BT-Drucksache 16/2602

Nach dem Wiener Gipfel - die Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika solidarisch gestalten

Vom 18. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2602
16. Wahlperiode 18. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,
Monika Knoche, Ulla Lötzer, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Hakki Keskin,
Katrin Kunert, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln),
Dr. Kirsten Tackmann, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Nach dem Wiener Gipfel – die Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika
solidarisch gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem Abschluss des IV. Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs La-
teinamerikas und der Karibik sowie der Europäischen Union am 12. Mai 2006
in Wien wurde offenbar: Die alte neoliberale Lateinamerikapolitik der Europäi-
schen Union ist gescheitert, Ansätze einer neuen Politik lateinamerikanischer
Staaten haben sich demgegenüber weitgehend durchgesetzt.

1. Die Vorstellungen und Erwartungen, wie sie von der Europäischen Kommis-
sion unter dem Titel „Eine verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäi-
schen Union und Lateinamerika“ [KOM (2005) 363] und von dem Europäi-
schen Parlament in seiner Entschließung „Über eine festere Partnerschaft
zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika“ [P6_TA(2006)0155]
formuliert worden waren und wie sie von der Bundesregierung geteilt wur-
den, haben sich als unrealistisch erwiesen. Vor allem kam das Assoziations-
und Freihandelsabkommen mit dem Mercosur, über das bereits seit 1999
ergebnislos verhandelt wird, wieder nicht zustande. Dies ist im Sinne der
Kleinbauern und anderer Produzenten Lateinamerikas zu begrüßen. Sie wä-
ren im Falle eines Freihandelsabkommens einer übermächtigen Konkurrenz
durch Importe europäischer Konzerne ausgesetzt worden. Deshalb gehörten
sie zu den aktivsten Teilen der Bewegung gegen ein solches Abkommen. Das
Scheitern der EU wurde mit der vagen Ankündigung bemäntelt, sich „noch
intensiver darum zu bemühen, die Verhandlungen voranzubringen“. Auch die
Aussagen zu den angestrebten Handelsabkommen mit den Staaten Zentral-
amerikas, der Andengemeinschaft und der Karibik (Cariforum) blieben denk-
bar unkonkret. Mit den Ergebnissen von Wien kann das mittelfristige Ziel der
EU einer europäisch-lateinamerikanischen Freihandelszone in absehbarer
Zeit nicht erreicht werden.
2. Die vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung kurz vor dem Gip-
fel noch einmal besonders hervorgehobene Forderung nach gemeinsamen
Institutionen wie einer parlamentarischen „Transatlantischen Versammlung
EU-Lateinamerika“ wird in der Schlusserklärung des Gipfels lediglich „mit
Interesse zur Kenntnis“ genommen, die „Schaffung eines ständigen europä-
isch-lateinamerikanischen Sekretariats“ nicht einmal erwähnt. Es ist zu be-
grüßen, dass es damit nicht zur von der EU angestrebten Einflussnahme

Drucksache 16/2602 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

durch Integration Einzelner in gemeinsamen hochrangigen Institutionen
kommen wird.

3. Gegenüber der sonstigen vereinnahmenden Beschwörung gemeinsamer
Werte wird in der Schlusserklärung des Wiener Gipfels unmissverständlich
darauf hingewiesen, dass es „kein einheitliches Demokratiemodell gibt und
dass Demokratie nicht einem Land oder einer Region gehört“. Auch wird die
Notwendigkeit bekräftigt, „die Souveränität, die territoriale Integrität und das
Recht auf Selbstbestimmung gebührend zu achten“. Angesichts der jüngsten
Nationalisierungsmaßnahmen Boliviens und der fragwürdigen Kritik des
deutschen Außenministers daran stellt die Schlusserklärung unmissverständ-
lich fest: „Wir erkennen das souveräne Recht der Staaten an, ihre natürlichen
Ressourcen zu verwalten und deren Nutzung zu regeln.“

4. Im Widerspruch zu der eindeutigen Absage an ein einheitliches „westliches“
oder „europäisches“ Demokratiemodell steht noch immer die Aussage in
dem „Gemeinsamen Standpunkt“ der Europäischen Union vom 2. Dezember
1996 zu Kuba: „Die Europäische Union verfolgt in ihren Beziehungen zu
Kuba das Ziel, einen Prozess des Übergangs in eine pluralistische Demokra-
tie […] zu fördern.“ Diese Position hatte der Rat noch einmal ausdrücklich in
seiner Sitzung am 10. April 2006 unterstrichen. Die Schlusserklärung des
Wiener Gipfels betont hingegen „die souveräne Gleichheit aller Staaten“,
„ihre territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit“ und im Rahmen
internationaler Beziehungen den Verzicht „auf die Androhung bzw. Anwen-
dung von Gewalt“. Ebenso distanziert sie sich von den „exterritorialen Be-
stimmungen des Helms-Burton-Act“.

