BT-Drucksache 16/2702

Offensive Weiterbildung - Weiterbildung als 4. Säule des Bildungswesens ernst nehmen

Vom 21. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2702
16. Wahlperiode 21. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Patrick Meinhardt, Cornelia Pieper, Uwe Barth, Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Rainer
Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild
Dyckmans, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth),
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Joachim
Günther (Plauen), Heinz-Peter Haustein, Birgit Homburger, Dr. Heinrich L. Kolb,
Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk,
Harald Leibrecht, Michael Link (Heilbronn), Horst Meierhofer, Burkhardt Müller-
Sönksen, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Gisela Piltz,
Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina Schuster, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner,
Florian Toncar, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Martin Zeil,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Offensive Weiterbildung – Weiterbildung als 4. Säule des Bildungswesens
ernst nehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In ihrem Bericht „Bildung auf einen Blick 2006“ hebt die Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervor, dass es über
den Zusammenhang zwischen öffentlichem und privatem Wohlstand und Bil-
dung keine Zweifel gibt. Nach Einschätzung der OECD ist die Anwendung von
Wissen und Fähigkeiten zum Kern des Wirtschaftswachstums geworden. In
wichtigen Bildungsbereichen ist Deutschland zurückgefallen bzw. nimmt nicht
den Platz ein, der für eine nachhaltige Sicherung des wirtschaftlichen Wohl-
standes erforderlich wäre. Dies betrifft auch den Bereich der Weiterbildung.
Deutschland liegt bei der Stundenzahl beruflicher Weiterbildung gerade mal im
Mittelfeld der OECD-Staaten. Die Teilnahmequote an Fort- und Weiterbildung
unterschreitet mit 12 Prozent sogar erheblich den OECD-Mittelwert von 18
Prozent. Auch die Tendenz ist negativ: Im Höhepunkt, dem Jahr 1997, war die
Teilnahmequote doppelt bis dreimal so hoch wie 1979. Seit 1997 ist ein stetiger
Rückgang zu beobachten, obwohl die Bedeutung des lebenslangen Lernens ste-
tig wächst. Insbesondere ist die Weiterbildungsbeteiligung Älterer und relativ

schlecht Ausgebildeter auch im internationalen Vergleich viel zu gering.

Aus zwei Gründen war innerhalb des Bildungswesens die Weiterbildung zu
keiner Zeit wichtiger als heute:

Einerseits hat sich durch die Erweiterung der Europäischen Union, die voran-
schreitende Öffnung der Weltmärkte, verbunden mit dem großen Menschen-
und Bildungspotenzial wirtschaftlich stark wachsender Staaten wie z. B. China,

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Indien und Brasilien, und die global zugänglichen Informationsnetze die inter-
nationale Wettbewerbssituation dramatisch verschärft. Dieser Wettbewerb ist
zum wesentlichen Teil ein Wettbewerb der Ideen und der Fähigkeiten zu ihrer
Umsetzung geworden. „Ausgelernt“ gibt es daher heute in keinem Beruf mehr.
Der Europäische Rat hat im März 2000 auf dem Gipfel in Lissabon daher u. a.
das lebenslange Lernen und die Anpassung des Bildungssystems an die Anfor-
derungen des lebenslangen Lernens als strategische Schwerpunkte definiert.
Der Deutsche Bundestag unterstreicht diese Einschätzung noch einmal aus-
drücklich.

Andererseits ergibt sich gerade in Deutschland ein erheblicher Bedarf an Wei-
terbildung durch die demografische Situation. Bereits 2030 wird der Anteil der
über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung mehr als 40 Prozent betragen. Der
Anteil jüngerer Fachkräfte in der Wirtschaft wird sich dramatisch zugunsten
der Älteren verschieben. Schon daran wird deutlich, dass diese Entwicklung
das Bildungssystem vor eine gewaltige Herausforderung stellt und der Stellen-
wert von Weiterbildung massiv aufgewertet werden muss.

Verschärft wird die Lage durch die längerfristigen Folgen der Schwächen des
Schulsystems, die erst langsam behoben werden können:

2020 werden sich diejenigen Menschen im produktivsten Teil ihres Erwachse-
nenalters befinden, die jetzt zwischen 10 und 35 Jahre alt sind. Viele dieser
Menschen haben aber als Jugendliche eine Bildung bekommen, die bereits
heute hinter den Anforderungen der Wirtschaft erheblich zurückbleibt. Nach
wie vor ist es nicht gelungen, den mit 20 bis 25 Prozent eines Jahrgangs viel zu
großen Anteil der jugendlichen Schulabgänger, die keine oder eine viel zu
geringe Ausbildungsreife besitzen, nachhaltig zu senken. Diese Menschen ver-
dienen eine zweite Chance. In der großen Zahl der Jugendlichen und jungen
Erwachsenen dieser Gruppe gibt es ein großes Potenzial an Bildungsfähigkeit.
Dieses Potenzial muss aus Verantwortung gegenüber dem Einzelnen aber auch
im Interesse unserer Gesellschaft entwickelt werden. Dazu ist ein Netzwerk
nachholender Weiterbildung, vernetzt mit betriebsnaher Ausbildung, der geeig-
nete Weg. Dabei stellen sich pädagogisch besonders anspruchsvolle Aufgaben.

