BT-Drucksache 16/2626

Keine Hermes-Bürgschaft für den Ilisu-Staudamm in der Türkei

Vom 20. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2626
16. Wahlperiode 20. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Ute Koczy, Thilo Hoppe, Marieluise Beck
(Bremen), Matthias Berninger, Alexander Bonde, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Claudia Roth (Augsburg), Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Hermes-Bürgschaft für den Ilisu-Staudamm in der Türkei

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

Hermesbürgschaften für große Wasserkraftwerke nur bei Einhaltung der Emp-
fehlungen und Standards der Weltstaudammkommission (WCD) zu gewähren.

Angesichts der Nichterfüllung dieser Vorgaben im Falle des Ilisu-Staudamms,
insbesondere:

– der unbefriedigenden Umsiedlungspläne für die Region,

– der unkalkulierbaren Folgen für den Naturhaushalt und der biologischen
Vielfalt,

– der zu erwartenden Wasserkonflikte mit den Anrainerstaaten,

– der Nichtausschöpfung vorhandener Alternativen zur Energieversorgung

sowie der drohenden Zerstörung des einzigartigen Kulturdenkmals Hasankeyf
keine Hermesbürgschaften für am Bau des Ilisu-Staudamms beteiligte Unter-
nehmen zu gewähren.

Berlin, den 19. September 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Der Ilisu-Staudamm ist Teil des Südostanatolien-Projekts (GAP), das Dutzende
von Staumauern an den Flüssen Euphrat und Tigris umfasst. Mit ihrer Hilfe will

die Regierung in Ankara die Region bewässern und die Energiegewinnung ver-
bessern. Allein für den Zwölfhundert-Megawatt-Staudamm Ilisu sind Kosten
von mehr als 1,2 Mrd. Euro angesetzt, das Gesamtprojekt GAP wird auf 32 Mrd.
US-Dollar geschätzt. Am Bau des Ilisu-Staudamms möchte sich neben mehre-
ren Schweizer und einem österreichischen Unternehmen auch die deutsche
ZÜBLIN AG am Konsortium beteiligen. Sie hat dafür bei der Bundesregierung
eine Hermesbürgschaft über ca. 100 Mio. Euro beantragt.

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Ein erstes, im Jahr 1997 auf den Weg gebrachtes Vorhaben zum Bau dieses Stau-
damms scheiterte, nachdem sich 2001 einige Konsortialpartner und schließlich
auch der Hauptfinanzierer aufgrund sozialer und ökologischer Bedenken aus
dem Projekt zurückzogen. Ende 2005 wurden für den Bau des Ilisu-Staudamms
eine neue Umweltverträglichkeitsprüfung und ein neuer Umsiedlungsplan vor-
gelegt; im Juni 2006 folgten Ergänzungen zu diesen Dokumenten. Diese sollen
nach Meinung des Konsortiums die Kritikpunkte ausräumen.

Unbefriedigende Umsiedlungspläne und soziales Konfliktpotenzial

Obwohl bisher weniger als die Hälfte des Südostanatolienprojekts realisiert ist,
sind die Folgen für die Betroffenen dramatisch: Mehrere hunderttausend Men-
schen mussten ihre Dörfer und Städte verlassen, von denen ein Großteil nicht
oder unvollkommen entschädigt wurde.

Der Ende 2005 vorgelegte neue Umsiedlungsplan für den Ilisu-Staudamm geht
von 55 000 betroffenen Menschen aus, die ihre Lebensgrundlage ganz oder teil-
weise verlieren werden. Ein Großteil von ihnen wird in die Städte Batman und
Diyarbakir ziehen. Durch die Vertreibung aus den ländlichen Regionen – auf-
grund von Staudammbauten oder gewalttätigen Konflikten – sind die Städte im
Südosten der Türkei ohnehin extrem angewachsen. In Diyarbakir stieg die Ein-
wohnerzahl in den letzten Jahren von 250 000 auf weit über eine Million. Die
Arbeitslosigkeit in den Zuzugsvierteln liegt bei 70 Prozent.

Aufgrund der anhaltend prekären Menschenrechtssituation in dem vorwiegend
von Kurden besiedelten Gebiet birgt die Umsiedlung ein besonderes Konflikt-
potenzial. Die durch Vertreibung und Unterdrückung der Kurden in den letzten
Jahren vorangetriebene kulturelle Entwurzelung würde verschärft. Vor diesem
Hintergrund ist es sehr problematisch, dass bisher weder die lokale Bevölkerung
noch die kurdischen Kommunalbehörden angemessen in die Planung einbezo-
gen wurden. Die Bevölkerung wurde nicht hinreichend über das Projekt infor-
miert, geschweige denn konsultiert. Das Konsortium führte lediglich eine Um-
frage zum Lebensstil der Bevölkerung durch.

