BT-Drucksache 16/3796

zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 14./15. Dezember 2006 in Brüssel und zur bevorstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Vom 13. Dezember 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3796
16. Wahlperiode 13. 12. 2006

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Dr. Hakki Keskin,
Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel,
Inge Höger-Neuling, Katrin Kunert, Michael Leutert, Ulla Lötzer, Dr. Norman Paech,
Paul Schäfer (Köln), Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin

zum Europäischen Rat am 14./15. Dezember 2006 in Brüssel
und zur bevorstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit der Übernahme der EU Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 steht
die Bundesregierung vor umfangreichen Aufgaben: Die Situation der Europäi-
schen Union ist gekennzeichnet durch eine Fülle von ungelösten Problemen
und von Fehlentwicklungen. Neue Herausforderungen an die europäische Poli-
tik sind gestellt. Wie die Bundesregierung ihnen gerecht werden will, ist weit-
gehend unklar. Eine ins Einzelne gehende Unterrichtung von Parlament und
Öffentlichkeit über die Vorhaben der Bundesregierung und über deren Erfolgs-
chancen ist überfällig.

Gescheiterter Verfassungsvertrag ohne europäische Perspektive

1. Der am 29. Oktober 2004 geschlossene Vertrag über eine Verfassung für
Europa ist in den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden
abgelehnt worden. Das hatte inhaltliche Gründe: Der Verfassungsvertrag
hätte das Demokratie-Defizit der EU verfestigt, die Dominanz der großen
Mächte über die kleineren Mitgliedstaaten verstärkt, die EU auf einen wirt-
schafts- und währungspolitischen Kurs des rigorosen Neoliberalismus mit
dem Profit als obersten Gebot festgelegt, einen europaweiten Sozialabbau
begünstigt und die Militarisierung der EU in den Rang einer Verfassungs-

pflicht erhoben.

2. Die durch 15 von 25 Mitgliedstaaten erfolgte Ratifikation kann nichts daran
ändern, dass der Verfassungsvertrag gescheitert ist, weil er dem Streben der
Bürgerinnen und Bürger der EU nach einem friedlichen, demokratischen
und sozialen Europa nicht gerecht wird.

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3. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat den Verfassungsvertrag nicht rati-
fiziert. Der Bundespräsident hat das Zustimmungsgesetz nicht ausgefertigt.
Über die beim Bundesverfassungsgericht eingelegte Verfassungsbeschwerde
und die dort erhobene Organklage ist noch nicht entschieden. Vielmehr hat
das Gericht erklärt, eine Entscheidung über das Zustimmungsgesetz zum
Verfassungsvertrag habe „gegenwärtig keine Priorität“, weil zu erwarten sei,
dass der Verfassungsprozess auf einer anderen Grundlage fortgesetzt wird.
Dementsprechend wird das Zustimmungsgesetz von Bundestag und Bundes-
rat wieder aufgehoben werden müssen.

4. Während vielfältige Überlegungen von einem „Minivertrag“ (Sarkozy),
über einen Vertrag zur Änderung des Nizza-Vertrags (Bertelsmann-Stiftung)
hin zu einem „europäischen Grundgesetz“ (Kurt Beck) vorgetragen werden,
um den Inhalt des gescheiterten Verfassungsvertrags doch noch am Willen
der Völker vorbei in Kraft zu setzen, tut die Bundesregierung immer noch
so, als könne die Zukunft Europas auf der Grundlage des gescheiterten Ver-
fassungsvertrags formuliert und gestaltet werden.

Lissabon-Strategie wirtschaftlich und sozial gescheitert

1. Die Lissabon-Strategie ist gescheitert: Ihre einseitige Ausrichtung auf
Wachstumsraten von jährlich 3 Prozent schlug fehl, die Beschäftigungsraten
stagnieren, die Umweltziele wurden verfehlt, die sozialen Ungleichheiten in
der EU verschärfen sich.

Zur Halbzeit des Programmzeitraums propagierte der Europäische Rat mit
der „Neubelebung der Lissabon-Strategie“ ein einfaches Weiter-So. Die
Ursachen für die schlechte Bilanz wurden nicht analysiert, die zugrunde
liegende wirtschaftspolitische Konzeption nicht in Frage gestellt. Mit der
Betonung der rein quantitativ verstandenen Prioritäten „Wachstum und
Arbeitsplätze“ und der damit verbundenen Fixierung auf die „Wettbewerbs-
fähigkeit“ von Unternehmen, auf Deregulierung und auf Sozialabbau rücken
Zielorientierungen einer modernen Wirtschaftspolitik wie die ökologische
Verträglichkeit des Wachstums, Arbeitsplatzqualität, die Festigung des so-
zialen Zusammenhalts und die Armutsüberwindung in den Hintergrund.

Die verheerende Wirkung des bisherigen wirtschafts- und beschäftigungs-
politischen Programms der EU zeigt sich in allen Politikbereichen.

2. Die soziale Dimension ist in der EU schwach verankert. Vor allem steht
deren inhaltliche Ausgestaltung unter dem Primat einer neoliberal ausge-
richteten Wirtschaftspolitik, statt eine Harmonisierung auf hohem Niveau
anzustreben. Die Diskrepanz zwischen europäischer Marktliberalisierung
und nationalstaatlicher Verantwortung für den Sozialstaat fördert einen
Standortwettbewerb zu Lasten der öffentlichen sozialen Sicherungssysteme.

3. Mit der Umsetzung des Europäischen Binnenmarkts erfolgte der weitge-
hende Übergang von einer positiven europäischen Integration der Harmoni-
sierung verschiedener Regulierungsordnungen hin zu einer negativen. Diese
orientierte nicht auf Vereinheitlichung, sondern auf gegenseitige Anerken-
nung unterschiedlicher Regulierungen in den Mitgliedstaaten. Trotz der
Fortsetzung früherer Ansätze etwa im Bereich von Verbraucher- und Um-
weltschutz werden bei der Herstellung des Binnenmarkts ökologische und
soziale Standards einer wettbewerbsorientierten Deregulierung unterworfen,
wie die Dienstleistungsrichtlinie deutlich zeigt, die in ihren Wirkungen dem
Herkunftslandprinzip entspricht, auf das nur im Wortlaut der Richtlinie ver-
zichtet wurde: Nicht demokratisch gesetzte Regeln bilden den übergeordne-
ten politischen Rahmen für wirtschaftliche Konkurrenz. Der offene Markt

und die Gewinnmaximierung fungieren vielmehr als Rahmenbedingungen,
denen sich die Mitgliedstaaten in ihrer politischen Regelsetzung im Konkur-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3796

renzkampf um die Ansiedlung und den Verbleib von Unternehmen unter-
werfen müssen.

4. Die von der EU geförderte Liberalisierung der Daseinsvorsorge hat in wei-
ten Bereichen nicht die erhoffte Wettbewerbsverstärkung mit den verspro-
chenen Vorteilen für die Verbraucher gebracht, sondern zur Bildung neuer
Oligopole (so etwa im Energiebereich), zum Beschäftigungsabbau und
damit zur Verschlechterung der Leistungen und zu teilweise drastischen
Preiserhöhungen geführt.

5. Die Freistellung der europäischen Geldpolitik von den Zielen eines ange-
messenen ökologisch verträglichen Wirtschaftswachstums und der Vollbe-
schäftigung sowie die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank von
politischen Vorgaben, verhindern deren effektive Einbeziehung in eine wirk-
same makroökonomische Wirtschaftspolitik. Der äußerst niedrige EU-Haus-
halt, verbunden mit dem absoluten Kreditfinanzierungsverbot, und die Fes-
selung der nationalen Haushalte durch die Maastricht-Kriterien und den
Stabilitäts- und Wachstumspakt machen eine auf ökologisches Wachstum
und Vollbeschäftigung ausgerichtete Wirtschaftspolitik unmöglich.

6. Der durch die Standortkonkurrenz ausgelöste Steuerwettbewerb führt zum
Druck auf die öffentlichen Einnahmen, dem Einschnitte in die öffentlichen
Ausgaben folgen. Es fehlen Mittel für Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und
Wissenschaftspolitik, aber auch für konjunkturelle und strukturelle wirt-
schaftliche Maßnahmen der öffentlichen Hand. Der Stabilitäts- und Wachs-
tumspakt wurde zwar im März 2005 gelockert und erlaubt eine flexiblere
Anwendung der Defizitgrenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
(BIP). Dennoch dienen den Regierungen der Mitgliedstaaten drohende oder
laufende Defizitverfahren weiterhin als willkommene Rechtfertigung von
Sozialabbau.

