BT-Drucksache 16/3913

Das Menschrecht auf Schutz vor Binnenvertreibung stärken - Fluchtgründe vermeiden

Vom 18. Dezember 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3913
16. Wahlperiode 18. 12. 2006

Antrag
der Abgeordneten Monika Knoche, Heike Hänsel, Michael Leutert, Sevim
Dag˘delen, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Dieter Dehm, Wolfgang Gehrke, Inge Höger,
Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin, Katrin Kunert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln),
Alexander Ulrich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Das Menschenrecht auf Schutz vor Binnenvertreibung stärken – Fluchtgründe
vermeiden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Anzahl der Binnenvertriebenen nahm in den letzten Jahrzehnten deutlich zu.
Im Jahre 2005 wurde die Anzahl der durch interne Konflikte Vertriebenen, die
ihre Staatsgrenze nicht überschritten, auf weltweit 25 Millionen Menschen ge-
schätzt, 1982 lag die Zahl noch bei einer Million. Gleichzeitig mit dem Anstieg
der Zahl Binnenvertriebener sank in den Jahren nach Ende des Ost-West-Kon-
flikts die Zahl der Flüchtlinge, die außer Landes fliehen, auf weltweit geschätzte
9,6 Millionen im Jahr 2003.

Binnenvertriebene, häufig auch als Binnenflüchtlinge bezeichnet, gibt es auf
allen Kontinenten, in über 60 Ländern. Afrika ist mit mehr als 12 Millionen
Vertriebenen in 20 Ländern besonders betroffen. Besonders ausgeprägte Ver-
treibungssituationen gab es 2005 in Myanmar, Sudan, der Demokratischen
Republik Kongo, Simbabwe, Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste), Kolumbien, Irak,
Somalia, Uganda, Nepal, Nigeria, Zimbabwe und Indien.

Neben politischer Verfolgung können Situationen allgemeiner Gewalt und
interne bewaffnete Konflikte, die oftmals mit Waffen aus deutscher und euro-
päischer Produktion ausgetragen werden, Ursachen von Vertreibung sein. Die
größten Ausmaße nehmen schon heute Vertreibungen infolge des vom Men-
schen verursachten Klimawandels an. Ebenso werden im Zusammenhang mit
Wirtschafts- und Entwicklungsgroßprojekten wie Staudämmen, Rohstoffabbau,
Stadtverschönerungen oder Zerstörung kleinbäuerlicher Strukturen und Land-
enteignungen zur Anlage von Großplantagen oder Sonderwirtschaftszonen im-
mer mehr Menschen weltweit vertrieben. Allen diesen Formen der Vertreibung
ist eigen, dass Menschen mit direkter oder vermittelter Gewalt von ihrem
vertrauten Wohnort vertrieben werden. Eine einheitliche Definition für Binnen-
vertriebene ist in den „Guiding Principles on Internal Displacement“ des

Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen für die Menschenrechte Binnen-
vertriebener enthalten: „Für die Zwecke dieser Richtlinien sind Vertriebene
Personen oder Personengruppen, die zur Flucht gezwungen wurden oder die ihre
Häuser oder üblichen Aufenthaltsorte verlassen mussten, insbesondere als eine
Folge von oder zum Zwecke der Vermeidung der Folgen von bewaffneten Kon-
flikten, Situationen allgemeiner Gewalttätigkeit, von Verletzungen der Men-
schenrechte oder natürlichen oder durch Menschen gemachten Katastrophen,

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und die keine international anerkannte Staatsgrenze überschritten haben.“ Die
Lebensumstände der Vertriebenen sind geprägt von mangelhaftem Zugang zu
Land, Bildung, Nahrung, Unterkunft und Gesundheit, oft eine Folge von Diskri-
minierung von Seiten der Regierung. Dies gilt in besonderem Maße für Frauen,
die in all diesen Bereichen zusätzlich benachteiligt sind und regelmäßig Opfer
geschlechtsspezifischer Gewalt von Militärs oder gewalttätigen Lagerinsassen
werden. In vielen Fällen wird eine Rückkehr nicht ermöglicht, Vertreibungssitu-
ationen werden verschleppt, angemessene Entschädigungen bleiben aus.

