BT-Drucksache 16/3802

Den Friedensprozess im Nahen Osten wieder aufnehmen

Vom 13. Dezember 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3802
16. Wahlperiode 13. 12. 2006

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Dr. Norman Paech, Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, Heike Hänsel, Inge Höger-Neuling,
Dr. Hakki Keskin, Katrin Kunert, Michael Leutert, Paul Schäfer (Köln),
Dr. Kirsten Tackmann, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Den Friedensprozess im Nahen Osten wieder aufnehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Seit August 2006 schweigen die Waffen im Krieg zwischen Israel und den
Hisbollah-Milizen. Nicht so im Gaza-Streifen. Dort sterben täglich Men-
schen, die soziale Lage ist katastrophal und auch die israelische Militärof-
fensive destabilisiert die Region. Gefühle der Ohnmacht, Verzweiflung und
Wut nehmen in einem Maße zu, dass eine hochexplosive Stimmung entstan-
den ist. Innerhalb der palästinensischen Gesellschaft hat die perspektivlose
Situation zu einer Zunahme familiärer Gewalt geführt, unter der insbeson-
dere Frauen die Leidtragenden sind. Das Einfrieren finanzieller Hilfen für
die Autonomiebehörde hat bereits zu einem Zerfall der Gesellschaft und
einer weiteren Erosion des staatlichen Gewaltmonopols in den palästinensi-
schen Gebieten geführt. Die durch die EU-Sanktionen mit verursachte Radi-
kalisierung der palästinensischen Gesellschaft und die Zunahme der Gewalt
in den Autonomiegebieten gefährden auch die Sicherheit der israelischen
Bevölkerung. Die Sanktionspolitik fördert eher Gewalt und Terror zwischen
beiden Völkern, anstatt den Dialog und das gegenseitige Verständnis zu er-
möglichen.

2. Seit Jahrzehnten verschlechtert sich die Sicherheitslage im Nahen Osten.
Der Konflikt Israel-Palästina ist ein Kernkonflikt in der Region. Darüber
hinaus spitzten der Krieg und die anhaltende Besetzung im Irak, die Isolie-
rung Syriens durch den Westen und der Konflikt mit dem Iran die Lage zu-
sätzlich zu. Die israelische Besatzungspolitik, die gezielten Tötungen und
jüngsten Angriffe auf Gaza ebenso wie gewaltsame Aktionen der Hisbollah
und der Hamas, Selbstmordanschläge und Angriffe auf Israel gefährden die
Sicherheit Israels und der palästinensischen Gebiete sowie ihrer Bürgerin-
nen und Bürger. Grundbedingung für einen erfolgreichen Prozess der Be-
friedung des Nahen Ostens ist eine politische Lösung des israelisch-palästi-

nensischen Konfliktes.

3. Die Umsetzung einer international garantierten Friedensordnung muss stär-
ker auch durch europäische Initiativen innerhalb des Quartetts USA, EU,
Russland, UNO vorangetrieben werden. Ohne eine Einbeziehung Syriens
wird es keinen Friedensprozess in der Nahostregion geben. Für eine nach-
haltige Stabilisierung der Region muss dem Nahen Osten auch eine ökono-
mische Perspektive geboten werden. Im Mittelpunkt sollte eine Wirtschafts-

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entwicklung stehen, die den Menschen eine gesicherte Zukunft eröffnet und
zur Rekonstruktion der Daseinsfürsorge des Staates führt. Dies ist mit den
bisherigen neoliberalen Vorstellungen, wie sie im gegenwärtigen Barcelona-
Prozess zum Tragen kommen, nicht möglich. Als ersten Schritt muss die
internationale Gemeinschaft darauf drängen, dass die israelische Regierung
– dem Vorschlag des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas entspre-
chend – direkte Verhandlungen aufnimmt. Israel muss alle Versuche unter-
lassen, die Bemühungen zur Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit
in den palästinensischen Autonomiegebieten zu torpedieren.