7. Der Beitritt zur Eurozone verlangt den neuen mittel- und osteuropäischen
Mitgliedstaaten ein wirtschaftlich und sozial kontraproduktives Programm
von Ausgabenkürzungen ab, das verheerende Folgen für den gesellschaft-
lichen Zusammenhalt mit sich bringt.

8. Die Bundesregierung ist offenbar nicht bereit, die gescheiterte neoliberale
Wirtschaftspolitik auf nationaler wie auf europäischer Ebene einer grund-
sätzlichen Überprüfung zu unterziehen. Stattdessen zeichnen sich im Rah-
men ihrer neoliberalen Agenda als Etappenziele für die Ratspräsidentschaft
ab:

● Die Vollendung des Binnenmarktes für Strom und Gas bis zum Juli 2007,

● die Umsetzung der EU-Rahmenrichtlinie für einen liberalisierten EU-
Binnenmarkt für Dienstleistungen und die vollständige Liberalisierung
der Postdienste bis 2009,

● die forcierte Liberalisierung der Gesundheitsdienste, des Rüstungsmarkts
und der Finanzdienstleistungen,

● ein forcierter ,Bürokratieabbau‘ (better regulation bzw. Rechtsbereini-
gung), der sozial- und umweltpolitische Ziele der Wettbewerbsfähigkeit
unterordnet und die Interessen der Bürgerinnen und Bürger vernachlässigt

● und eine aggressive Neuausrichtung der EU-Handels- und Außenwirt-
schaftspolitik im Interesse der europäischen Konzerne.

9. Europa ist dabei, seine Jugend zu verlieren. Die Zukunft des europäischen
Projekts hängt davon ab, ob die Akzeptanz Jugendlicher für die europäi-
schen Ziele und Institutionen deutlich steigt. Stattdessen zeigen sich bei der

Jugend Anzeichen einer Europamüdigkeit. Die Wahlbeteiligung unter
Jugendlichen lag bei den Europawahlen 2004 deutlich unter der Gesamt-

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wahlbeteiligung. Bei den Referenden über die EU-Verfassung sagten Ju-
gendliche überdurchschnittlich oft „Nein“. Jugendliche nehmen die Zumu-
tungen einer marktradikalen Politik der Deregulierung als Bedrohung der
eigenen Zukunft wahr. Die Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme sind
so unterentwickelt, dass sie von Jugendlichen kaum genutzt werden. Wer
sich mit der eigenen Ausbildung, den selbst erworbenen Fähigkeiten und
Kompetenzen sowie dem eigenen Engagement ungefragt in einer europa-
weiten Konkurrenz behaupten soll, fragt sich mit Recht, welche sozialen
Standards und Schutzrechte Europa im Interesse der Bevölkerungsmehrheit
bereithält. Jugendarmut und Jugendarbeitslosigkeit sind stattdessen genauso
eine europaweite Realität wie die Reduzierung von Angeboten der Jugend-
arbeit. Gerade Jugendliche erwarten ein Europa, das ihre Lebenssituation
verbessert. Das soziale Europa muss zu einem Projekt der europäischen
Jugend werden.

Nachholbedarf bei der Frauen- und Gleichstellungspolitik

1. Bislang spielte Deutschland in der europäischen Gleichstellungspolitik
keine Vorreiterrolle. Vielmehr wurden und werden die gleichstellungspoliti-
schen Impulse im nationalen Rahmen nur zögerlich, unvollständig oder sogar
widerstrebend umgesetzt.

2. Nach wie vor gibt es dringenden gleichstellungspolitischen Handlungsbe-
darf in der europäischen Union. Besonders deutlich wird dies u. a. an der
alarmierenden Lohndiskriminierung von Frauen. Im Durchschnitt verdienen
Frauen pro Arbeitsstunde 15 Prozent weniger als Männer. Das durchschnitt-
liche Einkommen von Frauen in Deutschland liegt mindestens 20 Prozent
unter dem von Männern. Damit nimmt Deutschland den drittletzten Rang
unter den EU-Staaten im Hinblick auf die Angleichung der Einkommen von
Frauen und Männern ein. Die Lohnungleichheit nimmt im Gegensatz zu den
meisten anderen europäischen Ländern in Deutschland sogar wieder zu

3. Die europäische Gleichstellungspolitik fokussiert einseitig auf die Er-
werbsintegration von Frauen. Dieses wichtige Anliegen muss stärker durch
die Verwirklichung sozialer Rechte flankiert werden. Dabei stehen der Ab-
bau von Geschlechterdiskriminierungen in den sozialen Sicherungssystemen
der Mitgliedstaaten, die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf und die Umverteilung der Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern im
Vordergrund.

4. Die Europäische Union hat sich zur Aufgabe gesetzt, bei allen Maßnahmen
die diskriminierende Ungleichbehandlung zwischen Frauen und Männern zu
beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern. Ein
wesentlicher Bestandteil dieser Strategie ist es, Ressourcen geschlechterge-
recht zu verteilen. Ob finanzwirksame Entscheidungen konsequent hinsicht-
lich ihrer Gleichstellungswirkung überprüft werden, ist ein wesentlicher In-
dikator für den politischen Willen, die tatsächliche Gleichstellung der
Geschlechter zu befördern. Dieser Prozess ist auf europäischer Ebene ins
Stocken geraten.

Zunehmende Militarisierung der Europäischen Union

1. Die Europäische Union hat seit dem Vertrag von Maastricht und verstärkt
seit dem Vertrag von Amsterdam den verhängnisvollen Weg einer immer in-
tensiveren Militarisierung beschritten. Sie wird – neben und unter der Regie
der NATO – zu einer Militärmacht ausgebaut, die überall auf der Welt – mit
und ohne Zustimmung des Sicherheitsrates der UNO – bewaffnete Einsätze

zum Schutz vorgeblicher „europäischer Interessen“ durchführen kann. Die
Europäische Sicherheitsstrategie 2003 sieht Kampfeinsätze ohne territoriale

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/3796

Begrenzung zur „Krisenbewältigung“ vor und ermöglicht die Teilnahme an
völkerrechtswidrigen Kriegen. Die Voraussetzungen dafür schafft der for-
cierte Aufbau von „Battlegroups“, hochgerüsteten mobilen europäischen
Kampfverbänden. Der Kurs der Militarisierung sollte durch den gescheiter-
ten Verfassungsvertrag festgeschrieben werden.

2. Ohne wirksamen Verfassungsvertrag hat die im Juli 2004 gegründete Euro-
päische Verteidigungsagentur ihre Arbeit aufgenommen. Für Rüstungs- und
militarisierte Weltraumforschung sollen bis 2013 insgesamt 1,6 Mrd. Euro
ausgegeben werden, doppelt so viel wie für die Forschungsförderung erneu-
erbarer Energien. Damit wird der Aufbau einer europäischen Kriegswaffen-
industrie unterstützt. Die von der EU-Kommission verfolgte Öffnung eines
europäischen Binnenmarktes für Rüstungsgüter ist seit dem 1. Juli 2006
durch einen Verhaltenskodex der Verteidigungsagentur konkretisiert, die
Dominanz der großen europäischen Rüstungskonzerne damit weiter ge-
stärkt.

3. Die Atommächte innerhalb der EU, Frankreich und Großbritannien moder-
nisieren gegenwärtig ihre Atomwaffenarsenale, statt ihre Verpflichtung aus
dem Atomwaffensperrvertrag zur atomaren Abrüstung zu erfüllen. Deutsch-
land, wie andere EU-Staaten auch, hat im Rahmen der NATO an atomaren
Waffen teil und hält weiterhin Kapazitäten zur industriellen Anreicherung
waffenfähigen Urans vor. Die USA haben nach Schätzungen etwa 480
Atomwaffen in der EU stationiert. In Strategiepapieren der Europäischen
Union wie dem „European Defence Paper“ finden sich Überlegungen,
Atomwaffen im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-
politik (ESVP) einzusetzen.

4. Mit den Einsätzen in Bosnien-Herzegowina und in der DR Kongo werden die
militärischen Fähigkeiten der EU in der Praxis erprobt. Hinzu kommen die
verschiedenen Militärinterventionen der einzelnen Mitgliedstaaten der EU.

Umwelt- und Energiepolitik in der Sackgasse

1. Die Liberalisierung der europäischen Energiemärkte hat weder zu mehr
Wettbewerb noch zu sinkenden Energiepreisen, sondern zur weiteren Mono-
polisierung der Märkte geführt.

