BT-Drucksache 16/3622

Justizpolitische Agenda für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007

Vom 29. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3622
16. Wahlperiode 29. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen,
Mechthild Dyckmans, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Ulrike Flach, Otto Fricke, Paul K.
Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß,
Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Birgit Homburger,
Dr. Werner Hoyer, Hellmut Königshaus, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz
Lanfermann, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Michael Link (Heilbronn), Markus
Löning, Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-
Sönksen, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz,
Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina Schuster, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max
Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Christoph Waitz,
Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Justizpolitische Agenda für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die europäische Integration war von Beginn an in der gemeinsamen Verpflich-
tung zur Freiheit verwurzelt, die auf Menschenrechten, demokratischen Institu-
tionen und Rechtsstaatlichkeit basiert. Dem Binnenmarkt als Raum ohne Bin-
nengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen
und Kapital gewährleistet ist, muss auch ein gemeinsamer Raum des Rechts
folgen. Die Bürger der Europäischen Union (EU) müssen ihr Recht auf Freiheit
unter sicheren und rechtsstaatlichen Bedingungen geltend machen können. Die
Bürger müssen in jedem Mitgliedstaat Zugang zu Gerichten und Behörden
haben wie in ihrem Heimatland.

Der am 1. Mai 1999 in Kraft getretene Vertrag von Amsterdam über die EU hat
bestimmt, dass die EU als ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
zu erhalten und weiterzuentwickeln ist. Der Europäische Rat hat 1999 in Tam-
pere ein Arbeitsprogramm vorgelegt, das bis 2004 umzusetzen war. In erster
Linie ging es dabei um eine weitgehende Rechtsangleichung, die Entwicklung
von Instrumenten auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerken-

nung von justiziellen Entscheidungen sowie die Verbesserung der Mechanismen
der justiziellen Zusammenarbeit. Im November 2004 hat der Europäische Rat
neue Ziele im Bereich der Freiheit, Sicherheit und des Rechts gesetzt und ein
neues Arbeitsprogramm (Haager Programm) für die Zeit von 2005 bis 2010
verabschiedet.

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– Bei der Kriminalitätsbekämpfung kann heute nicht mehr nur nationalstaatlich
gedacht werden. Die voranschreitende europäische Integration und die
Durchlässigkeit der Binnengrenzen eröffnen neue Chancen für Kriminalität.
Häufige Erscheinungsformen sind insbesondere Terrorismus, Menschenhan-
del, illegaler Drogen- und Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption und
Cyberkriminalität. Gerade die grenzüberschreitende Kriminalität erfordert
eine effektive Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und der Ermittlungsbe-
hörden. Kriminellen darf keine Gelegenheit gegeben werden, die Unter-
schiede in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten auszunutzen. Die Heraus-
forderungen der internationalen Kriminalität sind nur in einem einheitlichen
Rechtsraum zu bewältigen. Die Europäisierung der Rechtspolitik ist ein
wichtiger Baustein im Gesamtgefüge des zusammenwachsenden Europas.
An der Effizienz der Strafverfolgung und der Durchsetzung des Rechts zeigt
sich auch die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Die Bürgerinnen
und Bürger erwarten zu Recht, dass Europa eine bessere Antwort auf die an-
steigende internationale organisierte Kriminalität findet.

– Notwendig ist die Errichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft. Gerade
für den Bereich der grenzüberschreitenden Kriminalität ist eine europäische
Staatsanwaltschaft dringend geboten, da die Ermittlungsbehörden in den Mit-
gliedstaaten häufig den länderübergreifenden Charakter von Straftaten nicht
erfassen und dadurch eine umfassende Ermittlung unterbleibt. Um Straftäter,
die organisiert gezielt Schwachstellen im Rechtssystem der Europäischen
Gemeinschaft ausnutzten, auch nur annähernd erfolgreich bekämpfen zu kön-
nen, ist eine europäische Ermittlungsbehörde unabdingbar. Die europäische
Staatsanwaltschaft sollte eigene Ermittlungsbefugnisse in Verfahren der
Strafverfolgung haben. Sie soll mit Leitungsbefugnis gegenüber der europä-
ischen Polizei EUROPOL in der EU die Ermittlungen koordinieren. Der Aus-
bau der Rechtshilfe ist hierfür nicht ausreichend. Daher kann auch die weitere
Entwicklung von EUROJUST, welches ein Instrument der Rechtshilfe ist, die
Einrichtung einer europäischen Ermittlungsbehörde als Gemeinschaftsorgan
nicht ersetzen. EUROJUST sollte daher in der europäischen Staatsanwalt-
schaft aufgehen. Der europäische Staatsanwalt muss seine Ermittlungstätig-
keit unabhängig von jeder Einflussnahme auf europäischer und nationaler
Ebene ausüben können. Die justizielle und parlamentarische Kontrolle, die
Rechtstellung des betroffenen Bürgers und die Durchsetzung seiner Rechte
sind dabei klar zu regeln. Der Verfassungsvertrag hat die Errichtung einer
europäischen Staatsanwaltschaft vorgesehen.