4. Die Rückkehr zum Verhandlungstisch setzt eine Entschärfung der explosi-
ven Situation im Gaza-Streifen und innerhalb der Westbank voraus. Beide
Seiten müssen alles tun, um eine weitere Zuspitzung der Lage zu verhindern.
Beide Seiten müssen die Anwendung von Gewalt beenden und die Gesprä-
che wiederaufnehmen. Nur so ist die Lage zu beruhigen. Dazu bedarf es
auch der Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und Hamas
und einer Aufhebung der internationalen Isolierung der gewählten palästi-
nensischen Regierung. Die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen muss
auch dazu führen, dass

● die jetzige palästinensische Regierung sowie künftige Regierungen unter
Einschluss der Hamas und die Hamas als Organisation einer völker-
rechtlich verbindlichen Zwei-Staaten-Lösung zustimmen und auf Gewalt
verzichten. Sofort muss der Raketenbeschuss Israels eingestellt werden.
Die Drohungen von Hamas, den Waffenstillstand aufzukündigen, die An-
kündigung neuer Selbstmordattentate und Aufrufe zur Gewalt müssen
künftig unterbleiben. Ein Gefangenenaustausch könnte eine Dynamik zu
Verhandlungen auslösen;

● die israelische Regierung jegliche militärische Offensive gegen den
Gaza-Streifen einstellt, sich zu beidseitiger Waffenruhe bereit erklärt,
einen Gefangenenaustausch akzeptiert, die Überweisungen der Steuer-
und Zolleinnahmen an die Autonomiebehörde wieder aufnimmt und die
Blockade des Gazastreifens aufhebt.

5. Der Waffenstillstand im Libanon auf Basis der UN-Resolution 1701 (2006)
bleibt prekär, auch wenn ihm die Konfliktparteien zugestimmt haben. Wenn
der Konflikt im Gaza-Streifen weiter anhält oder sich gar verschärft, wird
dies unvermeidlich negative Folgen für den Libanon haben. Hingegen ist es
zur Stabilisierung des Waffenstillstandes im Libanon und zur Beruhigung
der Lage in der Region notwendig, dass die israelischen Truppen rasch aus
dem Süden des Libanon einschließlich der Shebaa-Farmen abziehen und die
israelischen Kampfjets ihre Flüge über libanesisches Territorium dauerhaft
beenden.

6. Die Bildung einer palästinensischen Regierung der Nationalen Einheit, die
auf die Initiative von palästinensischen Gefangenen – „Brief der Gefange-
nen von Hamas und Fatah“ – zurückgeht und die der palästinensische Präsi-
dent Mahmud Abbas zur Grundlage eines nationalen Dialoges gemacht hat,
ist von hoher Bedeutung. Eine solche Regierung der Nationalen Einheit soll
alle palästinensischen politischen Kräfte, die im Parlament vertreten sind,
einschließen. Die Grundlage einer solchen Regierung muss die Anerken-
nung des Staates Israel darstellen.

7. Es ist derzeitig offen, ob es in Palästina zur Bildung einer Regierung der Na-
tionalen Einheit kommt. Unabhängig davon wäre eine solche Regierung der
Nationalen Einheit, die alle palästinensischen politischen Kräfte, die im Par-
lament vertreten sind, einschließt, wichtig für den Friedensprozess. Die
Grundlage einer solchen Regierung muss die Anerkennung des Staates

Israel darstellen.

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8. Spanien, Frankreich und Italien haben eine neue Nahost-Initiative im Rah-
men der EU vorgeschlagen. Zu begrüßender Kern dieser Initiative ist es,
Palästinenser und Israelis auf eine Waffenruhe zu verpflichten und einen
Gefangenenaustausch in Gang zu bringen. Dies kann den Weg für direkte
Gespräche freimachen, die dann in eine internationale Initiative münden
sollen.