2. 20 Jahre nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl setzt die EU weiterhin
auf Atomenergie, obwohl die Nutzung der Nukleartechnik unbeherrschbare
Risiken für Mensch und Umwelt birgt. Die Entsorgungsfrage der hochradio-
aktiven Brennstoffe ist völlig ungelöst. Im Juli 2006 wurde die Verdoppe-
lung des Atomforschungsbudgets auf 2,751 Mrd. Euro beschlossen. Dieser
Betrag liegt um das zweieinhalbfache über dem für Energieeffizienz und er-
neuerbare Energien. Das Europäische Parlament verfügt, wie im Bereich des
EURATOM-Vertrages, über keinerlei Mitentscheidungsrecht.

3. Die Maßnahmen für die zukünftige Energiestrategie der EU beschränken
sich weitgehend auf die Bündelung beim Vorgehen in der EU-Außenpolitik
und im internationalen Handel. Die Problematik der Kartellbildung in der
europäischen Energiewirtschaft, die Endlichkeit der fossilen und atomaren
Energieträger, die zunehmenden internationalen Krisen und Konflikte sowie
die daraus resultierenden Auswirkungen auf Menschenrechte und Demokra-
tie, bleiben von der Kommission unberücksichtigt. Vielmehr wird die Situa-
tion als Wettbewerbs- und Investitionsproblem dargestellt.

4. Das gesteigerte Krisenpotential durch knapper werdende fossile Rohstoffe
lässt militärische Einsätze zur Sicherung von Energielieferungen wahr-
scheinlicher werden.

Drucksache 16/3796 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

5. Der Klimawandel schreitet voran. Seine Folgen werden immer spürbarer.
Gleichwohl steigen die Klimagas-Emissionen EU-weit an. Dennoch hat die
EU bisher kein über 2012 hinausgehendes Minderungsziel beschlossen. Sie
empfiehlt lediglich unverbindlich, die Emissionen aus allen Industrieländern
bis 2020 um 15 bis 30 Prozent zu reduzieren. Ein Jahr nach dem offiziellen
Start der Verhandlungen um die Fortführung des Kyoto-Protokolls hat die
EU keine Konzepte, wie sie ihrer selbst ernannten Vorreiterrolle im interna-
tionalen Klimaschutz nachkommen will.

6. Die Ausgestaltung des Emissionshandels trägt bisher nicht zur erforderlichen
Klimagas-Senkung bei. Die meisten der am Emissionshandel beteiligten
Unternehmen wurden so großzügig mit Emissionszertifikaten ausgestattet,
dass kaum Emissionsminderungen erforderlich waren. Die kostenlose Zutei-
lung der Zertifikate bescherten vor allem den großen Stromversorgern jähr-
lich Milliardengewinne, da sie die Zertifikate zu Marktpreisen auf die
Strompreise umlegten. Dadurch wurde die oligopole Struktur des Strom-
marktes weiter verfestigt.

7. Die biologische Vielfalt der europäischen Meere nimmt ab, Meereslebens-
räume werden durch menschliche Einflüsse zerstört, verschlechtert und
gestört. Im Vorschlag der Meeresstrategie-Richtlinie der Europäischen
Kommission ist das Erreichen eines „guten Umweltzustandes“ in den euro-
päischen Meeren bis 2021 formuliert. Der Sachverständigenrat für Umwelt-
fragen der Bundesregierung (SRU) und Umweltorganisationen wie Green-
peace haben diese Zielsetzung begrüßt, üben aber gleichzeitig scharfe Kritik
am Meeresstrategie-Richtlinienvorschlag in der bestehenden Form. Mit dem
Richtlinienvorschlag werde die Verantwortung für die Lösung der kom-
plexen Meeresumweltprobleme weitgehend renationalisiert, also in die Ver-
antwortung der einzelnen Mitgliedsländer gelegt. Vorschläge, in den euro-
päischen Meeren großflächige Meeresschutzgebiete zu schaffen, die von
menschlicher Nutzung weitgehend ausgeschlossen sind, wurden weder in der
Meeresschutzstrategie noch im Richtlinienvorschlag aufgegriffen.

Privatwirtschaftliche Verwertbarkeit dominiert Europäischen Bildungs- und
Forschungsraum

1. Bildungs- und Forschungspolitik der EU werden als Schlüsselbereiche den
auf Wachstum und Wettbewerb ausgerichteten Zielen der Lissabon-Strategie
untergeordnet.

2. Für die bildungspolitischen Leitlinien bedeutet dies eine Fokussierung auf
die unmittelbare ökonomische Verwertbarkeit von Bildung. Im Vordergrund
steht die Arbeitsmarktfähigkeit der Absolventinnen und Absolventen. Ge-
sellschaftliche Handlungsfähigkeit und damit auch Qualifizierung für demo-
kratische Teilhabe spielen dagegen keine Rolle. Mit der Dienstleistungs-
richtlinie und Liberalisierungen im Rahmen des GATS drohen weitere
Privatisierungen im Bildungsbereich. Auch die Initiative für einen Europäi-
schen Qualifikationsrahmen (EQF) orientiert auf eine Ablösung gesamtge-
sellschaftlicher Verantwortung, indem das Berufsprinzip aufgeweicht und
Lernende angehalten werden sollen, ihre Bildung über das gesamte Arbeits-
leben hinweg „eigenverantwortlich“ der Verwertbarkeit auf dem Arbeits-
markt anzupassen.

3. Die Forschungsstrategie wird durch das 7. Forschungsrahmenprogramm ab-
gesteckt, das in der Ausstattung den selbst gestellten Zielen der Lissabon-
Strategie für Forschung und Entwicklung nicht gerecht wird. Fehlende qua-
litative Leitbilder der Forschungsförderung führen zur Schwerpunktbildung
im Verfahrens- und Technologiebereich (Informations-, Produktions- und

Nanotechnologie, Weltraumforschung) auf Kosten von nachhaltiger, themen-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/3796

orientierter interdisziplinärer Forschung zur Bewältigung von sozialen und
ökologischen Problemen. In der neuen Sicherheitsforschung soll die Tren-
nung von ziviler und militärischer Forschung zunehmend aufgehoben wer-
den. Neben dem Europäischen Forschungsrat (ERC), der seine Arbeit
Anfang 2007 aufnehmen soll, wird für zusätzliche 2,4 Mrd. Euro ein Euro-
päisches Technologie Institut (EIT) geplant, dessen Abgrenzung zum ERC
unklar ist.

Kulturpolitik im europäischen Integrationsprozess

Der Kulturpolitik kommt nach übereinstimmender Meinung aller Experten zen-
trale Bedeutung im europäischen Integrationsprozess zu. Die EU-Kulturpolitik
soll die nationale Kulturpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten ergänzen, darf sie
aber nicht bestimmen oder gar ersetzen.

Mit dem EU-Rahmenprogramm Kultur 2000, das zahlreiche Projekte in dar-
stellender und bildender Kunst, Literatur, Musik und Kulturgeschichte unter-
stützt, leistet die EU einen wertvollen Beitrag für die kulturelle Zusammen-
arbeit in Europa. Auch die wechselnde Kulturhauptstadt Europas ist Bestandteil
dieses Förderprogramms. Die Ernennung der Stadt Essen zur Kulturhauptstadt
Europa 2010 zeigt, welch hohen Symbolwert dies hat.

Eine große kulturpolitische Leistung des vergangenen Jahres war die Verab-
schiedung der UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt. Die
Bundesregierung sollte während ihrer Ratspräsidentschaft bei den weiteren
Mitgliedstaaten dafür werben, dass alle Mitgliedsländer der Union die Konven-
tion möglichst schnell ratifizieren. Da die EU selbst Vertragspartner ist, muss es
ihr Ziel sein, sobald wie möglich auf 30 Signatarstaaten verweisen zu können,
damit die Konvention Gültigkeit erlangt.

Gefährdung von Freiheitsrechten und Demokratie

1. Bei der Umsetzung des „Haager Programms zur Stärkung von Freiheit,
Sicherheit und Recht in der Europäischen Union“ ist durchgängig die Ten-
denz erkennbar, vermeintlichen Sicherheitserfordernissen mehr und mehr
Grund- und Freiheitsrechte von EU-Bürgerinnen und -Bürgern, insbeson-
dere aber von Drittstaatenangehörigen zu opfern.

2. Europäische Projekte wie u. a. das Schengener Informationssystem II oder
der Ausbau und die Stärkung von Europol gewinnen vor dem Hintergrund
der nationalen Anti-Terrorgesetzgebungen totalitäre Dimensionen. Auf Ar-
beitsebene sind darüber hinaus eine ganze Reihe demokratisch nicht legiti-
mierter und kontrollierter Gremien entstanden. „Freie Verfügbarkeit“ von
Daten, einschließlich biometrischer Daten und DNA-Profile sowie das Ziel
der Förderung von „Interoperabilität“ von Datenbanken und -systemen
haben europaweit Vorrang vor dem Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung erhalten.

