BT-Drucksache 16/3402

Für eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frieden sichernde Verfassung der Europäischen Union

Vom 8. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3402
16. Wahlperiode 08. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Diether Dehm,
Alexander Ulrich, Dr. Hakki Keskin, Hüseyin-Kenan Aydin, Wolfgang Gehrcke,
Inge Höger-Neuling, Katrin Kunert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln),
Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Für eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frieden sichernde Verfassung
der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die europäische Integration im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften
und später der Europäischen Union hat den Völkern der daran beteiligten
Staaten nach dem 2. Weltkrieg stabile Friedensbeziehungen gebracht. Zwi-
schen jahrhundertelang verfeindeten Staaten wurde Frieden gestiftet. Kriege
zwischen Mitgliedern der EU erscheinen ausgeschlossen. Der freie Waren-
verkehr bei offenen Grenzen brachte spürbare Erleichterungen für die Bür-
gerinnen und Bürger. Von der EU gingen Impulse zur Gleichstellung von
Frauen und Männern, zum Schutz vor Diskriminierung und allgemein zur
Sicherung von Grundrechten aus. Zugleich entstand ein Europa der Kon-
zerne, in denen der Profit oberstes Prinzip ist. In diesem Europa spielten
soziale und ökologische Ziele von Anfang an eine untergeordnete Rolle. Seit
der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 und verstärkt seit dem Vertrag von
Maastricht 1992 verfolgt die EU den fatalen Kurs eines neoliberalen Markt-
Rigorismus, der zu Massenarbeitslosigkeit, zum Schrumpfen der Wachs-
tumsraten und zu sozialem Abbau führt. Nach 1990 vollzog sich die Erwei-
terung der EU auf 25 und mehr Mitglieder. Dies wird zu einem zunehmenden
Lohn- und Sozialdumping missbraucht. Dafür steht die Dienstleistungsricht-
linie. Seit Maastricht beschritt die EU einen gefährlichen Weg der Milita-
risierung der Außen- und Sicherheitspolitik. Dafür stehen der Aufbau der
sog. Battlegroups, der bewaffnete Einsatz in Bosnien-Herzegowina und die
Errichtung einer Rüstungsagentur. In Brüssel verselbständigte sich eine für
die Bürgerinnen und Bürger undurchschaubare EU-Bürokratie. Die Abläufe
im Europäischen Rat, im Ministerrat und in der Kommission sind von funk-
tionierender Demokratie weit entfernt und entbehren jeglicher Nähe zu Bür-
gerinnen und Bürgern. Die demokratischen Funktionen des Europäischen
Parlaments und seine Rechte und Befugnisse sind unzureichend. So wurden

viele Bürgerinnen und Bürger immer mehr der EU entfremdet, bekamen
Angst davor, was aus der EU auf sie zukommt. Es verstärkten sich Miss-
trauen und sogar Ablehnung gegenüber der Europäischen Union.

2. Der von den Regierungen vorgelegte Verfassungsvertrag vom 29. Oktober
2004 hat diese Angst nicht zerstreut, sondern verstärkt. Dieser Vertrag steht
für Stillstand und verfestigt Fehlentwicklungen. Er wird dem Streben der

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Bürgerinnen und Bürger der EU nach einem friedlichen, demokratischen und
sozialen Europa nicht gerecht. Er leidet an drei Übeln. Erstens wird das De-
fizit der Europäischen Union an Demokratie und Bürgerbeteiligung nicht be-
seitigt, sondern fortgeschrieben. Zweitens verpflichtet er die Wirtschafts- und
Währungspolitik der EU auf den neoliberalen „Grundsatz einer offenen
Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Artikel III-177, 178 und 185), be-
günstigt EU-weiten Sozialabbau und verweigert eine Sozialunion. Drittens
erhebt er Militarisierung und Rüstungspflicht in einen Verfassungsrang. Der
Vertrag wurde durch die ablehnenden Volksabstimmungen in Frankreich und
den Niederlanden zum Scheitern gebracht. In weiteren Mitgliedstaaten, die
den Ratifikationsprozess abgebrochen haben, ist eine Ablehnung zu erwar-
ten. Damit wird das Erfordernis der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten
der EU verfehlt. Versuche, den abgelehnten Verfassungsvertrag wieder zu be-
leben, sind juristisch zweifelhaft, moralisch unzulässig und politisch verfehlt.
Es ist ein Neuanfang auf einem konsequent demokratischen Weg notwendig.