– Als problematisch hat sich in der Praxis der Grundsatz der gegenseitigen An-
erkennung von justiziellen Entscheidungen erwiesen. Das Prinzip der gegen-
seitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen beinhaltet zwingend die
Anerkennung der generellen Regeln des Mitgliedstaates, auf denen diese
Entscheidungen beruhen. Sobald eine Entscheidung durch eine Justizbehörde
eines Mitgliedstaates ergangen ist, ist sie von den anderen Mitgliedstaaten
anzuerkennen und so schnell wie möglich und mit so wenig Kontrolle wie
möglich zu vollstrecken, als handele es sich um eine nationale Entscheidung.
Dies gilt auch und gerade für die Wertungen des materiellen Strafrechts. Das
Vertrauen in die Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates ist eine ent-
scheidende Voraussetzung dafür, dessen Rechtsakte anzuerkennen. Vertrauen
kann es aber nur dann geben, wenn die Grundsätze über straf- und strafver-
fahrensrechtliche Normen in den europäischen Mitgliedstaaten auf der
Grundlage gemeinsamer Rechtsstandards beruhen. Selbst Mindeststandards
für Beschuldigte im Strafverfahren gibt es derzeit innerhalb der EU nicht.

Der Rahmenbeschluss für einen Europäischen Haftbefehl war das erste
Instrument, mit dem der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung verwirk-

licht wurde. In 32 unbestimmt formulierten Deliktsgruppen wird zur Aus-
lieferung auf das Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtet mit der

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3622

Folge, dass aufgrund eines formulierten Auslieferungsersuchens ein Bürger
überstellt wird, auch wenn sein Verhalten in Deutschland nicht strafbar oder
die Höhe angedrohter Strafen sehr unterschiedlich ist. Der Verzicht auf die
Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit führt dazu, dass der Mitgliedstaat mit
dem punitivsten Strafrecht begünstigt wird. Eine vergleichbare Sachlage er-
gibt sich beim Vorschlag eines Rahmenbeschlusses des Rates über die Euro-
päische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und
Daten zur Verwendung in Strafverfahren. Auch die Europäische Beweisan-
ordnung führt zu einer gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidun-
gen innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU mit dem Ziel, die strafrechtliche
Beweisaufnahme innerhalb der Europäischen Union grenzüberschreitend zu
erleichtern, ohne dass es eine Vereinbarung von Mindeststandards in Straf-
verfahren in der Europäischen Union gibt.

Der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss zur Europäischen Vollstreckungs-
anordnung führt darüber hinaus ein neues Instrument ein, das auf Antrag des
Verfolgerstaates im Vollstreckungsstaat ohne Prüfung zu vollstrecken ist. Die
Rahmenbeschlüsse führen damit nicht zu einer Harmonisierung der nationa-
len Vorschriften, sondern lassen sie vielmehr unverändert nebeneinander be-
stehen. Damit zementiert das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung justi-
zieller Entscheidungen nationale Unterschiede, obwohl Rahmenbeschlüsse
gerade zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mit-
gliedstaaten vorgesehen sind. Mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerken-
nung werden die sehr unterschiedlichen Rechtsstandards und Rechtsgrund-
sätze in Strafverfahren in den europäischen Mitgliedstaaten als gleichwertig
behandelt, obwohl die Anforderungen z. B. an Beweisverfahren, Beweis-
erhebungen, Beweisverwertungen sehr unterschiedlich sind. Die gegen-
seitige Anerkennung von gemeinsamen Rechtsstandards auf niedrigstem
Niveau wird den gemeinsamen „Raum der Freiheit und des Rechts“ in sein
Gegenteil umkehren. Es ist daher bedenklich, wenn die EU-Kommission in
ihrer Mitteilung zur „Umsetzung des Haager Programms: weitere Schritte“
vorschlägt, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen
weiter auszubauen.