3. Die von der Europäischen Union seit den 90er-Jahren betriebene Politik der
Abschottung gegenüber „Armutsflüchtlingen“, Kriegsflüchtlingen und poli-
tisch Verfolgten hat an den EU-Außengrenzen bereits mehr als 10 000
Menschen das Leben gekostet. Obwohl die Zahl der Asylbewerber so nied-
rig ist, wie seit zehn Jahren nicht mehr, wird das System der Abschottung
weiter perfektioniert. Dazu zählt auch die europäische Grenzschutzagentur
FRONTEX, deren Aufgabe es ist, Löcher in den Festungsmauern der EU
schnellstmöglich zu schließen und eine effektivere europäische Abschie-
bungspolitik zu organisieren. Zusätzlich wird die Grenzsicherung weiter
militarisiert und bis vor die Küsten West-Afrikas und nach Osteuropa vor-

verlagert. Insgesamt ist die Gewährleistung des Zurückweisungsverbots der
Genfer Flüchtlingskonvention in der Praxis nicht mehr gegeben.

Drucksache 16/3796 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

4. Es fehlt an einheitlichen europäischen Mindeststandards für Strafverfahrens-
rechte und an der Institution einer europäischen Strafverteidigung. Die Euro-
päisierung der Strafverfolgung setzt aber eine Strafverteidigung auf euro-
päischer Ebene voraus. Gleichzeitig werden durch die Anwendung des
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen in
Strafsachen Betroffene Straftatbeständen, Ermittlungsbefugnissen oder Voll-
streckungsvorschriften unterworfen, an deren Entstehen sie nicht auf demo-
kratischem Wege beteiligt waren und deren Geltung ihnen gegenüber sich
auch nicht aus dem Territorialitätsprinzip rechtfertigt.

Vormarsch der Extremen Rechten in Europa

1. Der Bundestag sieht mit Besorgnis, dass in zahlreichen Ländern der Europäi-
schen Union Parteien der extremen Rechten seit Jahren Zulauf verzeichnen.
Während sie in einigen Staaten direkt an der Regierung beteiligt sind, neh-
men sie in anderen Ländern von außen Einfluss auf die Regierung. Auch im
Europäischen Parlament sitzen Vertreter von Parteien der extremen Rechten.
Zwar ist es der europäischen Rechten bis heute nicht gelungen, eine gemein-
same Fraktion im EU-Parlament zu bilden, es gibt aber zunehmend Bestre-
bungen in diese Richtung.

2. Der nationale, aber auch europaweit zu beobachtende Vertrauensverlust in
die Lösungskompetenz der etablierten Politik und die unsozialen Folgen der
neoliberalen Politik der EU-Kommission und der meisten Regierungen der
Mitgliedstaaten tragen zu einer Stärkung der extremen Rechten bei. Deren
Politikangebote richten sich dabei insbesondere gegen Migranten und Mi-
grantinnen und schüren eine auf Ausgrenzung und Rassismus zielende Poli-
tik. Mit der offenen oder stillschweigenden Beteiligung rechtsextremer Par-
teien an Regierungen der Mitgliedsländer findet eine „Normalisierung“ und
Etablierung der extremen Rechten statt, die mittelfristig negative Auswir-
kungen auf die demokratischen Institutionen haben wird.

Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik

1. Die Erweiterung der ursprünglichen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
und später der Europäischen Union um Dänemark, Irland und Großbritan-
nien (1973) sowie Österreich, Schweden und Finnland (1995) umfasste im
Wesentlichen Länder von vergleichbarem Niveau der wirtschaftlichen Ent-
wicklung. Nur Irland galt als ausgesprochen armes Land, konnte aber auf
Grund geringer Einwohnerzahl die wirtschaftliche Balance der Gemein-
schaft nicht beeinflussen. Nach der Süderweiterung durch den Beitritt Grie-
chenlands (1981) sowie Spaniens und Portugals (1986), die aus politischen
Gründen durchgesetzt wurde, erhielten diese erhebliche Fördermittel aus
den Strukturfonds und dem 1994 begründeten Kohäsionsfonds, der die ent-
standenen wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten verringern und die
Wirtschaft der beitretenden Staaten stabilisieren sollte.

2. Bei der 2004 erfolgten Osterweiterung um zehn Staaten mit einem drama-
tisch größeren wirtschaftlichen Rückstand erfolgte hingegen keine propor-
tionale Aufstockung der finanziellen Mittel. Heute bekommen daher die
neuen Mitgliedstaaten der EU weit weniger Fördermittel als die alten. Bei
den Transferzahlungen in der Strukturpolitik erhält etwa die Tschechische
Republik pro Kopf und Jahr 54,3 Euro, Slowenien 44,4 Euro und Polen 72,9
Euro. Demgegenüber erhalten Irland 122,1, Spanien 163,7, Portugal 282,3
und Griechenland 296,9 Euro pro Kopf. Vergleichbar groß sind die Ab-
stände bei der Unterstützung der Landwirtschaft. Angesichts dieser Benach-
teiligungen reagieren die beigetretenen Länder vielfach mit Sozial- und

Steuerdumping.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/3796

3. Das hat erhebliche Folgen für die Einkommen sowie Arbeits- und Lebens-
bedingungen der Menschen auch in den alten Mitgliedstaaten und für die
dortigen Staatseinnahmen. Diese Situation wird sich weiter verschärfen,
weil eine Ausweitung der Fördermittel bei der Aufnahme von Rumänien
und Bulgarien nicht vorgesehen ist.

4. Konkrete Beitrittsverhandlungen finden gegenwärtig mit der Türkei und
Kroatien statt, wobei allein gegenüber dem Beitritt der Türkei, der nach den
Festlegungen bei der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen nicht vor 2013
erfolgen soll, trotz völkerrechtlich verbindlicher Zusagen vielfach grund-
sätzliche Bedenken geäußert werden. In die Erweiterungsstrategie der Euro-
päischen Kommission dagegen einbezogen sind ohne offiziell artikulierte
Bedenken auch die westlichen Balkanstaaten Albanien, Bosnien und Herze-
gowina, die ehemaligen jugoslawischen Republiken Mazedonien, Serbien
und Montenegro sowie der Kosovo, obwohl dieser Bestandteil Serbiens ist.

5. Angesichts der schwindenden Bereitschaft, neue Mitglieder aufzunehmen,
gewinnt die „Europäische Nachbarschaftspolitik“ zunehmende Bedeutung.
Sie bezieht sich grundsätzlich auf Staaten in Osteuropa, im Kaukasus, in
Mittelasien und auf die Mittelmeeranliegerstaaten. Im Ergebnis zielt sie da-
rauf, dass die benachbarten Länder in die Sicherheitspolitik der EU einbezo-
gen werden, ihre Märkte für die EU-Konzerne öffnen und sich dem Bestand
rechtlicher Regelungen der EU anpassen müssen, ohne dass sie allerdings
durch ein Stimmrecht demokratisch auf diesen einwirken können.

Dominanz hegemonialer Freihandelspolitik

1. Am 4. Oktober 2006 veröffentlichte die EU-Kommission ihre Mitteilung
„Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt:“ (KOM(2006)567).
Danach sollen durch bilaterale Freihandels- und Investitionsschutzabkom-
men mit Schlüsselpartnern verbindliche Liberalisierungsvereinbarungen ge-
troffen werden, die weit über das im Rahmen der WTO erreichbare hinaus-
gehen. Freier Marktzugang für praktisch jeden Handel mit Gütern und
Dienstleistungen, Verbesserung der Klagemöglichkeiten von Unternehmen
gegen Staaten, wenn sie sich von ordnungspolitischen Maßnahmen einge-
schränkt sehen, freier Zugriff auf die Rohstoffe anderer Länder sind einige
Elemente dieser Strategie. Gleichzeitig kündigt die Kommission an, EU-in-
terne Regelungen an die der Handelspartner anpassen und Schutzmechanis-
men der EU für die heimischen Märkte auf den Prüfstand stellen zu wollen.
Bedauerlicherweise unterstützt die Bundesregierung diese Strategie.

2. Unter der deutschen Ratspräsidentschaft geht die Europäische Union in die
entscheidende Phase der Verhandlungen um die Wirtschaftspartnerschafts-
abkommen (EPA) mit den AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik). Zivilge-
sellschaftliche Gruppen in diesen Regionen kritisieren, dass ihre Märkte von
europäischen Konzernen übernommen und die heimischen Produzenten ver-
drängt werden sollen.

