BT-Drucksache 16/2837

Forschung auf dem Gebiet der Regenerativen Medizin stärken

Vom 28. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2837
16. Wahlperiode 28. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Cornelia Pieper, Michael Kauch, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke,
Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann,
Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter
Haustein, Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen
Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Horst
Meierhofer, Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Carl-Ludwig
Thiele, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff
(Rems-Murr), Martin Zeil, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Forschung auf dem Gebiet der Regenerativen Medizin stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das langfristige Ziel des Forschungsbereichs „Regenerative Medizin“ ist es,
Prozesse der Zell-, Gewebe- oder Organfunktion und deren Regenerationsmög-
lichkeiten zu verstehen und in klinische Anwendungen zu überführen. Dabei
ermöglicht erst die Verzahnung von Grundlagenforschung und anwendungsori-
entierter klinischer Forschung in einem breiten interdisziplinären Ansatz die
Entwicklung therapeutischer Verfahren, die eine bessere und umfassendere
Versorgung im Bereich des biologischen Ersatzes von Organ- und Gewebe-
funktionen gewährleisten. Hierfür ist es auch zwingend notwendig, das Poten-
zial und die möglichen Risiken beim Einsatz von Stamm- bzw. Vorläuferzellen
für die regenerative Medizin zu klären.

Vor diesem Hintergrund erhalten Forschungsansätze, die eine verlorene Organ-
funktion auf biologischem Wege ersetzen können, eine besondere Bedeutung.
Die Suche nach alternativen Therapieverfahren führt zwangsläufig zu der Not-
wendigkeit, Forschungen auf dem Gebiet der Regenerativen Medizin deutlich
auszubauen. Regenerative Therapien können künftig Engpässe in der Trans-
plantationsmedizin verringern, die Abwehrreaktionen des Immunsystems des
Menschen reduzieren und in vielen Fällen die oft aufwändige und zum Teil

lebenslange Behandlung der Patienten mit Geräten und Medikamenten über-
flüssig machen.

Speziell der wissenschaftlich-technische Fortschritt in der Transplantationsme-
dizin ermöglicht heute das Überleben vieler Patienten. Die Nachfrage nach
Spenderorganen übersteigt das Angebot aber stark. Allein in Deutschland wer-
den zurzeit schätzungsweise doppelt so viele Transplantationsorgane gebraucht,
wie zur Verfügung stehen. Viele der registrierten Patienten sterben, wenn sie

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nicht innerhalb kurzer Zeit ein geeignetes Organ erhalten: 40 Prozent aller Be-
troffenen, die auf eine Lungentransplantation warten, sterben innerhalb von
drei Monaten; 65 Prozent derjenigen, die auf ein neues Herz warten, innerhalb
von sechs Monaten. 80 Prozent der schwer kranken Menschen, die eine neue
Leber benötigen, können ohne diese ebenfalls nur ca. sechs Monate überleben.
Die Zahlen der Wartelisten spiegeln daher den Bedarf nicht annähernd wider.
Jährlich sterben in Deutschland so viele Tausend Patienten, die bei einer geeig-
neten Behandlung eine sehr gute Überlebenschance hätten.

Dies gilt beispielsweise für Kinder und Jugendliche mit angeborenen Herzfeh-
lern. Bislang müssen sich die Patienten im Laufe ihres Lebens mehreren Opera-
tionen am offenen Herzen unterziehen, da die eingesetzten Herzklappen nicht
altergemäß mitwachsen und daher dem jeweiligen Lebensalter entsprechend er-
setzt werden müssen. Hinzu kommt die notwendige Gabe von hochdosierten
Immunsuppressiva, um Abstoßungsreaktionen zu verhindern. Die Lebenser-
wartung dieser Patienten liegt im Schnitt bei maximal 30 bis 35 Jahren. Auch
hier könnten durch die Regenerative Medizin deutliche soziale und ökonomi-
sche Fortschritte erzielt werden.

Für manche Erkrankungen, die auf der Degeneration bestimmter Zellen beru-
hen, wie etwa das Parkinson-Syndrom, existiert kein transplantierbarer Ersatz
für die ausgefallenen Zellen, so dass gegenwärtig die medikamentöse Therapie
die einzige Behandlungsoption darstellt. Diese ist jedoch weder mittel-, ge-
schweige denn langfristig effizient, da es im Laufe der Therapie erforderlich
wird, die medikamentöse Dosis sukzessive zu erhöhen, was einerseits zu erheb-
lichen Nebenwirkungen führt, deren zusätzliche Therapie sowohl die Patienten
als auch das Gesundheitssystem erneut belasten, und andererseits dazu, dass
durch die Toleranzentwicklung Patienten als austherapiert gelten, die durch die
Regenerative Medizin durchaus heilbar wären.