9. Die Zivilgesellschaften in Israel und Palästina sind für den Friedensprozess
von ausschlaggebender Wichtigkeit. Insbesondere die Frauenorganisationen
spielen eine zentrale Rolle, wie es die UN-Resolution 1325 (2000) zum Aus-
druck bringt, um die Gesellschaften in Israel und in Palästina für eine fried-
liche Regelung des Konfliktes zu gewinnen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ihre ernste Besorgnis über die Verschlechterung der humanitären, wirt-
schaftlichen und finanziellen Situation und die Lage der Frauen im West-
jordanland und insbesondere im Gaza-Streifen öffentlich zum Ausdruck zu
bringen;

2. sich in der Europäischen Union dafür einzusetzen, die materiellen Hilfen für
die palästinensischen Autonomiegebiete sofort wieder aufzunehmen, den
Menschen in Palästina, insbesondere im Gaza-Streifen, unverzüglich Hilfe
zukommen zu lassen sowie den in der demokratischen Wahl vom Februar
2006 erklärten Willen der palästinensischen Bevölkerung zu respektieren;

3. die Initiative des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas für eine
Wiederbelebung von Friedensverhandlungen zu unterstützen;

4. umgehend Gespräche mit der palästinensischen Regierung, aufzunehmen.
Diese Gespräche sind auf eine gegenseitige Anerkennung Israels und
Palästinas zu richten;

5. Syrien in den Friedensprozess aktiv einzubinden und für die Beendigung
der Isolation Syriens einzutreten;

6. Israel gegenüber deutlich zu machen, dass jegliche Verletzung der UN-
Resolution 1701 (2006) sofort einzustellen ist;

7. dem Libanon humanitäre Hilfe zu leisten, um die Kriegsfolgen zu beseiti-
gen, insbesondere die Infrastruktur wieder zu errichten und Umweltschä-
den und Streubomben zu beseitigen;

8. zivilgesellschaftliche Projekte zwischen Bürgerinnen und Bürgern Palästi-
nas und Israels zu fördern und für die Beteiligung von Fraueninitiativen an
dem Friedensprozess auf der Grundlage der VN-Resolution 1325 (2000) zu
werben;

9. die Nahostinitiative von Frankreich, Italien und Spanien zu unterstützen
und sich dieser anzuschließen;

10. insbesondere im Jahr ihrer EU-Ratspräsidentschaft und ihres G8-Vorsitzes
für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes intensiver mit
eigenen Initiativen im Rahmen der Europäischen Union und der G8 zu wir-
ken und deren Initiativen konsequent mitzutragen. Dies bedeutet auch, sich
in der EU und bei den G8-Staaten dafür einzusetzen, die Voraussetzungen
für eine ständige internationale Nahostkonferenz und einen neu gestalteten
Barcelona-Prozess zur wirtschaftlichen und sozialen Stabilisierung der
Region zu schaffen;

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11. das Ziel einer ständigen internationalen Nahostkonferenz konsequent zu
verfolgen und sie durch vertrauensbildende Maßnahmen vorzubereiten.
Inhalte dieser Konferenz sollten sein:

● jede Form von Gewalt zwischen Israel und Palästina dauerhaft zu be-
enden;

● die Anerkennung des Existenzrechts Israels mit völkerrechtlich ver-
bindlich festgelegten Grenzen durch alle Beteiligten;

● die Schaffung eines palästinensischen Staates mit völkerrechtlich ver-
bindlichen, von allen Beteiligten anerkannten Grenzen, der wirtschaft-
liche und soziale Lebensfähigkeit besitzt;

● die Vereinbarung eines Marshall-Planes zur sozialen und ökonomischen
Entwicklung insbesondere des Libanon und Palästinas;

● eine Regelung über die Rechte palästinensischer Flüchtlinge;

● eine Regelung zwischen Israel und Syrien/dem Libanon über die stritti-
gen Grenzfragen, über die Rückgabe der Golanhöhen sowie den Ab-
schluss eines Friedensvertrages zwischen Syrien und Israel, einschließ-
lich der gegenseitigen Anerkennung;

● eine Verständigung über einen Fahrplan zur zügigen Beendigung der
Besetzung des Irak;

● Schritte zur Entmilitarisierung der Nahostregion, Abbau aller Massen-
vernichtungswaffen einschließlich der israelischen Atomwaffen, die
Verhinderung einer atomaren Rüstung des Iran und die Vereinbarung
gegenseitiger und internationaler Sicherheitsgarantien für die Länder
der Region;

● Gespräche zur Regelung der Wasserproblematik in der Region.

Berlin, den 12. Dezember 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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