3. Insgesamt finden Assoziierungsverhandlungen der EU mit Staatengruppen
des Südens praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Verhandlungs-
partner klagen über den von der EU-Kommission ausgeübten Druck und be-
mängeln, dass weniger die offiziellen Entwicklungsziele als die Interessen
der europäischen Konzerne die Verhandlungsführung der EU dominieren.
Damit wird gegen den Grundsatz aus dem „Europäischen Entwicklungskon-
sens“ verstoßen, „dass die EU die Ziele der Entwicklungszusammenarbeit in
all ihren Politikfeldern, die die Entwicklungsländer berühren können, berück-
sichtigt und dass ihre jeweilige Politik die Entwicklungsziele fördert“ (Rats-
dokument 14820/05).

Drucksache 16/3796 – 10 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

4. Auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel im Mai 2006 in Wien hatten die Ambi-
tionen der EU-Kommission, mittelfristig eine europäisch-lateinamerikani-
sche Freihandelszone zu schaffen, einen Rückschlag erlitten. Dies ist das
Resultat des sozialen Aufbruchs in Lateinamerika und eines neuen Selbst-
bewusstseins. Soziale Bewegungen und neue sozialistisch orientierte Regie-
rungen streben neue Formen der wirtschaftlichen und politischen Integration
an, die auf Ergänzung und Solidarität und nicht auf Wettbewerb und Über-
vorteilung beruhen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert:

Breite demokratische Debatte über die Zukunft der europäischen Integration

Die Bundesregierung muss eine breite gesellschaftliche Debatte über die Zu-
kunft der Europäischen Union und über einen zustimmungsfähigen Verfas-
sungsvertrag initiieren. Das bedeutet:

1. Die Bundesregierung macht ihre grundsätzlichen Vorstellungen über die Zu-
kunft der europäischen Integration zum Inhalt der Berliner Erklärung anläss-
lich des 50. Jahrestags der Römischen Verträge. Ihre inhaltliche Konzeption
stellt sie zuvor im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union des Deutschen Bundestags und im Bundestagsplenum zur Debatte.

2. Mit dem Ziel eines demokratischen Neubeginns in der Verfassungsfrage
unterbreitet die Bundesregierung ihren Partnern in der EU den Vorschlag,
gemeinsam die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine
Europäische Verfassungsgebende Versammlung gebildet wird, die in einem
breiten demokratischen Diskussionsprozess den Text eines neuen Verfas-
sungsvertrages erarbeitet, über den in allen Mitgliedstaaten Volksabstim-
mungen stattfinden. Dieser Vorschlag muss Teil des Zeitplans („road map“)
sein, den die Bundesregierung dem Europäischen Gipfel am Ende ihrer
Ratspräsidentschaft vorlegt.

3. Um die Diskussion über den Inhalt eines neuen Verfassungsvertrages anzu-
regen, legt die Bundesregierung auf diesem Gipfel auch inhaltliche Ele-
mente eines anderen Verfassungsvertrags für die Europäische Union vor. Es
muss darum gehen, die Europäische Union als einen friedlichen, sozialen
und demokratischen Verbund von gleichberechtigten Staaten und Völkern
und von Bürgerinnen und Bürgern mit umfassenden Grundrechten zu kon-
stituieren, die ihre gemeinsamen Angelegenheiten nach dem Grundsatz der
Subsidiarität gestalten.

Vorrang für Nachhaltigkeit:
Politik für Vollbeschäftigung, ökologischen Umbau und Solidarität

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich dafür einzu-
setzen, dass eine nachhaltige Entwicklung und deren strategische Umsetzung
stärker in das Zentrum der Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik der Europäi-
schen Union rücken. Im Hinblick auf die für 2008 geplante Zwischenbilanz der
neuen Lissabon-Strategie muss eine Diskussion schon während der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft darüber eingeleitet werden, wie der Widerspruch
zwischen der Lissabon-Strategie, gerichtet auf Wachstum und Beschäftigung,
und der EU-Nachhaltigkeitsstrategie durch eine neue integrierte EU-Strategie
für Nachhaltigkeit, Vollbeschäftigung und Solidarität (wirtschaftlich, ökolo-
gisch, sozial) aufgelöst werden kann.

In diesem Sinne fordert der Bundestag die Bundesregierung auf, einen wirt-
schaftspolitischen Kurswechsel einzuleiten, die notwendigen Maßnahmen für
eine Sicherung des Qualitäts- und Beschäftigungsniveaus und der öffentlichen

Daseinsvorsorge zu ergreifen und den Ausbau der sozialen Dimension der EU
in den Vordergrund ihrer Ratspräsidentschaft zu rücken. Das bedeutet:

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 11 – Drucksache 16/3796

Wirtschaftspolitischer Kurswechsel

1. Die Koordination der Politiken der EU und der Mitgliedstaaten zielt auf
Vollbeschäftigung, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Men-
schen. Wirtschafts- und Außenhandelspolitik, Finanz- und Steuerpolitik,
Sozial-, Beschäftigungs- und Umweltpolitik, Haushalts- und Währungs-
politik werden politisch koordiniert und demokratisch kontrolliert.

2. Es ist unter veränderten Bedingungen ein Währungssystem zwischen den
Mitgliedstaaten der Eurozone und jenen außerhalb mit festen, aber anpas-
sungsfähigen Wechselkursen zu schaffen, das Währungsspekulationen ver-
hindert und außenwirtschaftliches Gleichgewicht befördert.

3. Die Europäische Zentralbank (EZB) muss demokratischer Kontrolle unter-
worfen werden. Sie hat eine angemessene Geldversorgung sicherzustellen
und sich an den Zielen eines hohen Beschäftigungsstands, außenwirt-
schaftlichen Gleichgewichts sowie ökologisch und sozial nachhaltiger
Wirtschaftsentwicklung zu orientieren.

4. Die Mitgliedstaaten erhalten den notwendigen Verschuldungsspielraum,
um kurzfristig Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ge-
gensteuern zu können.

5. Ein Europäisches Sofortprogramm für Zukunftsinvestitionen mit den
Schwerpunkten öffentliche Beschäftigung und ökologischer Strukturwan-
del ist in der Größenordnung von 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der
EU aufzulegen.

6. Zum Erhalt der Finanzierungsgrundlage des Gemeinwesens und des öko-
nomischen, sozialen und fiskalischen Zusammenhalts in der EU muss in-
ternational intensiver gegen die Hinterziehung von Umsatzsteuern sowie
gegen Steuerwettbewerb und Steuerdumping im Unternehmensteuerbe-
reich vorgegangen werden.

7. Zur effektiven Erfassung von Einkünften aus Kapitalvermögen im inter-
nationalen Bereich muss eine intensive Kooperation zwischen den Finanz-
behörden der EU-Staaten vehement vorangetrieben werden.

8. Den Risiken, die von der Übernahme und Umstrukturierung von Unterneh-
men durch Hedge-Fonds und Private-Equity-Gesellschaften ausgehen, ist
durch eine Initiative zur EU-weiten Regulierung entgegenzutreten.

9. Die Initiative für „bessere Rechtssetzung“ bedarf einer grundlegenden
Revision, in der verfehlte Folgeabschätzungen bezüglich der „Wett-
bewerbsfähigkeit der Unternehmen“ aufgegeben und an deren Stelle quali-
tative, an wirtschaftlicher Effizienz und sozial- und umweltpolitischen
Zielen orientierte Kriterien treten.

Sicherung des Qualitäts- und Beschäftigungsniveaus und der öffentlichen
Daseinsvorsorge

10. Die Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts bedarf einer politischen Regulie-
rung und einer Angleichung der einzelstaatlichen Rechtsordnungen auf
hohem Schutzniveau für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Ver-
braucherinnen und Verbraucher und für die Umwelt.

11. Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie darf weder zu Lasten der
sozialen Sicherung gehen noch zu Lohndumping führen. Wie der Gesund-
heitsbereich muss auch die Pflege aus der Dienstleistungsrichtlinie heraus-
genommen werden.

Drucksache 16/3796 – 12 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

12. Die Bundesregierung muss klarstellen, dass den Mitgliedstaaten, den re-
gionalen und lokalen Gebietskörperschaften jeweils die Entscheidung frei-
steht, wie sie im Rahmen ihrer Aufgaben eine Dienstleistung von allgemei-
nem wirtschaftlichen Interesse unterstützen wollen. Sie hat vor allem die
Interessen der Kommunen zu verteidigen. Deren Entschädigungsleistun-
gen für Gemeinwohlverpflichtungen dürfen nicht in den Geltungsbereich
der Bestimmungen für Artikel 87 des EG-Vertrages einbezogen werden.
Den Kommunen muss es weiterhin möglich sein, selbst die Entschädi-
gungsformen für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Inte-
resse zu bestimmen, z. B. Quersubventionen, direkte Zahlungen, beson-
dere Darlehen oder auch Steuererleichterungen.