– Entscheidend im Kampf gegen Kriminalität und das organisierte Verbrechen
ist eine enge Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden in
der Europäischen Union. Darüber hinaus verfügt die EU mit EUROPOL,
EUROJUST und OLAF über eigene Behörden, deren Zuständigkeiten sich in
den vergangenen Jahren stetig erweitert haben. Das europäische justizielle
Netz und die Vernetzung der nationalen Strafregister sollen zudem der wir-
kungsvolleren und schnelleren Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kri-
minalität dienen. Diese weitgehenden Ermittlungskompetenzen auf der einen
Seite erfordern verfahrensrechtliche Mindeststandards zum Schutze der Bür-
ger auf der anderen Seite. Es ist ein Ungleichgewicht dadurch entstanden,
dass eine Verständigung bislang immer nur über die Errichtung von Ermitt-
lungsbehörden und den Ausbau von Kompetenzen zur Strafverfolgung er-
folgt ist, nicht aber in gleichem Maße über die Rechte von Beschuldigten und
den Ausbau von Verfahrensgarantien. Die Europäisierung des Strafrechts ist
in Teilen weit fortgeschritten. Eine Angleichung beim Menschenhandel und
bei den Vorschriften über terroristische Vereinigungen ist bereits erfolgt. Die
Vereinheitlichung des Strafverfahrens in Europa ist dagegen erst am Beginn
des Prozesses. Da die justizielle Zusammenarbeit in Europa ihren Schwer-
punkt immer mehr auf die präventive Verbrechensbekämpfung und die Straf-
verfolgung im Bereich der grenzüberschreitenden Kriminalität verlagert, ge-
raten die Rechte der Beschuldigten immer weiter aus dem Blick. Eine Ver-
ständigung auf einheitliche Verfahrensgarantien ist daher dringender denn je.

Auch das Europäische Parlament hat im April 2006 dem Rat zur Bewertung
des Europäischen Haftbefehls empfohlen, schnellstmöglich den Vorschlag

