BT-Drucksache 16/3842

Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen ächten und bekämpfen

Vom 13. Dezember 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3842
16. Wahlperiode 13. 12. 2006

Antrag
der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Dr. Karl Addicks, Burkhardt Müller-Sönksen,
Florian Toncar, Ina Lenke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Konrad
Schily, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth, Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans,
Jörg van Essen, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen,
Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel
Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Birgit Homburger, Dr. Werner
Hoyer, Dr. Heinrich L. Kolb, Hellmut Königshaus, Gudrun Kopp, Heinz
Lanfermann, Harald Leibrecht, Markus Löning, Horst Meierhofer, Patrick
Meinhardt, Jan Mücke, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr,
Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina Schuster,
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Christoph Waitz,
Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen ächten und bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO leben weltweit zwi-
schen 85 und 115 Millionen Mädchen und Frauen, deren Genitalien verstüm-
melt wurden; jährlich sind weitere zwei Millionen von einem solchen Eingriff
betroffen. Die Beschneidung weiblicher Genitalien wird überwiegend in afrika-
nischen Staaten wie den Nilanrainerstaaten, am Horn von Afrika und in West-
afrika praktiziert (Bundestagsdrucksache 16/1391) und ist immer noch fest in
der Tradition, Kultur und Gesellschaftsordnung dieser Staaten verwurzelt. Die
Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation – FGM) ist in vielen Staaten
wie etwa Ägypten, Äthiopien, Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Dschibuti,
Ghana, Guninea-Conakry, Kenia, Niger, Senegal, Sudan, Tansania, Togo,
Tschad und der Zentralafrikanischen Republik strafbewehrt (Bundestagsdruck-
sache 16/1391). Dennoch wird sie dort weiterhin vorgenommen. Sie gilt viel-
fach als Initiationsritus, mit dem junge Frauen feierlich in die Gemeinschaft der
Erwachsenen aufgenommen und von ihr akzeptiert werden.
Die weltweiten Wanderungsbewegungen führen dazu, dass die weibliche Be-
schneidung in Industrieländern fortgeführt wird. Genaue Daten, wie viele von
Genitalverstümmelung betroffene Mädchen und Frauen in Deutschland leben,
gibt es nicht. Auf der Grundlage der rund 60 000 in Deutschland lebenden Frauen
aus Staaten, in denen es eine Tradition der Genitalverstümmelung gibt, gehen
Schätzungen der Nichtregierungsorganisationen von derzeit ca. 30 000 betroffe-
nen oder bedrohten Mädchen und Frauen aus (Bundestagsdrucksache 16/1391).

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Der Eingriff wird entweder in Deutschland oder während eines Aufenthalts im
Herkunftsstaat durchgeführt.

Es gibt unterschiedliche Formen der Beschneidung weiblicher Genitalien. Bei
der Genitalverstümmelung wird unterschieden zwischen dem Typ I „Sunna“,
d. h. der Exzision der Vorhaut mit der ganzen oder einem Teil der Klitoris; der
„Exzision“, d. h. der Entfernung der Klitoris mit partieller oder totaler Entfer-
nung der kleinen Labien; der „Infibulation“, d. h. einer Entfernung der ganzen
oder eines Teils der äußeren Genitalien und Zunähen des Orificium vaginae bis
auf eine minimale Öffnung und als Typ IV weitere diverse, nicht klassifizierbare
Praktiken wie Punktion, Piercing, Einschnitt und Einriss der Klitoris. Die
Beschneidung wird vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter vorgenommen;
üblicherweise findet der Eingriff im Alter zwischen vier und zehn Jahren statt.
Zum Teil ist das Gewebe später so verkleinert, dass es vor dem Geschlechtsver-
kehr und bei der Geburt eines Kindes wieder aufgeschnitten werden muss. Die
Folgen weiblicher Genitalverstümmelung können akute Komplikationen wie
ein psychisches Akut-Trauma, eine Infektion, Probleme beim Wasserlassen,
Verletzungen etwa der benachbarten Organe und Blutungen sein. Es kann außer-
dem zu chronischen somatischen Komplikationen im Bereich der Sexualität, bei
der Menstruation, bei dem Narbengewebe, beim Wasserlassen und zu Kompli-
kationen während Schwangerschaft und Geburt kommen; hinzukommen psy-
chische und soziale Folgen. Durch den Eingriff sterben 5 bis 10 Prozent; weitere
20 Prozent sterben an den Spätfolgen.