13. Von der vollständigen Marktliberalisierung der Post bis 2009 ist Abstand
zu nehmen. Die Bundesregierung darf sich nicht zum europaweiten Für-
sprecher für die wirtschaftlichen Interessen der Deutschen Post AG
machen. Sie hat vielmehr die öffentlichen Interessen der EU-Mitglieds-
länder wie Frankreich, Belgien und des Mittelmeerraums zu respektieren,
die an ihren öffentlichen Postdiensten festhalten wollen.

14. Die von der Kommission verfolgte Politik der Ausweitung der Vergabe-
richtlinien auch auf kleinere öffentliche Aufträge, die unterhalb des für
eine Ausschreibung erforderlichen Schwellenwertes liegen, ist abzulehnen.
Die Bundesregierung sollte ihr Vorgehen eng mit anderen Mitgliedsländern
abstimmen.

Ausbau der sozialen Dimension der EU

15. Die Bundesregierung muss die soziale Dimension der europäischen Inte-
gration zu einem prioritären Ziel machen. Ein Element einer neuen sozialen
Politik ist die unbedingte und verbindliche Einführung von sozialen
Grundrechten in einer überarbeiteten europäischen Verfassung. Die Kom-
petenzen zur Sicherung und dem Ausbau sozialer Sicherungssysteme sind
auf europäischer Ebene auszubauen. Um Lohn- und Sozialdumping zu ver-
hindern, sind durch Richtlinien soziale Mindeststandards auf einem hohen
Niveau verbindlich festzulegen. Hierbei sind die Festlegung eines Min-
destlohns und einer armutsfesten allgemeinen Grundsicherung vordring-
lich.

16. Der Ausbau des Sozialstaates in Europa darf mittelfristig nicht über öffent-
liche Verschuldung, sondern muss über eine Politik der Reichtumsumver-
teilung finanziert werden. Eine Mindestsozialleistungsquote, die dem je-
weiligen nationalen Bruttoinlandsprodukt Rechnung trägt, ist festzulegen.

17. Die Bundesregierung setzt sich für eine effektive Umsetzung des Europäi-
schen Aktionsplans ein und sorgt während ihrer Ratspräsidentschaft dafür,
dass im Rahmen des Europäischen Jahres der Chancengleichheit 2007 das
Thema Behinderungen öffentlich wahrgenommen wird. In die zu ergrei-
fenden Initiativen müssen Menschen mit Behinderungen aktiv einbezogen
und das Recht der Betroffenen auf autonome Lebensführung deutlich the-
matisiert werden.

18. Die Bundesregierung leitet im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft
einen Kurswechsel im Interesse der europäischen Kinder und Jugendlichen
ein:

Die Ankündigung der Kommission, die Stärkung der Kinderrechte in den
Mitgliedsländern zu einer Querschnittsaufgabe zu machen, muss schnell
in konkrete Vorhaben umgesetzt werden. Insbesondere der europaweite
Kampf gegen die Kinderarmut muss im Jahr 2007 einen Spitzenplatz auf

der sozialpolitischen Agenda der Europäischen Union erhalten.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 13 – Drucksache 16/3796

Der „Europäische Pakt für die Jugend“ muss so umgestaltet und weiterent-
wickelt werden, dass er den jugendlichen Anforderungen an ein soziales
und gerechtes Europa gerecht wird. Dazu zählt insbesondere die europa-
weite Ausweitung der sozialen Mindeststandards und Schutzrechte für die
Ausbildung und Beschäftigung Jugendlicher. Das Programm „JUGEND in
Aktion“ muss mit einem Schwerpunkt auf dieser Zielstellung ausgestaltet
und ausgeweitet werden.

Eine echte Beteiligung Jugendlicher an den sie betreffenden Entscheidun-
gen der EU muss an die Stelle einer im Wesentlichen auf Jugendevents be-
schränkten Pseudopartizipation treten. Dazu muss insbesondere die im
Rahmen des Weißbuch-Prozesses in der Jugendpolitik eingeführte Offene
Methode der Koordinierung grundlegend umgestaltet werden.

19. Beschäftigung ohne Existenz sicherndes Einkommen und prekäre Selb-
ständigkeit müssen auf EU-Ebene durch die Abschaffung von „Anreizen“
für prekäre Beschäftigungsverhältnisse zurückgedrängt werden. Min-
destanforderungen an die Ausgestaltung von Leiharbeit sind gesetzlich zu
verankern.

20. Eine Ausgestaltung von substantieller und geschützter Teilzeitarbeit von
15 bis 25 Wochenstunden – für alle, die Teilzeit wollen. Teilzeit- und Voll-
beschäftigung sind im Hinblick auf Karrierechancen, Stundenentgelte, So-
zialleistungen und Weiterbildung gleichzustellen. Diese Prinzipien müssen
in die Diskussion um das Grünbuch zum Arbeitsrecht und die Grundsätze
zur ,Flexicurity‘ von der Bundesregierung mit Nachdruck eingebracht
werden.

21. Die deutsche Präsidentschaft muss sich im Rahmen der Revision der
Arbeitszeitrichtlinie für die Abschaffung des Opt-outs, die punktgenaue
Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung zu Bereitschafts- und Ausgleichs-
ruhezeiten, für eine Begrenzung der maximalen durchschnittlichen
Wochenarbeitszeit auf 40 bis 42 Stunden und die Referenzperiode für die
Messung der Durchschnittswochenarbeitszeit auf 4 Monate einsetzen.

Frauen und Gleichstellungspolitik

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, endlich der Tatsache gerecht
zu werden, dass ihre EU-Ratspräsidentschaft zugleich mit dem Jahr der Chan-
cengleichheit beginnt. Das bedeutet:

1. Die Bundesregierung setzt sich aktiv für eine Weiterentwicklung der euro-
päischen Gleichstellungspolitik ein. Dazu gehört u. a. die Ausweitung der
Antidiskriminierungsrichtlinien auf Europäischer Ebene zu befördern.
Dazu gehört vor allem, bessere Durchsetzungsmechanismen zu entwickeln
und Rechtfertigungsgründe für Diskriminierungen auf den Prüfstand zu
stellen. Der Stand der Umsetzung der bisherigen Richtlinien in den Mit-
gliedstaaten ist zu überprüfen. Den Anforderungen der Richtlinien nicht
genügende Gesetze müssen benannt und Verbesserungen angemahnt wer-
den. Weiterhin soll die Bundesregierung die deutsche Blockade gegen das
Europäische Institut für Gleichstellungsfragen aufgeben und dessen zügige
Einrichtung vorantreiben.

2. Die Bundesregierung initiiert die Entwicklung wirksamer Strategien zur
Beseitigung der Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern. Mit
Blick auf den Niedriglohnsektor, in dem überdurchschnittlich viele Frauen
arbeiten, setzt sie sich daher dafür ein, dass europaweit Existenz sichernde
Mindestlöhne eingeführt werden.

Drucksache 16/3796 – 14 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

3. Die Bundesregierung gibt Impulse für eine qualitative Beschäftigungspolitik
und thematisiert insbesondere die Verteilung unbezahlter Arbeit. Im nationa-
len Rahmen befördert sie die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und
Männern im Erwerbsleben mittels eines Gleichstellungsgesetzes für die Pri-
vatwirtschaft, sowie die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie
durch bedarfsdeckende, hochwertige und elternbeitragsfreie Kinderbetreu-
ung.

4. Die Bundesregierung setzt sich für eine systematische Überprüfung des EU-
Haushaltes unter gleichstellungspolitischen Gesichtspunkten und eine ge-
schlechtergerechte Verteilung der Ressourcen ein.

Glaubhafte Vorreiterrolle in der Energie- und Umweltpolitik

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich in der EU für eine dem
Vorsorgeprinzip verpflichtete Umweltpolitik und eine dem Klimaschutz die-
nende sowie Versorgungssicherheit gewährleistende Energiepolitik einzusetzen
und auf unbeherrschbare Technologien und militärische Optionen zu verzich-
ten. Das bedeutet:

1. Maßnahmen der EU zur Energieeinsparung und -effizienz, zur Förderung
regenerativer Energien und zum Klimaschutz müssen vorrangiges Ziel wer-
den, um die Importabhängigkeit Europas von fossil-atomaren Rohstoffen zu
senken und die Stabilität der europäischen Energieversorgung zu stärken.
Der Förderung regenerativer Energien und Energieeffizienz sowie der Auf-
bau einer dezentralen Energieversorgung muss auch in der Entwicklungs-
zusammenarbeit ein größerer Stellenwert eingeräumt werden.