Drohende Wasserkonflikte mit Anrainern

Der Ilisu-Staudamm soll den Tigris 65 km vor der irakischen Grenze auf einer
Fläche von 313 km2 stauen. Angesichts einer Auffüllkapazität von 10 Mrd. m3

Wasser besteht die Gefahr, dass der Weiterfluss des Tigris nach Syrien und in
den Irak für mehrere Monate unterbrochen wird. Dadurch können enorme Um-
weltprobleme entstehen und sich die Spannungen in der bisher schon konflikt-
reichen Region verschärfen. Zusammen mit dem Euphrat nährt der Tigris eine
Region, die schon lange als die wichtigste Kornkammer des Nahen Ostens gilt.
Die Ströme haben sowohl für Syrien als auch für den Irak eine herausragende
Bedeutung für die Landwirtschaft, die Trinkwasserversorgung und für einen Teil
der Stromversorgung.

Schon in der Vergangenheit kam es durch die Staudämme des Südostanatolien-
projekts GAP bereits zur Reduzierung des Wasserzuflusses in die türkischen
Nachbarländer und zur Verunreinigung des Wassers. Zudem nutzt die türkische
Regierung das Staudammprojekt als machtpolitisches Instrument. Während des
ersten Golfkriegs von 1991 reduzierte die Türkei den Wasserzufluss zum Irak.
Es steht zu befürchten, dass auch in Zukunft die Türkei die zunehmende Kon-
trolle über die Abflussmengen des Euphrat und Tigris dazu nutzen wird, poli-
tische Forderungen gegenüber Syrien und dem Irak durchzusetzen. Die Welt-
bank lehnte bereits 1984 eine Beteiligung am Südostanatolienprojekt aufgrund
des außenpolitischen Konfliktpotenzials ab.

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In der internationalen Debatte setzt sich zunehmend der Ansatz des integrierten
Wassermanagements durch, der bei Projekten an grenzüberschreitenden Flüssen
Konsultationen zwischen Ober- und Unterliegern vorschreibt. Dieser Ansatz
findet sich unter anderem in den Empfehlungen der Weltstaudammkommission
von 2000, in der EU-Wasserrahmenrichtlinie, der Espoo-Konvention über
grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfungen und der VN-Konven-
tion über die nichtschifffahrtliche Nutzung internationaler Wasserläufe wieder.
Darüber hinaus gilt dieser Ansatz auch als Völkergewohnheitsrecht, an das die
Türkei gebunden ist, obwohl sie die VN-Konvention nicht unterzeichnet hat.

Mit der Perspektive eines EU-Beitrittes muss die türkische Regierung sich an
EU-Recht orientieren und damit auch die EU-Wasserrichtlinie und die Espoo-
Konvention umsetzen. Zudem fordert die EU von ihren Mitgliedern eine Lösung
sämtlicher bestehender Konflikte mit den Nachbarstaaten. Trotzdem hat die Tür-
kei nach bisherigem Kenntnisstand keine Konsultationen mit Syrien und dem
Irak über den Ilisu-Staudamm oder das gesamte Südostanatolienprojekt auf poli-
tischer Ebene abgehalten, noch eine völkerrechtliche Vereinbarung mit Syrien
und Irak über die Nutzung des Tigris geschlossen.

Drohende Zerstörung des einzigartigen Kulturdenkmals Hasankeyf

Vom Ilisu-Staudamm bedroht ist als historisches Kulturdenkmal die Stadt
Hasankeyf in der kurdischen Provinz Batman, die als eine der ältesten Siedlun-
gen der menschlichen Zivilisation gilt. Der teilweise in den Fels gehauene Ort
war eine Hochburg der assyrischen, christlichen, islamischen und kurdischen
Kultur in der Türkei. Archäologen sprechen von einem Ensemble an mittelalter-
lichen islamischen Bauten, das in dieser Dichte kein zweites Mal in Anatolien
anzutreffen sei.

Durch den Bau des Staudamms würde die Stadt Hasankeyf geflutet werden. Das
Ilisu-Konsortium hat als Reaktion auf die internationalen Proteste vorgeschla-
gen, die historischen Monumente abzutragen und in einem „Archäologiepark“
oberhalb des Stausees wieder aufzubauen. Doch ist dies einerseits aufgrund des
porösen Materials der Bauten und der verwendeten Bindestoffe fast nicht mög-
lich. Andererseits kann ein künstlich angelegter Park das einmalige Naturdenk-
mal nicht nachbilden. Nicht zuletzt würde für die hauptsächlich kurdische Be-
völkerung der Region mit der Flutung auch ein Stück kurdischer Identifikations-
möglichkeit und Geschichte vernichtet.

