BT-Drucksache 16/3650

Fusionsforschung zielgerichtet weiterführen - Deutschen Beitrag sichern

Vom 29. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3650
16. Wahlperiode 29. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, Ulrike Flach,
Michael Kauch, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Rainer
Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Jörg van Essen,
Otto Fricke, Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael
Goldmann, Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan,
Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Hellmut
Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz
Lanfermann, Harald Leibrecht, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler,
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele,
Florian Toncar, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing,
Martin Zeil, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Fusionsforschung zielgerichtet weiterführen – Deutschen Beitrag sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Angesichts eines weltweiten Anstiegs des Elektroenergiebedarfs und vor dem
Hintergrund sich verknappender fossiler Energieressourcen muss sich die Ener-
gieforschung an völlig neuen Energiekonzepten orientieren. Dabei dürfen keine
Optionen außer Acht gelassen werden, die der Erhaltung der Energieversor-
gungssicherheit und die Erhaltung einer lebenswerten Umwelt auch für künf-
tige Generationen dienen. Die zielgerichtete Weiterführung der Fusionsfor-
schung ist daher dringend erforderlich.

Am 21. November 2006 haben in Paris die Vertreter der sieben ITER-Partner
– Europa, Japan, Russland, USA, China, Indien und Südkorea – den Vertrag zur
Gründung der für den Bau und Betrieb des internationalen Fusionstestreaktors
ITER verantwortlichen Organisation unterzeichnet. Er bildet den rechtlichen
und organisatorischen Rahmen für die gemeinsame Einrichtung und Durchfüh-
rung des ITER-Projektes (ITER: Internationaler thermonuklearer Experimen-
talreaktor) für die kommenden 35 Jahre. Im Jahr 2007 muss der Vertrag noch
durch die Regierungen Japans, Russlands, der USA, Chinas, Indiens und Süd-
koreas ratifiziert werden.
Jedoch kann schon heute die ITER-Organisation – als vorläufiges Rechtssub-
jekt – tätig werden und mit den Bauvorbereitungen für ITER beginnen. Mit ihrem
Entschluss, ITER zu bauen, setzen die ITER-Partner ein wichtiges Zeichen für
eine der bedeutendsten Zukunftstechnologien zur Erzeugung von Elektroenergie.
Europa wird zur Wahrnehmung seiner Interessen eine Domestic Agency in Bar-
celona (Spanien) einrichten.

Drucksache 16/3650 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Offensichtlich bestehen jedoch zwischen der Auffassung der Bundesministerin
für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan, die eine nationale und inter-
nationale Fusionsforschung weiterentwickelt und ihr in der Hightechstrategie
der Bundesregierung einen festen Platz einräumt, und großen Teilen des Koali-
tionspartners SPD erhebliche Unterschiede. Wir teilen diese Auffassung, Fehler
aus der Kernspaltungsforschung nicht zu wiederholen und einmal erworbene
Kompetenzen nicht leichtfertig wieder aufzugeben. In der SPD-Bundestags-
fraktion werden Forderungen laut, die für die Fusionsforschung eingesetzten
Mittel besser für Forschung und Entwicklung (FuE) auf dem Gebiet der erneu-
erbaren Energien einzusetzen.

Eine Aufgabe ersten Ranges ist jetzt, die Stellung der deutschen Fusionsfor-
schung in der ITER-Organisation weiter zu stärken, in den ITER-Forschergrup-
pen Schlüsselpositionen zu besetzen und die Einbeziehung der deutschen
Industrie in Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für eine spätere Bauteilfer-
tigung zu sichern. Das ist insofern von Bedeutung, als dass Industrieaufträge
zum Bau von ITER stark vom Grad des nationalen Engagements abhängen. Je
mehr deutsche Firmen beim Bau von ITER beteiligt sein werden, desto höher
ist der Rückfluss aus den bereitgestellten Projektmitteln. Hierzu ist es notwen-
dig, bereits heute feste Kooperationen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft
aufzubauen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die aus rot-grüner Regierungszeit bestehende Deckelung der Haushaltsmittel
für die Fusionsforschung auf 115 Mio. Euro aufzuheben. Dies darf nicht zu
Lasten der Forschung für erneuerbare Energien, CO2-Abscheidung bei Koh-
lekraftwerken oder der Wasserstofftechnologie gehen;

2. die im Haushalt für das Jahr 2007 beschlossene Haushaltssperre für die
ITER-Projektmittel für Fusionsforschung ohne Vorbedingungen aufzuhe-
ben;

3. auf der Grundlage der bisher erlangten umfangreichen wissenschaftlichen
und technischen Kenntnisse und Erfahrungen in der Fusionsforschung sowie
der internationalen Vereinbarungen die angemessene Beteiligung von
Deutschland an der Planung, dem Bau und dem Forschungsbetrieb des inter-
nationalen Fusionstestreaktors ITER zu sichern;

4. die Stellung der deutschen Fusionsforschung in der ITER-Organisation
weiter zu stärken, in den ITER-Forschergruppen Schlüsselpositionen zu be-
setzen. Bei der Auswahl geeigneter Bewerber muss die wissenschaftliche
Exzellenz, nicht ein Länderproporz ausschlaggebend sein;

5. bei der Einrichtung einer Domestic Agency, die für die ITER-Koordination
der Forschungs-, Entwicklungs- und Bauleistungen eine wichtige Scharnier-
funktion einnehmen wird, entscheidend mitzuwirken;

6. die frühzeitige Einbeziehung der deutschen Industrie in Forschungs- und
Entwicklungsarbeiten für eine spätere Bauteilfertigung und Bauleistungen
zu sichern;

7. dafür Sorge zu tragen, dass Deutschland an einer Rücklaufquote bei Auf-
trägen aus dem ITER-Projekt zumindest im Umfang der eigenen Beitrags-
zahlungen zu EURATOM angemessen beteiligt ist;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3650

8. das nationale und weltweit größte Fusionsexperiment nach dem Stellarator-
prinzip WENDELSTEIN 7-X (IPP Greifswald), das Tokamak-Experiment
ASDEX Upgrade (IPP Garching) sowie die Fusionsforschungsprojekte in
FZ Jülich und FZ Karlsruhe, auch mit Blick auf deren Bedeutung für ITER,
langfristig zu fördern.