2. Die Bundesregierung soll auf einen EU-weiten Ausstieg aus der Atomener-
gie hinwirken. Die EU-Mitgliedstaaten, die Atomkraft weiter nutzen, dürfen
dafür keine Förderung aus Mitteln der EU bzw. den Mitgliedstaaten er-
halten. Der EURATOM-Vertrag soll analog dem Vertrag über die EGKS
endgültig auslaufen. Die Förderung und Privilegierung von Atomkraft ist zu
beenden. Die finanzielle und sonstige Begünstigung von Atomkraftwerks-
bauten in Mittel- und Osteuropa ist einzustellen. Die Aufgaben der EU im
Atombereich müssen auf die Sicherheitsüberwachung und Verhinderung der
Nicht-Weiterverbreitung reduziert werden.

3. Der angekündigte Vertrag zur Gründung einer europaweiten Energiegemein-
schaft, einer neuen Energiepartnerschaft mit Russland und anderen Ländern
darf weder auf einseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Partnerländer
noch auf Eingriffe in ihre Souveränität ausgerichtet sein.

4. Die EU soll eine glaubhafte Vorreiterrolle in den Verhandlungen um ein
Nachfolgeabkommen zum Kyoto-Protokoll einnehmen. Dazu gehört eine
weitere Reduzierung der europäischen Treibhausgasemissionen um 30 Pro-
zent bis 2020. Deutschland soll sich zu einer Minderung der Emissionen von
40 Prozent bis 2020 verpflichten.

5. Der Emissionshandel muss zu einem wirksamen Klimaschutzinstrument
umgestaltet werden. Dafür soll bei der anstehenden Überprüfung der Emis-
sionshandelsrichtlinie nach 2012 die Versteigerung der Emissionszertifikate
als Zuteilungsmethode festgeschrieben werden. Zusätzlich muss die Richt-
linie durch konkretere Anforderungen an die Festlegung der Gesamtmenge
der national auszugebenden Emissionszertifikate ergänzt werden.

6. Die künftige EU-Meeresstrategie-Richtlinie darf nicht zu einer Renationali-
sierung der Meeresschutzpolitik führen. In der Richtlinie ist ein EU-weites
Schutzkonzept zu verankern, das insbesondere die Sektoren Fischerei, Land-

wirtschaft und Seeschifffahrt in Verantwortung nimmt, das den Meeresschutz
betreffende europäische Umweltrecht weiterentwickelt, die notwendigen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 15 – Drucksache 16/3796

Verknüpfungen der europäischen Handlungsebenen mit den internationalen
Konventionen zum Schutz der Meere herstellt und die Ausweisung großflä-
chiger Meeresschutzgebiete verankert.

Die EU friedensfähig machen

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass
die Militarisierung der EU rückgängig gemacht und eine Politik der Abrüstung
in Europa durchgesetzt wird. Das bedeutet:

1. Die Außenpolitik Deutschlands und die der EU sind uneingeschränkt am
Völkerrecht zu orientieren. Kriege und Militäreinsätze oder deren Andro-
hung dürfen nicht länger als Mittel der Politik eingesetzt werden. Vor allem
muss die deutsche Ratspräsidentschaft für eine dauerhafte Friedenslösung
im Nahen Osten eintreten und die Einberufung einer Ständigen Nahost-Kon-
ferenz in Berlin vorschlagen.

2. Auf die Abschaffung der Schnellen Eingreiftruppe und der EU-Battle-
Groups ist mit dem Ziel einer strukturellen Nichtangriffsfähigkeit der EU
hinzuwirken.

3. Die Verteidigungsagentur muss abgeschafft oder in eine Abrüstungs- und
Konversionsagentur umgewandelt werden. Weiter soll generell auf eine kon-
krete Verpflichtung der EU zu kontrollierter Abrüstung und Konversion hin-
gewirkt werden.

4. Die Öffnung des Binnenmarkts für Verteidigungsgüter ist rückgängig zu
machen. Stattdessen muss ein rechtsverbindlicher EU-Verhaltenskodex für
Rüstungsexporte in Kraft gesetzt werden. Exportgenehmigungen für Vertei-
digungs- und für Dual-use-Güter (militärisch und zivil verwendbare Güter)
in Kriegs- und Spannungsgebiete sind prinzipiell nicht mehr zu erteilen.

5. Die Bundesregierung unternimmt die Initiative für ein atomwaffenfreies
Europa. Alle Strategieplanungen zum Einsatz von Atomwaffen im Rahmen
der ESVP werden eingestellt. Einseitige atomare Abrüstungsinitiativen von
EU-Mitgliedstaaten als vertrauensbildende Maßnahmen werden befördert.
Deutschland verzichtet auf die nukleare Teilhabe und die Vorhaltung von
Kapazitäten zur Anreicherung waffenfähigen Urans. Die Regierung der Ver-
einigten Staaten wird aufgefordert, einen klaren und konkreten Zeitplan so-
wie einen Aktionsplan für den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen
aus Europa bis Ende 2007 vorzulegen.

Soziale Unterschiede im Bildungssystem abbauen, den europäischen Bildungs-
und Forschungsraum demokratisch gestalten

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, national wie im Rahmen der
EU für den Abbau sozialer Unterschiede im Bildungssystem und für eine
demokratische Gestaltung des europäischen Bildungs- und Forschungsraums
aktiv zu werden. Das bedeutet:

1. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, konkrete Maßnahmen zu ergrei-
fen, um die Teilhabe aller Menschen in der Europäischen Union an Bildung
zu stärken und europaweit das Grundrecht auf Bildung zu verankern. Ziel
der europäischen Bemühungen muss sein, soziale Unterschiede im Bil-
dungssystem abzubauen und die soziale Durchlässigkeit zu erhöhen. Um die
Mobilität von Lehrenden und Lernenden zu steigern sind Austauschpro-
gramme auszuweiten und finanziell besser auszustatten.

Drucksache 16/3796 – 16 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

2. Die Bundesregierung fördert eine demokratische Gestaltung des Europäi-
schen Bildungsraumes. Lehrende und Lernende sowie weitere Beschäftigte
an Bildungseinrichtungen werden als gleichberechtigte Partner in alle bil-
dungspolitischen Prozesse auf europäischer Ebene einbezogen. Weitere Pri-
vatisierungsbestrebungen werden entschieden abgelehnt.

3. Zum Auftakt des 7. Forschungsrahmenprogramms setzt die Bundesregie-
rung politische Akzente, indem sie qualitative Leitziele für die Forschungs-
förderung der EU entwickelt.

4. Um Interessen des Verbraucherschutzes und der Einhaltung von Bürgerrech-
ten bei der Entwicklung und Verbreitung von Technologien zu stärken, wer-
den auf EU-Ebene Verfahren etabliert, die den Dialog mit Vertretern der
Zivilgesellschaft unter transparenten Beteiligungsregeln ermöglichen.

5. Nicht zugelassen werden darf, dass im Rahmen der Sicherheitsforschung die
Trennung von ziviler und militärischer Forschung aufgehoben wird. Gerade
in sensiblen Forschungsbereichen darf die private Verwertung von For-
schungsergebnissen nicht als gleichrangiges Ziel neben die wissenschaft-
liche Entwicklung von Problemlösungsansätzen gesetzt werden.

6. Das deutsche Jahr der Geisteswissenschaften 2007 wird von der Bundes-
regierung dazu genutzt, die zivilisatorische Bedeutung von Geistes- und
Sozialwissenschaften auch auf der EU-Ebene zu unterstützen.

7. Die Pläne zu einem Europäischen Technologie Institut (ETI) werden fallen-
gelassen. Statt Gefahr zu laufen, EU-Forschungsbürokratien aufzutürmen,
soll zunächst die Arbeit des ERC als erste europäische Wissenschaftsorgani-
sation angemessen unterstützt und ihre Ergebnisse abgewartet werden.

Kulturelle Vielfalt sichern

Die Bundesregierung wird aufgefordert dafür Sorge zu tragen, dass die
UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt in Deutschland rati-
fiziert wird.

Verteidigung und Ausbau der Freiheitsrechte

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, dem Abbau und der Gefähr-
dung von Freiheitsrechten der Bürgerinnen und Bürger im Bereich der Innen-
und Rechtspolitik der EU entgegenzutreten, ihren Ausbau anzustreben. Das
bedeutet:

1. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die europäische „Sicherheits-
architektur“ auf eine grund- und bürgerrechtlich tragfähige Basis gestellt
wird. EUROJUST und EUROPOL sollen einer wirksamen demokratischen
Kontrolle unterstellt werden. Eine Evaluierung der EU-Politik in diesem Be-
reich mit dem Grund- und Menschenrechtsschutz als wesentliches Kriterium
muss durchgesetzt werden.