Das Verbot der Genitalverstümmelung kann aus den allgemeinen internationa-
len Menschenrechtsverträgen wie auch spezifischen Vereinbarungen, etwa dem
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau oder
über die Rechte des Kindes, abgeleitet werden. Des Weiteren gibt es bereits eine
Vielzahl internationaler Erklärung, etwa die Aktionsplattform der Vierten Welt-
frauenkonferenz in Peking 1995 oder die Millenniums-Erklärung der Vereinten
Nationen, die auf das Verbot und die Beseitigung der Genitalverstümmelung
abzielen (vgl. auch Bundestagsdrucksache 16/1391). Ausdrücklich unter Strafe
gestellt wurde die weibliche Genitalverstümmelung innerhalb Europas zum Bei-
spiel in Belgien, Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Italien, Spanien und
Schweden. Beschneidungspraktiken nach Typ I bis III stellen eine Verletzung
des Rechts auf körperliche Unversehrtheit dar und sind daher in Deutschland
nach §§ 223 ff. des Strafgesetzbuches (StGB) je nach Ausgestaltung der Hand-
lung als Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung oder als schwere Kör-
perverletzung sowie gegebenenfalls als Misshandlung von Schutzbefohlenen
strafbar. § 228 StGB bestimmt darüber hinaus, dass die Tat trotz Einwilligung
des Opfers oder seines gesetzlichen Vertreters rechtswidrig bleibt, wenn sie, was
bei der Genitalverstümmelung regelmäßig der Fall ist, gegen die guten Sitten
verstößt.

Der Deutsche Ärztetag verabschiedete 1996 in Köln eine Entschließung zur
rituellen Verstümmelung weiblicher Genitalien, in der die Beteiligung von Ärz-
tinnen und Ärzten an der Durchführung jeglicher Form von Beschneidung ver-
urteilt und darauf hingewiesen wird, dass entsprechend der Generalpflichten-
klausel der Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte derartige
Praktiken berufsrechtlich zu ahnden sind. Die Bundesärztekammer stellte am
6. April 2006 ihre „Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weib-
licher Genitalverstümmelung“ vor. Diese Empfehlungen bilden eine Grundlage
für deutsche Ärztinnen und Ärzte, um betroffenen Frauen medizinisch, psycho-
logisch und sozial helfen zu können, und sie für die Problematik der Genitalver-
stümmelung stärker zu sensibilisieren.

Während der Gelehrtenkonferenz in Kairo am 22. und 23. November 2006 stuf-

ten zehn höchstrangige Gelehrte aus aller Welt nach Anhörung mehrerer inter-
nationaler Ärzte den Brauch weiblicher Genitalverstümmelung als strafbare

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Aggression und Verbrechen gegen das Menschengeschlecht ein. Der Brauch ist
damit für Muslime nicht mehr praktikabel; dieser Beschluss muss allerdings in
den 33 betroffenen Staaten noch umgesetzt werden. In Guinea – einem Staat, in
dem die Genitalverstümmelung zwar verboten ist, aber mehr als 97 Prozent der
Frauen beschnitten sind – haben sich rund 150 Dörfer geschlossen für eine Ab-
schaffung weiblicher Genitalverstümmelung ausgesprochen. In Senegal sind
28 Prozent der Frauen beschnitten; dort haben mittlerweile 1 800 Dörfer die
Genitalverstümmelung abgelehnt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sicherzustellen, dass im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit dem
Aspekt des Gender Mainstreaming Rechnung getragen wird und hierbei ins-
besondere die Rechte von Mädchen und Frauen berücksichtigt werden;

2. sich im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft im Europäischen Jahr der Chan-
cengleichheit für alle und der Umsetzung des Fahrplans („Road Map“) der
EU-Kommission für die Gleichstellung der Geschlechter von Frauen und
Männern (2006 bis 2010) im Bereich Migration und im Rahmen der Gemein-
samen Außen- und Sicherheitspolitik für die Stärkung und Durchsetzung der
Rechte von Frauen auch mit Migrationshintergrund und die Beseitigung aller
Formen geschlechterbezogener Gewalt einzusetzen;

