BT-Drucksache 16/3281

Hochschulpakt 2020 zum Erfolg bringen - Studienplätze bedarfsgerecht und zügig ausbauen

Vom 8. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3281
16. Wahlperiode 08. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), Grietje
Bettin, Ekin Deligöz, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Hochschulpakt 2020 zum Erfolg bringen – Studienplätze bedarfsgerecht und zügig
ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Hochschulpolitik steht derzeit vor einer einzigartigen Chance und Heraus-
forderung: Die Zahl der jungen Menschen, die ein Studium anstreben, steigt in
den kommenden Jahren in bislang ungekanntem Ausmaß. Den Prognosen der
Kultusministerkonferenz (KMK) zufolge ist damit zu rechnen, dass in den
nächsten 15 Jahren bis zu einem Viertel mehr Abiturienten ein Hochschulstu-
dium aufnehmen werden als bisher. Auf der Basis der KMK-Prognose rechnet
das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt 90 000 zu-
sätzlichen Studienanfängern zwischen 2007 und 2010 sowie weiteren 120 000
zusätzlichen Studienanfängern in den Jahren von 2011 bis 2013. Unter der
Voraussetzung, dass ausreichende Kapazitäten an den Hochschulen geschaffen
würden, stiege die Zahl der Studierenden dadurch um bis zu 700 000 an.

Drei Faktoren sind für den Anstieg der Studienberechtigtenzahlen ursächlich:
Erstens beenden in den kommenden Jahren in vielen Bundesländern geburten-
starke Jahrgänge die Sekundarstufe II. Zweitens wirkt sich die Umstellung auf
das achtjährige Gymnasium massiv aus, denn zwischen 2010 und 2014 strömen
in fast allen Ländern jeweils zwei Abschlussjahrgänge gleichzeitig an die Hoch-
schulen. Und drittens steigt die Übergangsquote von Schule zu Hochschule kon-
tinuierlich. Zwar vollziehen sich diese Entwicklungen regional unterschiedlich
– so sind etwa in den neuen Ländern aufgrund des Geburtenrückgangs ab 2008
sogar sinkende Studienberechtigtenzahlen zu erwarten. An dem bundesweiten
massiven Zuwachs an Studierwilligen ändert dies jedoch nichts, weil in west-
deutschen Flächenländern ein starker Anstieg der Studienberechtigten bevor-
steht. Angesichts dieser Entwicklungen müssen dringend die Voraussetzungen
dafür geschaffen werden, allen Studierwilligen einen Studienplatz zur Verfü-
gung zu stellen.

Der bedarfsgerechte Ausbau unserer Hochschulen ist eine zentrale Frage von

Zugangsgerechtigkeit. Eine gleich bleibende Anzahl an Studienplätzen bei stark
steigenden Bewerberzahlen zieht nahezu unüberwindbare Zugangsbarrieren für
viele Studierwillige nach sich. Schon jetzt zeigen der deutliche Anstieg von lo-
kalen Numeri Clausi (NCs) und die Einführung von Studiengebühren ihre stark
nachteilige Wirkung. Fehlende Studienplätze und hohe Zugangshürden würden
die freie Studien- und Berufswahl stark einschränken. Zudem würden zehntau-
sende Abiturienten ohne Studienplatz auf den ohnehin stark angespannten Aus-

Drucksache 16/3281 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

bildungsmarkt drängen. Leidtragende dieser Verdrängungseffekte wären die
Real- und Hauptschulabsolventen.

Daneben ist der bedarfsgerechte Ausbau der Studienplatzkapazitäten arbeits-
markt- und wirtschaftspolitisch geboten, um dem drohenden Fachkräftemangel
vorzubeugen. In einer zunehmend wissensbasierten Ökonomie sind Bildung und
eine ausreichende Zahl exzellent ausgebildeter Menschen der Garant für den Er-
halt von materiellem Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit. Gerade auch auf-
grund des demografischen Wandels müssen wir alle vorhandenen Bildungs-
potenziale voll ausschöpfen. Es ist davon auszugehen, dass im nächsten Jahr-
zehnt annähernd 80 Prozent der neu geschaffenen Arbeitsplätze nur mit Hoch-
qualifizierten besetzt werden können. Um diesem wachsenden Bedarf gerecht
zu werden, müssen wir die Studierenden- und Absolventenquoten steigern und
die Studienabbrecherquote senken. Hinzu kommt, dass in den nächsten Jahren
zahlreiche gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Berufsleben ausscheiden und
durch zusätzliche Hochschulabsolventen ersetzt werden müssen. Schon jetzt
liegt Deutschland in Bezug auf die Zugangs- und Abschlussquoten im Bereich
der tertiären Bildung weit unter dem OECD-Durchschnitt. Die Schaffung zu-
sätzlicher Studienplatzkapazitäten bzw. deren Erhalt in Bundesländern, deren
eigene Nachfrage sinken wird, ist daher eine äußerst lohnende Zukunftsinves-
tition. Teurer als Hochschulbildung zu finanzieren ist es mittelfristig für Staat,
Wirtschaft und Gesellschaft, Hochschulbildung nicht zu finanzieren.