Die Zugeständnisse, die von lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs
auf dem Gipfel in Wien durchgesetzt wurden, sind nicht nur Erfolge diploma-
tischer Bemühungen. Sie sind Ergebnis und Konsequenz eines bis heute andau-
ernden Veränderungsprozesses in Lateinamerika.

1. Die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren in Lateinamerika gekenn-
zeichnet durch eine weitgehende Deregulierung der Märkte, eine Privati-
sierungswelle und eine neo-liberale Wirtschaftspolitik. Diese Politik schlug
sich nieder im Abschluss mehrerer bilateraler Handelsabkommen, auch mit
der EU, in der Vereinbarung des nordamerikanischen Freihandelsabkom-
mens NAFTA und im Beginn der Verhandlungen über eine gesamtamerika-
nische Freihandelszone (ALCA). Das auf diese Weise erzielte Wirtschafts-
wachstum war und ist unbeständig und stark von äußeren Faktoren abhängig.
Es findet eine Konzentration auf den Export von Rohstoffen und landwirt-
schaftlichen Produkten agrarischer Großproduzenten und allenfalls noch Zu-
lieferprodukten statt. Zur Entwicklung hochwertiger Produktionen kommt es
kaum. Die Verschuldung Lateinamerikas stieg in diesem Zeitraum stark an.

2. Die radikale Liberalisierung und die zunehmende Verschuldung Lateiname-
rikas in den vergangenen fünfzehn Jahren vollzogen sich auf Kosten der wirt-
schaftlichen und sozialen Entwicklung. Die marktradikale Politik führte in
Lateinamerika zu weiter zunehmender ungleicher Verteilung des wirtschaft-
lichen Fortschrittes zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Die Sozial-
leistungen wurden drastisch gekürzt. Nach den Kriterien der CEPAL (UN-
Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik) gelten von den
520 Millionen Einwohnern Lateinamerikas über 200 Millionen als arm,
davon knapp 90 Millionen als extrem arm. Jeder fünfte Einwohner Latein-
amerikas hat keinen Zugang zu den Gesundheitsdiensten und weniger als ein
Drittel ist sozial abgesichert. Armut, Ausgrenzung, fehlender Zugang zu den
sozialen Basisdiensten und Gesundheitsprobleme treffen vor allem struk-
turell benachteiligte Gruppen der Gesellschaft wie Frauen und Jugendliche,

insbesondere aber die indigenen und die Bevölkerungsgruppen afrikanischer
Abstammung.

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3. Die wirtschaftlichen und sozialen Krisenprozesse führten in Lateinamerika
zu einschneidenden Veränderungen der politischen Kräfteverhältnisse. In der
Region wachsen die Kräfte, die neoliberale Politik ablehnen. In Kolumbien
konnte 2006 durch das Erstarken einer neuen linken Kraft (Polo Demo-
cratico) erstmals das traditionelle Zweiparteiensystem mit Konservativen
und Liberalen durchbrochen werden. In Argentinien, Venezuela, Brasilien
und Bolivien kamen neue linke demokratische Regierungen ins Amt und
konnten sich zum Teil gegen undemokratische Machenschaften behaupten.
Im Zentrum ihrer Politik steht der Kampf gegen Armut und Ungleichheit,
verbunden mit einer ökonomischen Strategie, die darauf ausgerichtet ist,
wertschöpfungsreichere und dynamischere Exportsektoren hervorzubringen
und zugleich Impulse für die Binnenwirtschaftsentwicklung zu geben.

4. Der externe Einfluss auf die Region wird zunehmend kritisch gesehen. Dies
gilt insbesondere für die Einmischung der USA in die Konflikte in Kolum-
bien und die damit verbundene Militarisierung der Konflikte, die eine fried-
liche Lösung und eine demokratische Entwicklung dieses Landes behindern.
Skepsis rief auch die Beteiligung der USA und Frankreichs an der Vorberei-
tung des gewaltsamen Umsturzes in Haiti 2004 hervor. Der Ausschluss Haitis
aus der Gemeinschaft Karibischer Staaten (CARICOM) nach dem Umsturz
demonstrierte ein neues Selbstbewusstsein der Region gegenüber den USA.
Mit der Wahl einer legitimen haitianischen Regierung im Februar 2006 eröff-
nen sich neue Möglichkeiten der innerkaribischen Zusammenarbeit.

5. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen in Lateiname-
rika haben dazu beigetragen, dass die Absichten der USA, eine kontinentale
Amerikanische Freihandelszone (ALCA) zu errichten, vorerst gescheitet sind
und Alternativen für solidarische Handelsbeziehungen entwickelt werden.
Kuba, Venezuela und Bolivien schlossen unmittelbar vor dem Wiener Gipfel
die „Vereinbarung zur Anwendung der Bolivarianischen Alternative für die
Völker unseres Amerikas und des Handelsvertrags der Völker (ALBA)“ ab.
Dieser Vertrag beschränkt sich nicht abstrakt auf den Austausch von Waren
und Dienstleistungen, sondern setzt konkret an den jeweiligen Bedürfnissen
der Bevölkerungen und an dem Leistungsvermögen der Vertragspartner an.
Die Vereinbarung umfasst ein auf Komplementarität statt Wettbewerb aus-
gerichtetes Handelsabkommen, die Verpflichtung Kubas und Venezuelas zu
finanzieller, medizinischer und technischer Hilfe an Bolivien, akademische
Austauschprogramme und wissenschaftliche Kooperation sowie gemein-
same Infrastrukturinvestitionen. In einem solchen Beziehungsgeflecht ist
kein Raum für Freihandelsabkommen, sondern nur für Verträge über sich
wechselseitig ergänzende Lieferungen und Leistungen und gegebenenfalls
damit korrespondierende Entgelte.

