile einer
Wehrpflichtarmee aufgegeben werden.
Die aktuelle Reform der deutschen Streitkräfte von 2004 ist ein deutlicher Fort-
schritt gegenüber den Vorstellungen von 2000. Sie entspricht dennoch nicht den

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sicherheitspolitischen Erfordernissen. Die Effizienz der Bundeswehr ist zu stei-
gern, ihre Ausrüstung und Bewaffnung ist zu modernisieren. Dabei muss die
Fürsorge für das Personal eine herausragende Bedeutung erhalten. Deshalb ist
eine weitere reale Reduzierung des Verteidigungshaushalts zu vermeiden.
Deutschland darf im europäischen Vergleich nicht auch bei den investiven Aus-
gaben zu den Schlusslichtern gehören.

Deutschland benötigt hoch motivierte, sehr gut ausgebildete und mit moderns-
ter Bewaffnung ausgerüstete Streitkräfte. Sie müssen als Instrument wirkungs-
voller Friedenspolitik professionell und flexibel sein, schnell einsetzbar, sowohl
im Rahmen der Bündnisverteidigung als auch bei Missionen der Krisenbewälti-
gung, der Terrorbekämpfung, der Friedenssicherung, der humanitären und der
Katastrophenhilfe. Hierzu reicht eine erneute Fortschreibung überkommener
Strukturen nicht aus.

Die geplante Personalstärke ist mit 250 000 Soldatinnen und Soldaten noch im-
mer zu hoch, die Einsatzbereitschaft hingegen dadurch zu niedrig. Verantwort-
lich hierfür ist vor allem das Festhalten an der allgemeinen Wehrpflicht, die
sicherheitspolitisch seit Jahren nicht mehr begründbar und in ihrer Durchfüh-
rung zutiefst ungerecht ist. Derzeit müssen von durchschnittlich 420 000 jähr-
lich zur Verfügung stehenden Männern lediglich 70 000 der Wehrpflicht nach-
kommen (weniger als 17 Prozent). Insgesamt leisten jährlich nur rund 175 000
Männer einen Pflichtdienst (Wehrdienst, Zivildienst oder andere Ersatzdienste),
während 245 000 (fast 60 Prozent) ihre zivile Lebensplanung nicht für neun
Monate unterbrechen müssen. Deshalb sind der Vollzug der allgemeinen Wehr-
pflicht so schnell wie möglich auszusetzen und der Planungsprozess des Um-
baus der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee unverzüglich zu beginnen.

Aufgrund der sicherheitspolitischen Lage, des Gewinns umfassenderer Sicher-
heit durch die erheblichen Erweiterungen von NATO und EU ist der von der
Weizsäcker-Kommission 2000 ermittelte Personalumfang von 240 000 Solda-
tinnen und Soldaten die Obergrenze. Die derzeitige Personalstruktur der Bun-
deswehr mit ihren knapp 190 000 Zeit- und Berufssoldaten sowie etwa 30 000
freiwillig länger Wehrdienst leistenden Wehrpflichtigen (also Kurzzeitsoldaten)
lässt einen zukünftigen Personalumfang von 220 000 freiwilligen Soldatinnen
und Soldaten sinnvoller erscheinen.

Die Umstrukturierung der Bundeswehr darf nicht ausschließlich unter Haus-
haltsgesichtspunkten gesehen werden. Wenn europäische Einbettung, Bündnis-
fähigkeit und internationale Verantwortung für den Frieden sowie Stärkung von
Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weiterhin Eckpfeiler
deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sein sollen, muss von der Bundeswehr
die Erfüllung aller sich daraus ergebenden militärischen Anforderungen erwartet
werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass deutsche Soldaten an allen denk-
baren Missionen teilnehmen sollten oder gar müssen. Jeglicher Automatismus
ist abzulehnen. Grundsätzlich sollte eine Kultur der Zurückhaltung praktiziert
werden. Der Einsatz von Streitkräften muss die Ausnahme bleiben, er kann und
darf Politik nicht ersetzen.

Strikt zu trennen sind auch in Zukunft die Aufgaben von Polizei und Bundes-
wehr. Streitkräfte sind keine Konfliktlöser im Innern und auch keine Reserve-
polizei. Ein über Artikel 35 des Grundgesetzes hinausgehender Einsatz der
Streitkräfte im Innern, also ein polizeiähnlicher Einsatz im Innern, ist auszu-
schließen.

Die Bundeswehr der Zukunft muss in einem Maße attraktiv sein, dass sich leis-
tungsstarke junge Menschen in ausreichender Zahl freiwillig für den Dienst in
den Streitkräften entscheiden. Dazu bedarf es eines neuen Laufbahnrechts, das
Beförderungs- und Verwendungsstaus ausschließt. Daneben muss ein eigenes

Besoldungsrecht durchgesetzt werden, und zwar angelehnt an das Beamten-

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besoldungsrecht. Vor allem mit Blick auf die Gefahren für Leib und Leben bei
Einsätzen im Ausland sind alle Versorgungsregelungen zu überprüfen und, wo
erforderlich, den neuen Gegebenheiten anzupassen.

Zum Schutz unserer Soldaten und zur Wirkungssteigerung im Einsatz muss die
Ausrüstung der Bundeswehr unverzüglich und umfassend modernisiert werden.
Alle Rüstungsprogramme gehören auf den Prüfstand. Die Planungszahlen für
die Beschaffung sind den Erfordernissen der Struktur einer Freiwilligenarmee
und den neuen Aufgaben anzupassen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Wehrungerechtigkeit zu beenden und die Wehrpflicht auszusetzen,

2. die Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee zu strukturieren und sicher-
zustellen, dass umfassende Nachbesserungen oder Umstrukturierungen auf
absehbare Zeit ausgeschlossen werden können,

3. keinen über Artikel 35 des Grundgesetzes hinausgehenden Einsatz der Bun-
deswehr im Innern zuzulassen,

4. ein neues Laufbahnrecht für die Angehörigen der Streitkräfte zu erarbeiten,

5. für die Soldatinnen und Soldaten ein eigenes Besoldungsrecht einzuführen,
angelehnt an das Beamtenbesoldungsrecht,

6. die Versorgungsgesetzgebung mit Blick auf die Gefahren bei Auslandsein-
sätzen zu überprüfen und gegebenenfalls den Notwendigkeiten anzupassen,

7. die Bundeswehr so auszurüsten und auszustatten, dass sie uneingeschränkt
bündnisfähig ist, den ihr gestellten Anforderungen gerecht werden kann und
den Soldatinnen und Soldaten größtmöglichen Schutz bietet.

Berlin, den 17. Januar 2006

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