Der prognostizierte Anstieg der Studierwilligen ist daher keine Belastung, son-
dern eine einmalige Chance und positive Entwicklung. Es ist Aufgabe der Poli-
tik, die Entwicklung zu einer höheren Beteiligung an akademischer Bildung
langfristig aufrechtzuerhalten – auch dann, wenn die Zahl der Schüler demogra-
fisch bedingt im gesamten Bundesgebiet wieder zurückgeht. Hierzu sind sowohl
die Abiturientenquote als auch die Übergangsquote von der Schule in den Be-
reich der tertiären Bildung nachhaltig zu steigern. Die Zahl der Studienabbrüche
muss hingegen deutlich gesenkt werden. Ziel muss es sein, die Studienanfänger-
quoten in Deutschland auf mindestens 40 Prozent und die Absolventenquote auf
mindestens 35 Prozent eines Jahrgangs zu steigern und sie damit dem inter-
nationalen Durchschnitt hoher Qualifizierung anzunähern.

Das schmale Zeitfenster für eine zukunftsfähige Hochschulpolitik mit der
Schaffung der erforderlichen Studienplätze muss jetzt genutzt werden. Bund
und Länder müssen einen Hochschulpakt 2020 vereinbaren, dessen finanzieller
und konzeptioneller Schwerpunkt der schnelle und nachhaltige bedarfsgerechte
Ausbau der Studienplatzkapazitäten an den Hochschulen ist.

Das zentrale Ziel des Kapazitätsausbaus ist jedoch stark gefährdet. Dies zeigt die
bisherige Ergebnislosigkeit der Hochschulpaktverhandlungen von Bund und
Ländern. Am Verhandlungsverhalten der Länder wird deutlich, dass sie ihrem
bei der Föderalismusreform durchgesetzten Zuwachs an Verantwortung nicht
gerecht werden. Bislang scheinen die Länder nicht in der Lage, über ihre Ein-
zelinteressen hinweg gemeinsame Lösungen zu finden, die tatsächlich zu deut-
lich mehr Studienplätzen führen. Hier sind dringend mehr Weitblick und ein
zügiger Interessenausgleich notwendig.

Auch auf Bundesseite dominiert kurzsichtige Engstirnigkeit die Hochschulpakt-
verhandlungen. Bei der Föderalismusreform befürwortete die Bundesministerin
für Bildung und Forschung ein vollständiges hochschulpolitisches Koopera-
tionsverbot von Bund und Ländern. Dementsprechend vertrat sie monatelang
die Auffassung, es sei nicht Aufgabe des Bundes, die Länder beim Kapazitäts-
ausbau zu unterstützen. Der Bundesbeitrag zum Hochschulpakt 2020 sollte der
Bundesregierung zufolge allein der Forschungsförderung dienen. Nach Ab-
schluss der Föderalismusreform ohne Kooperationsverbot bei der Wissen-

schaftsförderung ließ sich die Bundesministerin nur zögerlich darauf ein, den
verbliebenen hochschulpolitischen Gestaltungsspielraum des Bundes zu nutzen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3281

und den Aufbau von Studienplätzen zum Gegenstand des Bundesangebots zum
Hochschulpakt 2020 zu machen.

Doch auch im vorliegenden Angebot des Bundes zum Hochschulpakt 2020 steht
der Ausbau von Studienplätzen im Hintergrund: Von den bis 2010 eingeplanten
knapp 1,3 Mrd. Euro sind deutlich weniger als die Hälfte der Mittel für die
Schaffung von Studienplätzen vorgesehen. Damit bleibt die Offerte der Bundes-
regierung weit hinter den Bedarfsrechnungen des Wissenschaftsrates oder der
Hochschulrektorenkonferenz zurück. Selbst wenn die Länder das Bundesange-
bot in gleicher Höhe ergänzen, ist der Hochschulpakt 2020 in punkto Studien-
platzaufbau klar unterfinanziert. Ein kraftvoller Aufbruch in die Wissensgesell-
schaft sieht anders aus.