Zudem hat die zunehmend ablehnende Haltung vieler Aufnahmeländer dazu
geführt, dass nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) schutzbedürftige
Flüchtlinge immer häufiger gezwungen sind, in ihrem Herkunftsland zu verblei-
ben, wo sie von Verfolgung bedroht sind. Die Aufnahmeländer sind also zu-
nächst aufgefordert, in ihrem Land Zuflucht für Flüchtlinge im Sinne der GFK
zu gewähren. Denn der Schutz des internationalen Flüchtlingsrechts greift nicht,
wenn Menschen sich auf der Flucht innerhalb ihrer Landesgrenzen aufhalten.
Binnenvertriebene sind daher der Jurisdiktion ihrer Heimatstaaten unterworfen,
deren Regierungen oft nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, ihre Rechte zu
schützen. Im Jahr 2005 waren Regierungen in 15 Ländern direkt oder indirekt
an Vertreibungen beteiligt.

Angesichts der Vielzahl der Vertreibungssituationen, in denen die betroffenen
Regierungen weiterhin die Rechte intern Vertriebener missachten, ist die inter-
nationale Gemeinschaft aufgefordert sich der komplexen Situation intern Ver-
triebener anzunehmen. Das internationale Schutzsystem für Vertriebene, die
nicht außer Landes fliehen können oder wollen, muss verbessert werden. Außer
im Falle bewaffneter interner Konflikte, wo das humanitäre Völkerrecht An-
wendung findet, kann sich eine internationale Schutzaktivität für Binnenvertrie-
bene nur auf deren Menschenrechte berufen. Ein individuelles Menschenrecht
auf Schutz vor Vertreibung ist in keiner Menschenrechtskonvention ausdrück-
lich formuliert. Es lässt sich aber aus Bestimmungen des humanitären Völker-
rechts ebenso wie aus dem Recht auf angemessenes Wohnen und dem Recht auf
Freizügigkeit ableiten, die in Artikel 11 des internationalen Sozialpakts und in
Artikel 12 des internationalen Zivilpakts ihre Grundlage haben. Sie schließen
unter anderem ein Recht zu Bleiben, ein Recht auf Wahl des Wohnsitzes und ein
Recht auf Rückkehr ein. Um Verletzungen der Menschenrechte von Binnenver-
triebenen zu verhindern, müssen die Menschenrechte jedoch klar definiert wer-
den.

Dies gilt besonders für die rechtlichen Ansprüche der Menschen, die durch Wirt-
schafts- und Entwicklungsprojekte vertrieben werden. Betroffen von Zwangs-
umsiedelungen sind meist arme, indigene oder benachteiligte Bevölkerungs-
gruppen. Häufig werden die Betroffenen weder vorab konsultiert noch infor-
miert, es werden keine alternativen Lösungen gesucht und Entschädigungen
bleiben aus, wie der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen zum Recht auf
angemessenes Wohnen, Miloon Kothari, unter anderem über Pakistan, Indien,
Kambodscha, Angola und Mexiko berichtet. Allein für Entwicklungsprojekte
wurden laut Weltbankberichten seit 1990 jährlich ca. 10 Millionen Menschen
zwangsweise umgesiedelt. Für die Förderung von Entwicklungsprojekten durch
multilaterale Entwicklungsbanken müssen völkerrechtlich verbindliche Stan-
dards des Schutzes vor Vertreibung definiert werden.

Ein Verbot willkürlicher Vertreibungen enthalten die „Guiding Principles on
Internal Displacement“ des Repräsentanten des Generalsekretärs der Vereinten
Nationen für die Menschenrechte Binnenvertriebener von 1997. Zwar sind die
„Leitlinien“ noch nicht völkerrechtlich verbindlich, sie geben jedoch geltendes
Völkerrecht wieder. Im Oktober 2005 wurden sie zudem im Abschlussdokument

des Reformgipfels der Vereinten Nationen als ein wichtiger Rahmen für den
Schutz intern Vertriebener anerkannt. Die „Guiding Principles“ sind auf die Ver-

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hinderung von Vertreibung gerichtet und definieren die individuellen Grund-
rechte intern Vertriebener und die Pflichten der betroffenen Staaten. Dabei be-
rücksichtigen sie die umfassenden Ansprüche Binnenvertriebener von angemes-
sener Unterkunft, Zugang zu Land, Bildung und Gesundheit bis hin zu Rückkehr
und Entschädigung. Auch der Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer
Gewalt, ihre Beteiligung an der Planung der Basisversorgung, ihre besondere
Berücksichtigung im Bildungs- und Gesundheitsbereich und bei der Ausstellung
von Dokumenten sind in den „Leitlinien“ enthalten.

Entscheidend ist, dass die Staaten den „Guiding Principles on Internal Displace-
ment“ nun in nationalen Programmen und Gesetzgebung und durch die Berück-
sichtigung in ihrer internationalen wirtschafts- und entwicklungspolitischen
Zusammenarbeit zur Durchsetzung verhelfen. Im Zusammenhang von Ent-
wicklungsprojekten sind die „Principles and Guidelines on Development-based
Evictions and Displacement“ des VN-Sonderbeauftragten zum Menschenrecht
auf angemessenes Wohnen eine zusätzliche Orientierungshilfe.