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für einen Rahmenbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfah-
ren anzunehmen. Diese Maßnahme sei von wesentlicher Bedeutung, um für
die Bürger der EU einen einheitlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Die
Sicherstellung von wesentlichen anerkannten Verfahrensrechten, wie die
Unschuldsvermutung, das Recht auf rechtliches Gehör, das Recht auf Vertei-
digung, das Schweigerecht sowie das Recht eines jeden Bürgers im Ermitt-
lungsverfahren über seine Rechte informiert zu werden, muss daher euro-
paweit garantiert werden. Diese Verfahrensgarantien müssen prozessual
abgesichert und gerichtlich überprüfbar sein. Der Rahmenbeschluss wäre da-
mit eine ideale Ergänzung zur Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK). Die EMRK enthält verfahrensrechtliche Mindeststandards, an die
alle EU-Mitgliedstaaten gebunden sind. Dem Europäischen Gerichtshof
(EuGH) für Menschenrechte (EGMR) kommt bereits heute für den europäi-
schen Grundrechteschutz eine entscheidende Rolle zu. Die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs hat in den vergangenen Jahren immer mehr
Grundsätze für das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht entwickelt, die
sich unmittelbar aus der EMRK ergeben. Der EuGH bezieht sich in seinen
Urteilen zunehmend auf die EMRK. Artikel 6 Abs. 2 EUV sieht daher auch
vor, dass die Europäische Union die Grundrechte, wie sie in der EMRK ge-
währleistet sind, achtet. Es ist dennoch nicht ausreichend, es bei dem Schutz
durch den EGMR zu belassen. Die Urteile des EGMR binden nur die betei-
ligten Parteien des Verfahrens. Sie betreffen daher nur den Einzelfall. Die
Wirkungen der Rechtsprechung des EGMR sind damit begrenzt. Das Gericht
kann nur den Menschenrechtsverstoß feststellen und ggf. auf einen Strafaus-
spruch gegen den Ursprungsstaat erkennen. Eine kassatorische Befugnis fehlt
dem EGMR. Eine Aufhebung innerstaatlicher Gesetze oder Rechtsakte fällt
nicht in seine Zuständigkeit. Problematisch ist auch die mangelnde Transpa-
renz der Urteile des EGMR. Selbst vielen Rechtsanwälten sind die Entschei-
dungen nicht bekannt. Zudem ist der Europäische Gerichtshof in hohem
Maße überlastet und bedarf dringend einer Struktur- und Organisations-
reform. Häufig vergehen mehrere Jahre bis ein Urteil ergeht. Der Vorteil des
EuGH liegt darin, dass das Gericht bereits auf dem Wege einer Vorab-
entscheidung während des laufenden Verfahrens angerufen werden kann. Be-
vor der EGMR angerufen werden kann, muss der innerstaatliche Rechtsweg
vollständig ausgeschöpft werden. Im Gegensatz zu den Entscheidungen des
EGMR liegen die Urteile des EuGH in der jeweiligen Amtssprache vor und
erhöhen so die Aufmerksamkeit und Akzeptanz. Die Verständigung auf
gleichwertige Standards in Strafverfahren innerhalb der EU parallel zu den
Grundrechten aus der EMRK stellt daher eine erhebliche Stärkung der Bür-
gerrechte dar und sichert die Rechtsstaatlichkeit der Strafverfahren innerhalb
der EU. Dabei wäre es wünschenswert, wenn die in dem Rahmenbeschluss
beschriebenen Rechte über bloße Mindeststandards hinausgehen würden.
Eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner wäre nicht geeignet,
das Vertrauen in die Verfahrensordnungen der Mitgliedstaaten zu sichern.
Die EMRK schließt weitergehende, über den Mindeststandard hinausge-
hende Rechte ausdrücklich nicht aus.

– Zweifel bestehen an der demokratischen Legitimierung von Rahmenbe-
schlüssen, die aufgrund der Kompetenznormen der dritten Säule erlassen
wurden. Die EU hat hier keine eigene Kompetenz zur Rechtsetzung. Sie kann
nur Rahmenbeschlüsse erlassen, die für die Mitgliedstaaten verbindliche
Ziele festlegen. Diese unterliegen also nicht der Gemeinschaftsmethode, son-
dern sie sind vielmehr Ergebnis der Zusammenarbeit der einzelnen Regierun-
gen der Mitgliedstaaten. Es gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Das Europäische
Parlament hat lediglich ein Anhörungsrecht, für viele nationale Parlamente
besteht kein Parlamentsvorbehalt. Damit werden die Bürger eines Mitglied-

staates den verschiedenen materiell- und verfahrensrechtlichen Strafrechts-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/3622

normen unterworfen, an deren Zustandekommen sie weder als europäische
noch als nationale Wahlbürger beteiligt sind. Zwar obliegt den nationalen
Parlamenten die Umsetzung der Rahmenbeschlüsse in nationales Recht. Die
Parlamente sind dabei aber eng an die Vorgaben der Rahmenbeschlüsse ge-
bunden. Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofes zeigen zudem, dass zunehmend von einer unmittelbaren Wirkung von
Rahmenbebschlüssen ausgegangen wird. Behörden und Gerichte haben sich
bei der Auslegung von nationalem Recht so weit wie möglich am Wortlaut
und am Zweck der Rahmenbeschlüsse auszurichten, so das Gericht (EuGH
vom 16. Juni 2005, Rs C-105/3).

Bisher besteht eine Gemeinschaftskompetenz für das Strafrecht, die eine
Mitentscheidungskompetenz für das Europäische Parlament bedeuten würde,
nach Auffassung des EuGH nur dann, wenn die Strafvorschriften explizit auf
die Umsetzung anderer Gemeinschaftsziele (z. B. Umweltschutz) zuge-
schnitten sind (EuGH vom 13. September 2005, Rs C-176/03). Der europäi-
sche Verfassungsvertrag hätte im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit zu
einer Stärkung von legislativen Entscheidungen geführt. Der Verfassungsver-
trag sieht u. a. vor, dass die Kompetenzen der europäischen Institutionen auf
den Gebieten des Strafrechts und Polizeirechts den vergemeinschafteten Or-
ganisationsformen der ersten Säule angenähert werden. Die Gemeinschafts-
struktur würde die Beschlussfähigkeit innerhalb der EU verbessern und
Durchsetzungsdefizite abbauen. Zudem sieht der Vertrag weitgehende Betei-
ligungsrechte des Europäischen Parlaments und die Stärkung der gericht-
lichen Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof vor. Die erweiterten
Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments führen zu einer größeren
demokratischen Legitimation des Rechtsetzungsverfahrens.