3. Von der Bundesregierung wird während ihrer Ratspräsidentschaft im ersten
Halbjahr 2007 nach den Schlussfolgerungen des Vorsitzes aus der Sitzung
des Europäischen Rates vom 15./16. Juni 2006 erwartet, mögliche künftige
Entwicklungen aufzuzeigen. Der Europäische Rat will dann den Bericht des
deutschen Vorsitzes „prüfen“ und im Ergebnis beschließen, „wie der Reform-
prozess fortgesetzt werden soll, wobei die diesbezüglich erforderlichen
Schritte spätestens im zweiten Halbjahr 2008 unternommen werden müssen“.
Die Bundesregierung trägt damit eine hohe Verantwortung für den Verfas-
sungsprozess. Sie muss bei ihren diesbezüglichen Vorschlägen die geänder-
ten Umstände berücksichtigen und darf nicht einfach an dem gescheiterten
Verfassungsvertrag festhalten. Sie muss neue Ideen entwickeln, die auch den
Vorstellungen und Forderungen derjenigen entgegenkommen, die den vor-
liegenden Verfassungsvertrag ablehnen oder nicht für zureichend halten.
Dem könnte formal der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 12. Mai
2005 über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004
über eine Verfassung für Europa entgegenstehen, weil er die Handlungs-
freiheit der Bundesregierung bei der Suche nach alternativen Vorschlägen
beschränkte. Der Bundespräsident hat aber das Gesetz mit Rücksicht auf aus-
stehende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht ausgefertigt
und damit das Ratifikationsverfahren unterbrochen. Der Beschluss des Deut-
schen Bundestages ist auch wegen der ablehnenden Volksentscheide in den
Niederlanden und in Frankreich als überholt zu betrachten.

II. Der Deutsche Bundestag tritt für die Weiterführung der europäischen Inte-
gration durch einen neuen Vertrag über eine Verfassung der Europäischen Union
ein und schlägt die Aufnahme folgender Grundsatzregelungen in einen alterna-
tiven Verfassungsvertrag vor:

1. Durch den Verfassungsvertrag wird die Europäische Union als ein demokra-
tischer politischer, ökonomischer, sozialer und ökologischer Verbund staat-
lich organisierter Völker konstituiert. Zu seinen unabänderlichen Grundätzen
muss neben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gleichrangig die Sozialstaat-
lichkeit gehören. Die Verfassung schafft keinen europäischen Superstaat. Die
Mitgliedstaaten behalten einen Grundbestand souveräner Rechte. Die Verfas-
sung ist auf Frieden und Wohlergehen der Völker, der europäischen wie aller
anderen, gerichtet. Zu diesem Zweck sind Zuständigkeiten an die Organe der
Europäischen Union zu übertragen. Die Verfassung legt ein ausgewogenes
Verhältnis zwischen Verantwortung der Europäischen Union einerseits und
der Mitgliedstaaten andererseits fest. Die Zuständigkeiten der Europäischen
Union sind durch deren Ziele und durch die Grundsätze der Einzelermächti-

gung und der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bestimmt und begrenzt.
Das Subsidiaritätsprinzip ist verfassungsrechtlich zwingender auszugestal-

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ten, damit die nationalen Parlamente seine Einhaltung wirksam kontrollieren
können. Die EU hat diejenigen Kompetenzen, die zur Erreichung ihrer Ziele
notwendig sind und die ihr von den Mitgliedstaaten übertragen wurden.

2. Die Verfassung verankert demokratische Grundsätze für die Arbeit der
Unionsorgane. Sie stärkt die Befugnisse des Europäischen Parlaments durch
das Recht auf Gesetzesinitiative und auf Mitentscheidung und Mitsprache in
allen Bereichen der Tätigkeit der Europäischen Union. Das Europäische Par-
lament soll zukünftig nach einem EU-weit einheitlichen Gesetz nach dem
Verhältniswahlrecht gewählt werden. Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger
mit ständigem Wohnsitz in der EU sind wahlberechtigt. Das Beschluss-
verfahren im Europäischen Rat und im Ministerrat muss die Integration auf
gleichberechtigter, demokratischer und solidarischer Grundlage befördern.
Die qualifizierte Mehrheit, bestehend aus der Mehrheit der Bevölkerung der
EU und der Mehrheit der Mitgliedstaaten, muss neu definiert werden. Sie soll
den demografischen Faktor zwar beachten, aber nicht überbetonen und aus-
gewogene Regelungen zum Schutz von Minderheiten enthalten.

3. Die EU ist den politischen und sozialen Menschenrechten gleichermaßen
verpflichtet. Die bislang rechtlich nicht verbindliche Charta der Grundrechte
muss präzisiert und ergänzt, vor allem durch Ausgestaltung der sozialen
Rechte, durch Aufnahme in den Verfassungsvertrag verbindlich und im Wege
der Verfassungsbeschwerde kostenfrei vor einem zu schaffenden Euro-
päischen Verfassungsgericht einklagbar gemacht werden. Das Recht auf
menschenwürdige und existenzsichernde Arbeit und das Recht auf soziale
Sicherheit, einschließlich des Rechts auf Schutz vor Armut und sozialer
Ausgrenzung, ist ohne einschränkende Kautelen zu gewährleisten. Zu den
Werten und Zielen der Europäischen Union gehören Diskriminierungsver-
bote und die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen. In die
Gewährleistung des Eigentumsrechts ist die Klausel aufzunehmen: „Eigen-
tum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit
dienen. Insbesondere müssen die Verfügung über das Eigentum und seine
Nutzung sozialen Belangen und dem Umweltschutz entsprechen.“ Im Artikel
über das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen muss
klargestellt werden, dass auch das Recht zum politischen Streik, einschließ-
lich Generalstreik, erfasst ist.