3. im Rahmen des Europarates auf Entschließungen des Ministerkomitees wie
Rec(2002)5 sowie der Parlamentarischen Versammlung [so Entschließung
1247 (2001) und Entschließung 1464 (2005)] hinzuweisen und die Umset-
zung von gezielten und wirksamen politischen Maßnahmen zur Bekämpfung
jeglicher Verletzungen des Rechts der Frauen auf Leben, auf körperliche Un-
versehrtheit und auf freie Wahl des Ehepartners, einschließlich so genannter
Ehrenverbrechen, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung, ganz gleich,
wann und von wem diese begangen werden und ungeachtet der Rechtferti-
gung und Zustimmung der Opfer, zu befördern;

4. im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, bei Regierungsverhandlun-
gen und -konsultationen mit den Kooperationsländern die Thematik der
weiblichen Genitalverstümmelung verstärkt einzubeziehen und auf das Zu-
satzprotokoll zur „African Charter on Human and Peoples’ Rights“, das sog.
Maputo-Protokoll vom 11. Juli 2003 und die darin genannten Maßnahmen
zur Überwindung weiblicher Genitalverstümmelung hinzuweisen;

5. das Projekt „Förderung von Initiativen zur Überwindung der weiblichen Ge-
nitalverstümmelung“ der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammen-
arbeit (GTZ) weiterhin zu unterstützen und zu fördern;

6. sich in ihren multilateralen Menschenrechtsaktivitäten auf internationaler
und europäischer Ebene für den Abbau und die Beseitigung von Gewalt ge-
gen Frauen einzusetzen;

7. darauf hinzuwirken, dass die Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher
Genitalien der breiten Öffentlichkeit und insbesondere bei den Migranten-
organisationen stärker bekannt gemacht wird und Mädchen und Frauen um-
fassend über ihre Rechte und über Beratungs- und Zufluchtsmöglichkeiten
aufgeklärt werden;

8. hinsichtlich des Strafrechts zu prüfen,

a) inwieweit im deutschen Recht Lücken bei der Strafbarkeit der Genitalver-
stümmelung bestehen;

b) ob und auf welche Weise die Genitalverstümmelung im Katalog der Aus-

landstaten gegen inländische Rechtsgüter (§ 5 StGB) oder im Weltrechts-
prinzip (§ 6 StGB) verankert werden kann und soll;

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c) ob dazu eine ausdrückliche Aufnahme in die Vorschrift des § 226 Abs. 1
Nr. 3 StGB erforderlich wäre;

und einen entsprechenden Bericht vorzulegen;

9. in Zusammenarbeit mit den Ländern durch geeignete Maßnahmen, insbe-
sondere durch Fortbildungs- und Sensibilisierungskampagnen für Polizei
und Justiz, sicherzustellen, dass die Strafverfolgung der Genitalverstümme-
lung in Deutschland konsequent durchgesetzt wird;

10. darauf hinzuwirken, dass ausreichend Fortbildungsangebote zum Thema
Genitalverstümmelung für Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung stehen und
zu prüfen, ob und inwieweit die Thematik in die ärztliche Fort- und Weiter-
bildung einfließen kann;

11. zu prüfen, ob eine Meldepflicht von Ärztinnen und Ärzten, die von einer
drohenden Genitalverstümmelung erfahren, an das Jugendamt oder die
Polizei geeignet ist, Genitalverstümmelungen zu verhindern oder eher kon-
traproduktive Auswirkungen auf die Betroffenen haben kann;

12. darauf hinzuwirken, dass die Umsetzung der „Empfehlung zum Umgang
mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung“ der Bundesärzte-
kammer, die aufzeigen, wie Patientinnen nach einer Genitalverstümmelung
psychologisch und medizinisch angemessener behandelt werden sollten,
evaluiert wird und gegebenenfalls überarbeitet werden sollte;

13. gemeinsam mit den Bundesländern darauf hinzuwirken, eine ausreichende
Zahl von Frauenhäusern, sonstiger sicherer Unterkünfte sowie Zufluchts-
möglichkeiten für die Betroffenen – insbesondere für Minderjährige – zum
Schutz der Privat- und Intimsphäre der Mädchen und Frauen sicherzustellen
und für Betroffene Beratungs- und sonstige Unterstützungsleistungen vor-
zusehen.

Berlin, den 13. Dezember 2006

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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