Auch die zeitliche Beschränkung der Finanzierungszusagen bis 2010 wird der
anstehenden Herausforderung nicht gerecht. Denn der Spitzenbedarf an zusätz-
lichen Studienplätzen entsteht erst ab 2011. Bloße Absichtserklärungen für den
Zeitraum bis 2020 reichen nicht aus. Die Prognosedaten sind eindeutig genug
für konkrete Investitionszusagen. Auch der Beginn der Förderung ist falsch ge-
setzt: Die Zahl der Studienberechtigten steigt bereits jetzt. Trotzdem soll nach
dem Willen der Bundesregierung die Förderung neuer Studienplätze erst zum
Wintersemester 2007/2008 beginnen. Die Lücke zwischen Studienplatzangebot
und Kapazitätsbedarf und das entsprechende Finanzierungsdefizit werden durch
die weitere Verzögerung immer größer.

Das Gelingen des Hochschulpakts 2020 hängt nicht allein vom Finanzvolumen
ab. Die Bundesregierung darf nicht einfach Geld auf den Tisch legen, die Ver-
teilung aber ohne jede Bedingung den Ländern überlassen. Stattdessen muss sie
sich in den Verhandlungen für das gesamtstaatliche Interesse einsetzen. Eine
strategische Verhandlungsführung des Bundes ist essentiell dafür, das Kapazi-
tätsausbauziel zu erreichen. Auch für qualitativ-strukturelle Reformen im Rah-
men des Hochschulpakts 2020 hat die Bundesregierung die gesamtstaatliche
Verantwortung. Dazu gehören insbesondere die Frauenförderung und die Ent-
wicklung neuer Personalstrukturen einschließlich einer Fortsetzung der Junior-
professur. Die Bundesregierung muss endlich klare quantitative und qualitative
Leitlinien für den Hochschulpakt 2020 formulieren.

Der Ausbau von Studienplatzkapazitäten wird nur gelingen, wenn die unter-
schiedlichen Ausgangslagen und demographischen Perspektiven der Länder be-
rücksichtigt werden. Kern der Verhandlungen ist daher ein gerechter und effi-
zienter Verteilungsmechanismus der Hochschulpaktmittel. Es muss eine Rege-
lung gefunden werden, die die bisherigen Anstrengungen bei Aufbau und Erhalt
von Studienkapazitäten ebenso berücksichtigt wie die künftige demographische
Entwicklung in den Ländern. Gelingt dies nicht, wird der gesamtstaatlich erfor-
derliche Ausbau von Studienplätzen scheitern. So wäre es ungerecht und einer
Verständigung mit den anderen Ländern abträglich, wenn jetzt ein Land wie
Baden-Württemberg für die Schaffung von Studienplätzen im gleichen Umfang
zusätzliche Mittel erhält, obwohl es in der Vergangenheit zu wenig Studierende
ausgebildet und sogar Studienplätze abgebaut hat. Vor allem die ostdeutschen
Bundesländer werden ohne entsprechende Anreize ihre Kapazitäten entspre-
chend ihrer regional sinkenden Studienplatznachfrage abbauen. Auch die Stadt-
staaten und weitere Bundesländer würden bei einem Scheitern des Hochschul-
pakts 2020 die Zahl ihrer Studienplätze auf den für die Landeskinder benötigten
Bedarf hin anpassen. Die bis 2010 dringend benötigten 90 000 zusätzlichen Stu-
dienplätze in ganz Deutschland wären unter diesen Voraussetzungen nicht zu
realisieren. Der Kapazitätsausbau wäre gescheitert.

Ein Scheitern des Hochschulpakts bedeute jedoch nicht nur Stillstand, sondern
einen klaren Rückschritt: Wenn sich Bund und Länder nicht zügig auf mehr Geld

und effiziente Verteilungsmechanismen für den Kapazitätsausbau verständigen,
ist stattdessen sogar ein weiterer Abbau von Studienplätzen zu befürchten. Stu-

Drucksache 16/3281 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

dienberechtigten würde der Zugang zur Hochschule systematisch verbaut. Dies
wäre ein bildungs- und hochschulpolitisches Armutszeugnis der Wissenschafts-
und Finanzminister in Bund und Ländern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bei den Verhandlungen mit den Ländern über den Hochschulpakt 2020 darauf
hinzuwirken, dass