4. Die Verfassung verpflichtet die Organe der Gemeinschaft und die Mitglied-
staaten zur Förderung von Wohlfahrt und Wohlstand. Mit diesem Ziel sind
Wirtschafts-, Finanz-, Budget-, Steuer-, Währungs- und Außenwirtschaftspo-
litik so abzustimmen, dass sie bei stetigem und angemessenem qualitativem
Wirtschaftswachstum und bei Einhaltung strenger ökologischer Kriterien zu-
gleich zu Vollbeschäftigung, Stabilität des Preisniveaus und außenwirtschaft-
lichem Gleichgewicht der Europäischen Union beitragen. Einseitige interes-
sengeleitete Paradigmen des Zeitgeistes, wie die offene Marktwirtschaft mit
freiem Wettbewerb haben keinen Verfassungsrang. Die Verfassung muss
wirtschaftspolitisch neutral und gegenüber einer gemischt-wirtschaftlichen
Ordnung mit privaten, gemeinwirtschaftlichen und öffentlichen Unterneh-
men offen sein. Die Verfassung muss ein eigenes Kapitel über eine zu schaf-
fende Sozialunion enthalten, in der menschenwürdige und existenzsichernde
Arbeitsplätze, eine Angleichung auskömmlicher sozialer Standards auf
hohem Niveau angestrebt und ein Wettlauf mit Lohn- und Sozialdumping
verhindert wird. Öffentliche Daseinsvorsorge durch die Mitglied-staaten ist
zu gewährleisten.

5. Die Verfassung soll die EU als einen Raum der Freiheit und des Rechts ge-
stalten, in dem Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in allen

Mitgliedstaaten gewährleistet sind, und in dem volle Bewegungsfreiheit
ohne Grenzkontrollen und gleicher Rechtsschutz für alle EU-Bürgerinnen

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und -Bürger gilt. Zugleich ist dieser Raum offen für Asylsuchende, Men-
schen in Not und für Migrantinnen und Migranten. Zur Stärkung der demo-
kratischen Kultur in der Europäischen Union wird ein dreistufiges Verfahren
der Volksgesetzgebung mit Bürgerinitiative, Bürgerbegehren und Volksent-
scheid entwickelt, das nicht durch schwer überwindbare Hürden ausgehebelt
werden kann.

6. In der Verfassung wird der zivile und nichtmilitärische Charakter der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union fest-
geschrieben. Die Europäische Union tritt für die Demokratisierung und
Stärkung der Vereinten Nationen ein und achtet deren Charta. Sie verfolgt
ihre Ziele mit friedlichen zivilen Mitteln. Dazu wird ein ziviler europäischer
Friedensdienst aufgebaut. Der Aufbau eigener europäischer Streitkräfte kann
solange nicht einmal erwogen werden, wie nationale Streitkräfte nicht zeit-
gleich abgeschafft und die europäischen Streitkräfte nicht ausschließlich der
Selbstverteidigung dienen und einem strikten Aggressionsverbot unterliegen.
Die EU fördert die Abrüstung auf allen Gebieten. Die Europäische Vertei-
digungsagentur wird in eine Agentur für Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Konversion umgewandelt.

7. Ein alternativer Verfassungsvertrag kann nur auf einem konsequent demokra-
tischen Weg und unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker
und der souveränen Gleichheit der Staaten zustande kommen. Ein solcher
Weg kann die Bildung einer verfassunggebenden Versammlung sein, die aus
zwei Kammern besteht. Die erste Kammer setzt sich aus Abgeordneten zu-
sammen, die in den Mitgliedstaaten am selben Tag nach dem Wahlrecht zum
Europäischen Parlament direkt gewählt werden. Es wäre auch möglich, dass
sich das 2009 zu wählende Europäische Parlament zusätzlich als erste Kam-
mer konstituiert. Die zweite Kammer besteht aus Vertreterinnen und Vertre-
tern der Regierungen und der Parlamente der Mitgliedstaaten nach dem Prin-
zip der Gleichheit der Staaten. Der Text des Verfassungsvertrages wird unter
breiter Teilnahme der Öffentlichkeit ausgearbeitet. Alle Bürgerinnen und
Bürger erhalten den vollständigen Text. Es findet in allen Mitgliedstaaten am
selben Tag nach denselben Regeln eine Volksabstimmung über den Text statt.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, während ihrer
Ratspräsidentschaft die Initiative für einen alternativen Verfassungsvertrag zu
ergreifen, und dabei diese Vorschläge in ihren eigenen Überlegungen zur Fort-
führung des Verfassungsprozesses und in ihren Vorschlägen an die anderen
Mitgliedstaaten der EU zu berücksichtigen.

IV. Der Deutsche Bundestag beschließt, seinen Beschluss vom 12. Mai 2005
über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über
eine Verfassung für Europa als erledigt aufzuheben und bittet den Präsidenten
des Deutschen Bundestages, diesen Beschluss unverzüglich dem Bundesrat
zuzuleiten, damit dieser die entsprechenden verfassungsrechtlich gebotenen
Folgerungen ziehen kann.

Berlin, den 8. November 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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