– Erst wenn eine Verständigung über Beschuldigtenrechte im Strafverfahren
innerhalb der EU erreicht ist, kann der Austausch von Beweisanordnungen,
Haftbefehlen, Vernehmungen und Urteilen auf einer gesicherten rechtsstaat-
lichen Grundlage erfolgen. Erst die Garantie von verbindlichen Verfahrens-
rechten schafft das notwendige Vertrauen innerhalb der EU für den Aus-
tausch und die gegenseitige Anerkennung von justiziellen Entscheidungen.
Die Grünbücher der EU-Kommission zur Unschuldsvermutung und zum
Grundsatz „ne bis in idem“ sowie der Kommissionsvorschlag für einen Rah-
menbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren sind dabei
Schritte in die richtige Richtung. Die EU-Ratspräsidentschaft der Bundes-
republik Deutschland für das erste Halbjahr 2007 bietet die große Chance,
Europa weiter auszubauen zu einem einheitlichen Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts. Europa muss zu einem Europa der Bürger werden.
Dazu müssen die Bürgerrechte gestärkt, die justizielle Zusammenarbeit bür-
gernah und transparent gestaltet und die Zusammenarbeit der Ermittlungs-
und Strafverfolgungsbehörden auf sichere Rechtsgrundlagen gestellt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich während der EU-Ratspräsidentschaft 2007 für einheitliche Standards im
Strafverfahren zur Stärkung der Rechte von Beschuldigten einzusetzen. Dazu
müssen zwingend die Unschuldsvermutung, das Recht auf rechtliches Gehör,
das Recht auf Verteidigung, das Schweigerecht sowie die prozessuale Absi-
cherung von verfahrensrechtlichen Garantien gehören. Die Standards, die die
EMRK gesetzt hat, dürfen dabei nicht unterschritten werden. Es darf keine
Länderöffnungsklauseln geben, mit denen die Mitgliedsländer Bezug neh-
men können auf ihr nationales Recht und so die mit dem Rahmenbeschluss
genannten Standards unterlaufen können;
2. den weiteren Ausbau des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von
justiziellen Entscheidungen in Strafsachen nur unter zeitlicher Zusammen-

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führung aller anhängigen Rahmenbeschlüsse im Bereich des Straf- und Straf-
prozessrechts vorzunehmen; insbesondere sollte der Rahmenbeschluss über
Verfahrensrechte im Strafverfahren zeitgleich verabschiedet werden;

3. sich für die Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft einzusetzen, die
koordinierende und kontrollierende Funktionen für OLAF und EUROPOL
haben soll. Die Zuständigkeit der europäischen Staatsanwaltschaft muss sich
über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft hinaus auf alle
Formern schwerer grenzüberschreitender Kriminalität erstrecken. EURO-
JUST soll in der europäischen Staatsanwaltschaft aufgehen. Das europäische
Parlament übt die Kontrolle über die europäische Staatsanwaltschaft aus;

4. sich dafür einzusetzen, dass EUROPOL eigene Ermittlungskompetenzen be-
kommt. Die europäische Staatsanwaltschaft übt die Sachleitungskompetenz
aus. Die Verantwortlichen von EUROPOL müssen öffentliche Rechen-
schaftsberichte über ihre Tätigkeit vor dem Europäischen Parlament ablegen;

5. bei den Verhandlungen über eine europäische Verfassung sicherzustellen,
dass die Strafverfolgung Aufgabe der Justiz und der von ihr kontrollierten
Polizei ist. Polizeiliche und strafrechtliche Ermittlungen dürfen auch in Zei-
ten des internationalen Terrorismus nicht durch Militär und Geheimdienste
erfolgen.

Berlin, den 29. November 2006

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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