Bisher gibt es keine internationale Organisation, die mit einem generellen
Mandat zum Schutz und der Unterstützung Binnenvertriebener ausgestattet ist.
Im Rahmen des „Cluster“-Ansatzes versuchen die Vereinten Nationen, diese
Schutzlücken zu schließen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten
Nationen (UNHCR) und der Sonderbeauftragte der VN für die Menschenrechte
Binnenvertriebener nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. Diese Rolle muss ge-
stärkt werden. Bisher sind die Schutzaktivitäten der VN-Organisationen unter-
finanziert und das Amt des Sonderbeauftragten der VN für die Menschenrechte
Binnenvertriebener ein Ehrenamt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Verpflichtungen, die Deutschland als Signatarstaat der Genfer Konventionen
und der Menschenrechtspakte übernommen hat, auch im Rahmen ihrer inter-
nationalen Zusammenarbeit zu erfüllen und dementsprechend den „Guiding
Principles on Internal Displacement“ in ihren außenpolitischen, außenwirt-
schaftlichen und entwicklungspolitischen Aktivitäten zur Durchsetzung zu ver-
helfen. In diesem Sinne fordert er die Bundesregierung auf,

1. Vertreibungssituationen in anderen Ländern öffentlich anzusprechen und,
wenn erforderlich, Zugang zu Binnenvertriebenen für Hilfsorganisationen
einzufordern;

2. zu verhindern, dass bilaterale Investitionsschutzabkommen und die Beteili-
gung deutscher Unternehmen an Wirtschafts- und Entwicklungsgroßprojek-
ten zu Vertreibungen beitragen;

3. in den Gremien internationaler Institutionen, insbesondere dem Menschen-
rechtsrat der Vereinten Nationen, dem Europarat, den Exekutivkomitees des
UNHCR, von UN Habitat und der Weltbank sich für die Durchsetzung des
Menschenrechts auf Schutz vor Vertreibung einzusetzen;

4. sich als Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen zentral für
formelle Verfahren zur Überprüfung der Menschenrechtssituation aller intern
Vertriebenen und für die Fortsetzung der speziellen Verfahren, insbesondere
der unabhängigen Sonderberichterstatter, einzusetzen;

5. den Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen für die Menschenrechte von
Binnenvertriebenen finanziell sowie personell zu unterstützen;

6. die freiwilligen sowie die Pflichtbeiträge Deutschlands für den UNHCR
deutlich zu erhöhen;

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7. auch Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Menschenrechte intern
Vertriebener einsetzen, finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen und
insbesondere Frauenprojekte zu fördern;

8. im Europarat ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskon-
vention (EMRK) im Sinne der „Guiding Pinciples on Internal Displace-
ment“ durchzusetzen, entsprechend der Empfehlung des Ministerkomitees
des Europarats vom März 2006, um einen Durchsetzungsmechanismus für
die „Guiding Pinciples on Internal Displacement“ zu schaffen;

9. in ihrer bi- und multilateralen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit auf
die Einhaltung der „Guiding Pinciples on Internal Displacement“ und der
„Principles and Guidelines on Development-based Evictions and Displace-
ment“ zu achten;

10. dementsprechend die Vergabe aller Finanzmittel der Kreditanstalt für Wie-
deraufbau (KfW) und Hermesbürgschaften an Entwicklungsprojekte grund-
sätzlich daran zu binden, dass Umsiedlungsfragen tatsächlich umfassend
und befriedigend für die Betroffenen und unter deren Beteiligung geklärt
werden, und im Exekutivkomitee der Weltbank auf eine entsprechende An-
wendung der „Safeguard policies“ zu „involuntary settlement“ zu dringen;

11. Transparenz über die vom deutschen Vertreter im Exekutivkomitee der
Weltbank vertretene Position und Kapazitäten zur Projektprüfung hinsicht-
lich menschenrechtlicher Aspekte im Bundesministerium für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung zu schaffen;

12. das generelle Verbot von Waffenexporten in Krisenregionen auf die den Kri-
senregionen benachbarten Staaten auszudehnen;

13. angesichts der dramatischen Lebenslage von Binnenvertriebenen den Ab-
bau des internationalen Flüchtlingsschutz, der mit der Verankerung der
„innerstaatlichen Fluchtalternative“ im europäischen Asylrecht vorange-
trieben wird, zu beenden.

Berlin, den 27. November 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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