● der bedarfsgerechte Ausbau der Studienplatzkapazitäten als zentrale Heraus-
forderung von zukunftsorientierter Hochschulpolitik in Bund und Ländern
den konzeptionellen und finanziellen Schwerpunkt eines wirksamen Hoch-
schulpakts 2020 darstellt;

● die Vereinbarung zum Hochschulpakt 2020 der Herausforderung der steigen-
den Studienplatznachfrage in vollem Umfang gerecht wird. Dies bedeutet,
dass die finanzielle Förderung zum Ausbau von Studienplatzkapazitäten um-
gehend zum Sommersemester 2007 beginnen und bis zum derzeitigen Prog-
nosehorizont 2020 verlässlich gelten muss. Die getroffenen Vereinbarungen
müssen für Bund und Länder verbindlich sein;

● der den Prognosen des Wissenschaftsrates entsprechende Bedarf an Studien-
plätzen von Bund und Ländern ausfinanziert wird. Konkret bedeutet dies ge-
samtstaatliche Investitionen von mindestens 400 Mio. Euro in 2007 aufwach-
send auf 2,2 Mrd. Euro pro Jahr während der Spitze von 2011 bis 2013. Diese
Beträge sind von Bund und Ländern möglichst zu gleichen Teilen zu finan-
zieren;

● die Finanzmittel von Bund und Ländern über ein gerechtes und effizientes
Verteilungssystem gesteuert werden. Dieses Modell muss für die Länder An-
reize setzen, die notwendigen zusätzlichen Studienplatzkapazitäten zu schaf-
fen bzw. sie trotz regional sinkender Abiturientenzahlen im Interesse des Ge-
samtstaates zu erhalten. Ein solches System muss unter Beteiligung des
Bundes einen gerechten und innovativen Kosten- und Nutzenausgleich zwi-
schen jenen Bundesländern mit einer verhältnismäßig hohen und denen mit
einer relativ niedrigen Bereitstellung von Studienplatzkapazitäten beinhalten.
Über den Hochschulpakt muss so gewährleistet werden, dass erstens die ost-
deutschen Länder ihre Studienplätze trotz dort sinkender Abiturientenzahlen
aufrechterhalten, dass zweitens Stadtstaaten und einzelne Bundesländer, die
überproportional ausbilden, ihr Angebot auf keinen Fall verringern und dass
drittens andere Länder nicht dafür belohnt werden, dass sie in der Vergangen-
heit zu wenig ausgebildet oder sogar Studienkapazitäten abgebaut haben;

● zur Bereitstellung der erforderlichen zusätzlichen Studienplätze und zur Ver-
besserung der Personalstruktur an den Hochschulen die Lehrkapazitäten
deutlich ausgebaut und mit intelligenten Instrumenten weiterentwickelt wer-
den. Bei diesen Maßnahmen muss die Förderung von Frauen in der Wissen-
schaft verankert werden;

● ab 2015 frei werdende Professorenstellen durch vorgezogene Berufungen
vorzeitig besetzt werden. Durch die übergangsweise Doppelbesetzung wür-
den sowohl die Lehrkapazitäten erhöht als auch Anreize dafür geschaffen,
wissenschaftlichen Nachwuchs aus dem Ausland zurückzuholen oder im
Land zu halten;

● eine neue Personalkategorie des Dozenten („Lecturer“) geschaffen wird. Da-
bei geht es um eine attraktiv gestaltete Beschäftigung mit einem gegenüber
der Professur erhöhten Lehrdeputat. Sie ist so durchlässig zu gestalten, dass
ein Wechsel zur Professur bzw. von der Professur zum Lecturer möglich ist;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/3281

● die Förderung der Juniorprofessur fortgesetzt wird, um weiterhin frühes
eigenständiges Forschen und Lehren von jungen Wissenschaftlern zu ermög-
lichen. Eine Stelle als Juniorprofessor oder -professorin sollte möglichst mit
Tenure Track ausgestattet sein;

● eine bundesweite Serviceagentur zum Bewerbungsmanagement bei zulas-
sungsbeschränkten Fächern eingerichtet wird, um die existierenden Studien-
plätze effizient, schnellstmöglich und vollständig zu vergeben;

● die Länder darüber hinaus ein offensives Marketing zur optimierten Auslas-
tung bestehender Studienplatzkapazitäten betreiben.

Berlin, den 8. November 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.