Kontinuierliche Erwachsenenbildung ist zur Absicherung der Funktionsfähig-
keit der freiheitlichen demokratischen Gesellschaft aber nicht nur in wirtschaft-
licher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Möglichkeiten demokrati-
scher Teilhabe nötig. Somit geht es nicht nur um die berufsbegleitende
Weiterbildung oder zusätzliche bzw. nachgeholte Ausbildungen, sondern auch
um allgemeine und politische Bildung.

Weiterbildung kann nur erfolgreich sein, wenn sie auf ein aktives Mitwirken
der Betroffenen stößt. Die Akzeptanz der Weiterbildung und ihr Stellenwert in
der Bevölkerung sind demzufolge von großer Bedeutung auch für die zukünf-
tige wirtschaftliche Entwicklung.

Die finanzielle Situation der Weiterbildungsträger in Deutschland hat sich in
den letzten Jahren außerordentlich kritisch entwickelt. Dies liegt im Wesent-
lichen daran, dass die Finanzierung insbesondere der geförderten beruflichen
Weiterbildung in den letzten Jahren dramatisch gesunken ist, ohne dass neue
Finanzierungsinstrumente entwickelt worden wären. Die schnelle Entwicklung
neuer Instrumente wie z. B. Bildungssparen, gesetzlich abgesicherte Lernzeit-
konten im Rahmen von Tarifvereinbarungen oder durch freiwillige Zusatz-
versicherungen ausgegebene Bildungsgutscheine ist daher überfällig. Über die
Möglichkeiten, berufliche Weiterbildung auch durch einen sozial verträglichen
Eigenanteil an den Kosten und nachlaufend zu tilgende Bildungsdarlehen mit-
zufinanzieren, muss ebenfalls nachgedacht werden.
Geförderte Maßnahmen sind nach der Qualität und nicht in erster Linie nach
dem Preis zu vergeben. Sie sind auf einem „Markt für Weiterbildung“ anzubieten,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2702

der offen für alle Unternehmen sein muss, ohne Privilegien für gewerkschafts-
nahe oder den Arbeitgeberverbänden zuzuordnende Weiterbildungsfirmen.

Der Deutsche Bundestag unterstreicht die im Abschlussbericht des Programms
der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung
(BLK) „Lebenslanges Lernen“ festgestellte Notwendigkeit einer „bildungsbe-
reichsübergreifenden Vernetzung“ und stimmt mit der dort erhobenen Forde-
rung, Reformanstöße zu leisten, „die auf die gesamte Bildungslandschaft zu-
rückwirken, um notwendige Veränderungen unter der Perspektive einer
größeren Durchlässigkeit, besserer Zusammenarbeit und besserer Bildungsver-
schränkung zwischen den verschiedenen Aus- und Weiterbildungsphasen zu
erreichen“, ausdrücklich überein.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. für die Weiterbildung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und ins-
besondere der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Möglichkeit eines
begünstigten Bildungssparens schnell zu schaffen und umzusetzen,

2. die Bildungskredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau Bankengruppe
auch für berufliche Weiterbildung und Sekundärausbildungen zu ermög-
lichen,

3. die Möglichkeiten einer sozial verträglichen, ggf. „nachlaufenden“ Eigen-
beteiligung bei Weiterbildungsteilnehmerinnen und -teilnehmern zu prüfen,

4. bei den Ausschreibungen der Bundesagentur für Arbeit zu erreichen, dass
Kontinuitäts- und Qualitätsaspekte der Maßnahmen das erforderliche hohe
Gewicht bekommen und die bürokratische Belastung der Anbieter so ge-
ring wie möglich gehalten wird,

5. über das Bundesministerium für Bildung und Forschung eine Kampagne
für Weiterbildung in Deutschland in Gang zu setzen,

6. die nachholende Weiterbildung junger Erwachsener mit betrieblicher Aus-
bildung zu vernetzen,

7. die Zusammenarbeit der regionalen Agenturen für Arbeit insbesondere mit
den Haupt-, Gesamt-, Real- und Sekundarschulen zu verbessern und ins-
besondere für entsprechend qualifizierte Berater bei den Agenturen Sorge
zu tragen,

8. die Weiterbildungsforschung insbesondere im Hinblick auf die Wirksam-
keit der Maßnahmen, die Übergänge und Möglichkeiten der Modularisie-
rung zu verstärken,

9. die Konsequenzen aus dem BLK-Modellversuchsprogramm „Lebenslanges
Lernen“ so zu ziehen, dass die im Abschlussbericht als entscheidend her-
ausgearbeiteten „bildungsbereichsübergreifenden Reformanstöße“ in ge-
meinsamen Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen weiterge-
führt werden,

10. insbesondere der Empfehlung des Abschlussberichts des BLK-Programms
dergestalt zu folgen, dass eine größere Durchlässigkeit, bessere Zusam-
menarbeit und bessere Bildungsverschränkungen zwischen den verschie-
denen Aus- und Weiterbildungsphasen erreicht wird.

Berlin, den 19. September 2006

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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