Die Initiative „Rettet Hasankeyf“ hat vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte eine Klage eingereicht, die nun zugelassen wurde. Damit ist
vor Urteilsverkündung klar, dass der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte die Umstände des Projekts als sehr gravierend einstuft.

Wirtschaftliche Alternativen für Energieversorgung

Grundsätzlich sind die Entwicklungsanstrengungen der Türkei, also auch eine
bessere Energieversorgung der Region zu begrüßen. Der Ilisu-Staudamm produ-
ziert jedoch elektrische Energie zu hohen Kosten. Als Alternative dazu stünde
eine Modernisierung des türkischen Leitungssystems und Effizienzmaßnahmen
für den Endverbrauch zur Verfügung. Bleiben diese Maßnahmen aus, wird auch
ein großer Teil der Energie des Ilisu-Kraftwerks verschwendet werden. In der
Türkei beträgt der Energieverlust in Stromleitungen ca. 21 Prozent. Im OECD-
Durchschnitt gehen 10 Prozent des Stroms durch mangelhafte Leitungen verlo-
ren – durch Maßnahmen der Energieeffizienz könnte also ein großes Potenzial
an zusätzlicher Energie erschlossen werden.

Auch in der Energieerzeugung gibt es ökologische Alternativen, deren Einsatz

gerade in dieser Region prädestiniert ist, vor allem Windparks, solarthermische

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Kraftwerke, Bioenergieanlagen u. a. Sie sind heute bereits kostengünstig und
schneller verfügbar als das geplante Staudammprojekt. Angesichts des zweifel-
haften Nutzens des Beitrags des Ilisu-Damms für eine bessere Energieversor-
gung der Türkei, der bei Inbetriebnahme lediglich 3 Prozent des Energiebedarfs
der Türkei decken kann, sowie der hohen Staatsverschuldung der Türkei, er-
scheint eine Wirtschaftlichkeitsüberprüfung des Projekts angebracht.

Nicht-Einhaltung nationaler und internationaler Standards für Bürgschaften

Das Konsortium hat zugesagt, das Projekt nur durchzuführen, wenn internatio-
nale Standards eingehalten werden. Die Bundesregierung ist ihrerseits durch die
Umweltleitlinien der OECD für Exportkreditagenturen (Common Approaches)
an die Einhaltung internationaler Standards gebunden. Zahlreiche Gutachten in-
ternationaler Experten belegen, dass das Projekt diese Anforderung nach wie vor
nicht erfüllt. Darüber hinaus hat sich die Bundesregierung über ihre eigenen
Leitlinien Umwelt explizit dazu verpflichtet, bei der Bürgschaftsvergabe für
Staudammprojekte die Standards der Weltstaudammkommission WCD zu be-
rücksichtigen. Auch diese Standards erfüllt das Projekt bei weitem nicht.

Glaubwürdigkeit und Seriosität der Bundesregierung stehen in Frage

Die Vergabe von Bürgschaften für ökologisch und sozial fragwürdige Projekte
wirkt in den Empfängerländern nachteilig und ist auch in Deutschland gesell-
schaftlich nicht akzeptiert. Unternehmen werden besonders dann ihre Wettbe-
werbsfähigkeit sichern und steigern, wenn sie Dienstleistungen, Produkte und
Verfahren liefern, die zur nachhaltigen Entwicklung eines Landes beitragen.
Dieses ist im Falle der Beteiligung am Ilisu-Staudammprojekt nicht der Fall.
Zudem würde die Bundesregierung angesichts der Probleme des Projekts, die
sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch bei Regierungen international
hinlänglich bekannt sind, mit einer Hermesbürgschaft für das Projekt den
Reformprozess für Exportkreditagenturen in der OECD torpedieren und ihren
Ruf als seriöser Partner in Verhandlungen über Umwelt- und Sozialstandards
ruinieren.

Angesichts der aufgeführten massiven Probleme bei der geplanten Durchfüh-
rung des Projekts und der offensichtlichen Nichteinhaltung international üblicher
Standards muss die Bundesregierung einen Antrag auf Bürgschaftsvergabe
ablehnen. Die negativen Folgen des Projekts wären so gravierend, dass auch
eine Bürgschaftsvergabe unter gezielten Auflagen ausgeschlossen werden muss.

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