2. Die Bundesregierung entwickelt Initiativen, die dem Recht auf informatio-
nelle Selbstbestimmung und anderen Datenschutzgrundsätzen umfassend
Geltung verschaffen und europäische Datenschutzregelungen nicht dem an-
geblich technisch Machbaren oder sicherheitspolitisch Erwünschten unter-
werfen. Sie wirkt darauf hin, dass der Rahmenbeschluss zum Datenschutz in
der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit ein hohes datenschutz-
rechtliches Niveau bei dem Datenaustausch der Mitgliedstaaten untereinan-
der und mit Drittstaaten gewährleistet.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 17 – Drucksache 16/3796

3. Die Bundesregierung setzt sich im Rahmen ihrer Präsidentschaft für eine
europäische Flüchtlingspolitik ein, die dem Grundsatz eines effektiven
Flüchtlings- und Menschenrechtsschutzes folgt. Dies beinhaltet unter ande-
rem die Öffnung der Grenzen für Schutzsuchende, die strikte Umsetzung des
Zurückweisungsverbots der Genfer Flüchtlingskonvention in die Praxis und
einen gesicherten Zugang zu qualitativ hochwertigen Asylverfahren in allen
Mitgliedstaaten der EU. Die Bundesregierung setzt sich im Rat für die Ab-
lehnung jeglicher EU-Listen „sicherer“ Dritt- oder Herkunftsstaaten und die
Rücknahme der „Verfahrensrichtlinie“ (2005/85/EG) ein sowie für die Neu-
verhandlung der EU-Aufnahme-Richtlinie (2003/9/EG) und anderer Richt-
linien mit dem Ziel einer Verbesserung der Rechte von Asylsuchenden.

4. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass eine gemeinschaftsfinanzierte
Institution der Strafverteidigung auf europäischer Ebene geschaffen wird,
die bei Strafverfahren wegen schwerer grenzüberschreitender Kriminalität
oder bei der Beteiligung von Eurojust die Verteidigung unterstützt.

5. Die Bundesregierung trägt dafür Sorge, dass verbindliche Mindeststandards
für Verfahrensrechte im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusam-
menarbeit in Strafsachen Geltung erlangen, die nicht hinter denjenigen, die
zurzeit in der Bundesrepublik Deutschland gelten, zurückbleiben.

Verlässliche Erweiterung und gleichberechtigte Nachbarschaft

Die Bundesregierung wird aufgefordert, zu einer politisch fairen Aufnahme-
politik und zu der Entwicklung einer EU-Nachbarschaftspolitik beizutragen,
die nicht Abhängigkeit, sondern gleichberechtigte Partnerschaft anstrebt. Das
bedeutet:

1. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind mit dem Ziel fortzusetzen,
die Türkei aufzunehmen, wenn und sobald sie die Kopenhagener Kriterien
im Hinblick auf eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, auf die
Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Min-
derheiten in vollem Umfang erfüllt. Die Aufnahmefähigkeit der Union zum
jetzigen Zeitpunkt darf angesichts der völkerrechtlich verbindlichen Zusa-
gen und der Tatsache, dass diese Frage bei der Osterweiterung, bei der
Aufnahme Rumäniens und Bulgariens und bei den Verhandlungen mit den
Staaten des westlichen Balkans keine Rolle spielt, nicht zur Vorbedingung
für den weiteren Fortgang des Beitrittsprozesses gemacht werden.

2. Nach der erfolgten Aufnahme einer beachtlichen Anzahl von Ländern, die
wirtschaftlich einen erheblichen Rückstand gegenüber dem Durchschnitt der
Länder der EU der 15 aufweisen, müssen jetzt endlich die Bedingungen für
den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der EU an diese gravieren-
den Veränderungen angepasst werden. Dabei darf es jedenfalls nicht nur um
die „Verstärkte Zusammenarbeit“ der weiter entwickelten Mitgliedstaaten
oder gar um ein Direktorium „Kerneuropas“ gehen. Um den dauerhaften Zu-
sammenhalt der Union nicht zu gefährden, müssen von der Gemeinschaft in
jedem Fall bis zum Jahr 2013 wirtschaftspolitische Mechanismen und finan-
zielle Voraussetzungen geschaffen werden, die den Aufholprozess wirt-
schaftlich weniger entwickelter Länder unter den Bedingungen ihrer Mit-
gliedschaft in der EU ermöglichen. Wenn dieses geschieht, dann ist auch die
Aufnahmefähigkeit der EU für eine Aufnahme der Türkei gegeben.

3. Bei einer Weiterentwicklung der Nachbarschaftspolitik ist die einseitige
Abhängigkeit und Unterordnung der Nichtmitglieder durch Formen gleichbe-
rechtigten Zusammenwirkens zu ersetzen. Ein Zusammenschluss von „Nach-
barstaaten“ zu regionalen Gemeinschaften ist zu fördern, damit diese dann

verstärkt ihre Interessen auch gegenüber der EU wahrnehmen können.

Drucksache 16/3796 – 18 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

4. Die Planungen der Bundesregierung hinsichtlich eines neuen Konzepts von
Nachbarschaftspolitik müssen unmittelbar dem Bundestag zur Kenntnis ge-
geben werden, damit sie rechtzeitig im Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union und im Plenum diskutiert werden und der Bundes-
tag von seinen Mitwirkungsrechten aus der Vereinbarung mit der Bundes-
regierung Gebrauch machen kann.

Solidarische Außenbeziehungen

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich für eine Politik solidari-
scher Außenbeziehungen der EU gegenüber den Ländern des Südens einzuset-
zen. Das bedeutet:

1. Das Programm „Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt“
darf nicht umgesetzt, von der Bundesregierung nicht unterstützt werden.

2. Die Außenhandelspolitik der EU gegenüber den Ländern des Südens muss
grundsätzlich dem UN-Menschenrecht auf Entwicklung und den internatio-
nal festgelegten Zielen der Armutsbekämpfung verpflichtet sein. In diesem
Sinne müssen der Schutz heimischer und regionaler Märkte und die Herstel-
lung von Ernährungssicherheit und -souveränität in den Mittelpunkt gestellt
werden. Grundsätzlich darf kein Druck auf die Verhandlungspartner aus-
geübt werden, ihre Binnen- bzw. regionalen Wirtschaftsräume sowie ihre
soziale Entwicklung durch Liberalisierung zu gefährden.

3. Die Assoziierungsverhandlungen mit Staaten und Staatengruppen des Südens
sind grundsätzlich offen und öffentlich zu führen. Alle Assoziierungsver-
handlungen werden von einer regelmäßigen sozialen, ökologischen und
kulturellen Folgenabschätzung auf der Grundlage von gemeinsam mit zivil-
gesellschaftlichen Gruppen erarbeiteten Maßstäben begleitet. Bundestag
und Öffentlichkeit sind umfassend und frühzeitig über den Stand der Ver-
handlungen, die Angebote und Forderungen sowie über die Ergebnisse der
Folgenabschätzungen zu informieren.

4. Die Bundesregierung muss respektieren, dass Länder des Südens selbst
demokratisch über ihre Entwicklung entscheiden wollen und dabei auch
neue eigene Wege beschreiten, wie das in einigen Ländern Lateinamerikas
gegenwärtig geschieht. Auf eine solche Politik der Gleichberechtigung und
des Respekts muss auch die Politik der Europäischen Union orientiert werden.

Europa gegen Rechts

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, Initiativen gegen die politische
Rechtsentwicklung in Europa zu entwickeln und in der EU umzusetzen. Das
bedeutet:

1. Die demokratischen Parteien in den Mitgliedstaaten der EU verpflichten
sich, jede Beteiligung von Parteien der extremen Rechten an Regierungen
auszuschließen und ihre Politik nicht von der Duldung durch solche Parteien
abhängig zu machen.

2. Die EU wird ein europaweites Programm auflegen, mit dem die Ursachen
eines zunehmenden Rechtsextremismus vergleichend erforscht und geeig-
nete Gegenmaßnahmen entwickelt werden können. Analog zu oder unter
dem Dach der Europäischen Beobachtungsstelle Rassismus und Fremden-
feindlichkeit soll eine wissenschaftlich fundierte Beobachtung der extremen
Rechten in Europa erfolgen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 19 – Drucksache 16/3796

3. Die EU legt jährlich einen Bericht zur Entwicklung der extremen Rechten in
Europa vor und schlägt Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung vor. Weiter wer-
den die nationalen Maßnahmen im Bereich Rechtsextremismusprävention in
einem eigenen Portal präsentiert.

Berlin, den 12. Dezember 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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