Ein weiteres Beispiel für die ausgezeichneten Potenziale der Regenerativen
Medizin stellt der autologe Hautersatz zur Behandlung chronischer Wunden
dar. Allein in Deutschland leiden vier Millionen Patienten an chronischen Wun-
den, deren Hauptursache venöse, arterio-venöse Durchblutungsstörungen („of-
fenes Bein“) oder Durchblutungsstörungen vor dem Hintergrund eines Diabetes
(„diabetischer Fuß“) sind. Neben einer kausalen Therapie der Grunderkrankung
hat sich in der Klinik die Transplantation autologer Epidermis bewährt. Mit
diesem Ansatz der Regenerativen Medizin lassen sich nachweislich im ambula-
ten Bereich die Behandlungskosten auf die Hälfte senken. Dieses kostensen-
kende Potenzial wird derzeit schon in der Schweiz genutzt, wo die Behandlung
eine gesetzliche Kassenleistung ist. Dieses weitere Beispiel für das hohe inno-
vative Potenzial der Regenerativen Medizin belegt, wie vielversprechend und
sinnvoll eine verstärkte Forschung auf diesem Gebiet ist. Dabei wird es not-
wendig sein, den speziellen Eigenschaften der marktreifen Produkte Rechnung
zu tragen, damit die Patienten schnell von den neuen Therapeutika profitieren
können. Selbstverständlich muss die Sicherheit der Produkte gewährleistet
sein. Es müssen aber gesonderte Regelungen für diese Produkte getroffen wer-
den. Eine z. B. an Fertigarzneimitteln oder Medizinprodukten orientierte Zulas-
sungsprozedur wird den meisten dieser neuen Produkte nicht gerecht und ver-
zögert oder verhindert sogar die Umsetzung neuer Technologien.

Solche Behandlungsstrategien, die unter dem Begriff „Regenerative Medizin“
zusammengefasst werden, sind für jede Art von Krankheit denkbar, die mit
dem Ausfall von Zell-, Gewebe- und Organfunktionen verbunden ist.

Es besteht noch ein erheblicher Forschungsbedarf, um leistungsfähige Metho-
den zu entwickeln und Erfolg versprechende experimentelle Ansätze für klini-
sche Anwendungen zu erschließen. Dazu ist die Zusammenarbeit verschiedener

Disziplinen aus dem biowissenschaftlichen, medizinischen, ingenieurwissen-
schaftlichen und materialwissenschaftlichen Bereich erforderlich.

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Ein Beispiel für einen interdisziplinären Ansatz aller oben genannten Bereiche
stellt die Funktionalisierung von Gefäßprothesen (Stents) mit autologen Endo-
thelzellen dar oder die Entwicklung von so genannten Drug-eluting-Stents, wie
sie zur Behandlung von Stenosen in der Gefäßchirurgie zum Einsatz kommen.

Daher muss aufbauend auf der bisherigen Förderung die anwendungsorientierte
Forschung zur zellbasierten, regenerativen Medizin in Form von interdiszipli-
nären Verbundprojekten gestärkt werden. Durch die Zusammenführung der
besten und kompetentesten Partner zur Entwicklung von regenerativen Be-
handlungskonzepten für definierte Krankheitsbilder werden das einschlägige
Forscherpotenzial sowie das vorhandene Know-how und die verfügbaren Res-
sourcen gebündelt.

Ein entscheidender Aspekt der Regenerativen Medizin besteht neben der Hilfe
für die Betroffenen mittel- bis langfristig in der volkswirtschaftlichen und daher
ökonomischen Relevanz: indem wiederholte Operationen, Krankenhausaufent-
halte und Rehabilitationsmaßnahmen durch das therapeutische Potenzial der
Regenerativen Medizin auf weite Sicht reduziert werden können, lassen sich
die direkten und die indirekten Kosten spürbar gegenüber den gegenwärtigen
konventionellen Behandlungsmethoden senken. Das bedeutet eine enorme Ent-
lastung für das Gesundheitssystem.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

● eine nationale Innovationsstrategie und Aufklärung über die Chancen und
Möglichkeiten für die Regenerative Medizin zu starten;

● ein eigenes Förderprogramm für klinische Studien im Bereich der Regenera-
tiven Medizin aufzulegen;

● mit einer Erweiterung der finanziellen Basis für Forschungen auf dem
Gebiet der Regenerativen Medizin ein deutliches Zeichen zu setzen, die der
Bedeutung dieser Disziplin gerecht wird. Hierzu gehören insbesondere die
Förderung der Grundlagenforschung zur Aufklärung der zellulären Vor-
gänge bei regenerativen Prozessen und eine therapieorientierte Forschung
für einen schnellstmöglichen klinischen Einsatz regenerativer Verfahren;

● dafür Sorge zu tragen, dass parallel zu den Forschungen auf dem Gebiet der
Regenerativen Medizin eine interdisziplinäre Forschung zu den Chancen
und Auswirkungen des breiten Einsatzes künftiger Therapien erfolgt;

● die frühzeitige Einbeziehung und Unterstützung klein- und mittelständischer
Unternehmen der BioTech-Branche für zellbasierte Therapien – bislang ein
Nischenmarkt –, um sie so in die Lage zu versetzen, als Dienstleister für den
klinischen Bereich bei der Zucht patienteneigener Gewebe aufzutreten;

● dafür Sorge zu tragen, dass die notwendige Umsetzung von EU-Regula-
tionen in nationales Recht nicht über das von der EU geforderte Maß hinaus-
geht, um nationale Unternehmen vor Nachteilen im Wettbewerb zu bewah-
ren. Dies gilt insbesondere für die anstehende Verabschiedung des
Gewebegesetzes;

● die neuesten Ergebnisse der internationalen Forschungen zur Entwicklungs-
biologie der Embryonen in die Diskussion einzubeziehen;

● die Förderung der Forschung an und mit humanen embryonalen Stammzel-
len durch das 7. EU-Forschungsrahmenprogramm nicht weiter zu behindern,
sondern zu unterstützen;

● die öffentliche Diskussion den Chancen der Regenerativen Medizin zu för-
dern, um Ängste und Vorbehalte durch bessere Kommunikation abzubauen.
Berlin, den 28. September 2006

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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