Berlin, den 24. November 2006

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

Begründung

Der Experimentalreaktor ITER, ein Großgerät der Grundlagen- und angewand-
ten Forschung für die Kernfusion, wird in Cadarache in Südfrankreich entste-
hen. Er bildet die Voraussetzung für den nächsten großen Schritt der weltweiten
Fusionsforschung, der den Nachweis erbringen soll, dass ein energielieferndes
Fusionsfeuer unter kraftwerksähnlichen Bedingungen mit einer Fusionsleistung
von 500 Megawatt und einem Energiegewinnungsfaktor von mindestens 10
möglich ist. Auf dem Weg zu einem Kraftwerk soll das ITER-Experiment die
Voraussetzungen für eine Demonstrationsanlage (DEMO) schaffen, die bereits
alle Funktionen eines Kraftwerks erfüllen soll. Die Forscher gehen heute davon
aus, dass nach jeweils 30 Jahren Planungs-, Bau- und Betriebszeit für ITER und
seinen Nachfolger DEMO ein Fusionskraftwerk in etwa in 50 Jahren wirt-
schaftlich nutzbare Energie liefern kann. Ein Fusionskraftwerk kann die Ab-
hängigkeit der Menschheit von fossilen Rohstoffen in Ergänzung zu erneuer-
baren Energien deutlich reduzieren helfen und einen Beitrag zur inneren und
äußeren Sicherheit der Staatengemeinschaft leisten.

Nach einer Bauzeit von etwa zehn Jahren werden bei ITER rund 600 Wissen-
schaftler, Ingenieure und Techniker rund 20 Jahre an der Anlage arbeiten. Die
Baukosten wurden auf rund 4,7 Mrd. Euro, die Betriebskosten – einschließlich
Rücklagen für den späteren Abbau – auf jährlich 265 Mio. Euro veranschlagt.
Der Gastgeber Europa übernimmt rund die Hälfte der Baukosten; die verblei-
bende Summe teilen sich die anderen sechs Partner. Die Beiträge werden im
Wesentlichen in Form fertiger Bauteile geliefert, die in den jeweiligen Ländern
hergestellt und dann nach Cadarache geliefert werden.

Deutschland wird, seinem Anteil am EU-Haushalt entsprechend, in den nächs-
ten zehn Jahren über den EU-Haushalt mit etwa 500 bis 600 Mio. Euro zu den
Baukosten von ITER beitragen.

Bisher hat Deutschland erhebliche Vorleistungen für die Fusionsforschung
geleistet. Allein das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching (IPP),
eines der größten Fusionszentren in Europa, arbeitet mit seinem Experiment
ASDEX Upgrade seit Jahren an ITER-relevanten Fragen. Die physikalischen
Grundlagen für ITER wurden in wesentlichen Teilen im IPP entwickelt. Mit
seiner ITER-ähnlichen Geometrie wird ASDEX Upgrade auch in Zukunft eine
wichtige Rolle spielen, zum Beispiel bei der Suche nach optimierten Betriebs-
weisen für den Testreaktor. Daneben entwickelt das IPP Teile der Plasmahei-
zung von ITER sowie Analyseverfahren für das Plasma.

Die Forschungszentren Jülich und Karlsruhe, beides Zentren der Helmholtz-
Gemeinschaft (HGF), entwickeln und bauen wichtige Komponenten für ITER.
Sie bieten zudem die Möglichkeit, von der Grundlagenforschung bis hin zur

Technologieentwicklung interdisziplinär und international neue Wege zu be-
schreiten.

Drucksache 16/3650 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Das Forschungszentrum Jülich (FZJ) betreibt seit seiner Gründung im Jahr
1956 Plasma- und Fusionsforschung. Bereits früh hat es sich an den Konzept-
studien und Vorbereitungen für ITER beteiligt. So wurden unter seiner Feder-
führung die Materialien und das Design der inneren Kammerwand für ITER
gestaltet, die den hohen Temperaturen des 100 Mio. Grad heißen Plasmas
standhalten muss.

Das Forschungszentrum Karlsruhe (FZK) leistet einen herausragenden Beitrag
zur Grundlagenforschung und für technologische Entwicklungen für ITER und
DEMO. Das betrifft sowohl den Tritiumkreislauf, die Plasmaheizung, die
Supraleitung und Magnettechnologie, das Brutblanket, die ITER Test Blanket
Module, den heliumgekühlten Divertor sowie niedrig aktivierbare Struktur-
materialien und die Entwicklung der IFMIF-Testzelle.

Darüber hinaus haben deutsche Industrieunternehmen durch die Beteiligung an
der Entwicklung und dem Bau von Fusionsforschungsanlagen in Garching und
Greifswald ein Knowhow vorzuweisen, was weltweit einmalig ist. So haben
deutsche Unternehmen bereits bei der Entwicklung und dem Bau des deutschen
Fusionsexperiments WENDELSTEIN 7-X Technologien erproben können, die
beim Bau von ITER von erheblicher Bedeutung sein werden.

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