6. Die Staaten Lateinamerikas und der Karibik versuchen, regionale Autonomie
in der Energieversorgung herzustellen. Mit der Verstaatlichung der Erdgas-
felder in Bolivien wird dort die Öffentlichkeit erstmals wieder an den Einnah-
men aus dem natürlichen Reichtum des Landes beteiligt und werden Ausbeu-
tung, Verarbeitung und Distribution dieser Energieressource wieder demo-
kratischer Kontrolle unterworfen. Im Rahmen des Programms PetroCaribe
werden 14 karibische Staaten zu günstigen Konditionen (stabile Preise unter
Weltmarktsniveau, lange Zahlungsfristen mit Niedrigzins) mit venezolani-
schem Öl versorgt. Damit entsteht für diese Staaten eine Entwicklungsdivi-
dende, die sie in den Aufbau der Infrastruktur zur Energieversorgung inves-
tieren. In Haiti beispielsweise könnte dadurch erstmals ein flächendeckendes
Stromnetz außerhalb der Hauptstadt betrieben werden.

7. Die wachsende regionale Integration zwischen verschiedenen lateinamerika-

nischen Staaten findet auch Ausdruck in der Vertiefung der innerregionalen
Entwicklungszusammenarbeit. In diesem Zusammenhang konnte Kuba seine

Drucksache 16/2602 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Isolation weitgehend durchbrechen. In weiten Teilen der lateinamerikani-
schen Bevölkerung finden die von kubanischen Kräften geleistete medizini-
sche und technische Hilfe und die Unterstützung bei der Alphabetisierung be-
sondere Anerkennung. Kubanische Ärzte, Krankenschwestern und Techniker
sind die tragende Säule des Gesundheitssystems in einigen ärmeren Staaten
des Kontinents. Durch sie konnte vielerorts erstmals eine flächendeckende
Gesundheitsvor- und -fürsorge in ländlichen Gebieten und städtischen Slums
aufgebaut werden.

Die Veränderungen in Lateinamerika, die Informationen und Diskussionen
darüber auf dem in Wien parallel zum Gipfel stattfindenden Gegengipfel, vor
allem aber das öffentliche Auftreten der Präsidenten Venezuelas, Hugo Chavez,
und Boliviens, Evo Morales, ließen das Interesse für eine andere, nicht neolibe-
ral geprägte Lateinamerikapolitik der Europäischen Union ganz erheblich weiter
wachsen. Das korrespondiert mit einem veränderten Bewusstsein vieler Men-
schen bezüglich der Entwicklungen in der Europäischen Union selbst: Die seit
Mitte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts erfolgende neoliberale Ausrich-
tung der EU wird von breiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr ohne weiteres
hingenommen. Das zeigt sich an zunehmenden Arbeitskämpfen in verschie-
denen Ländern, am Scheitern des Verfassungsvertrags wie am erfolgreichen
Widerstand gegen die Liberalisierung der Hafendienstleistungen. Das wird zu-
dem deutlich am anhaltenden Kampf gegen die Dienstleistungsrichtlinie, der mit
dem Kompromiss im Europäischen Parlament nicht beendet ist. Es wächst auch
die Kritik an der Ausrichtung der auswärtigen Politik der EU auf die Ausbeu-
tung anderer Länder und Regionen und auf die Beherrschung von Rohstoffvor-
kommen im Interesse der transnational agierenden Großunternehmen. Nicht zu-
letzt stößt die Militarisierung der EU auf immer stärkere Ablehnung.

Die Bundesregierung hatte sich durch ihren Außenminister zunächst öffentlich
für den Abschluss des Freihandelsabkommens der EU mit dem Mercosur stark
gemacht und dann kritisch gegen die Übernahme der Energieproduktion in Bo-
livien in die eigene Verantwortung des Landes gewandt. Danach äußerte sie sich
zu Fragen Lateinamerikas weder in der Regierungserklärung zum Wiener Gipfel
im Deutschen Bundestag noch sonst politisch wegweisend. Soweit sie damit
ihre alte überholte Politik aufgegeben hat, ist das gut so. Das reicht aber nicht
aus. Es geht um die Formulierung und Durchsetzung einer neuen Lateiname-
rikapolitik Deutschlands und der Europäischen Union, einer Politik, die auf der
Höhe der Zeit ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die bisherige Politik gegenüber Lateinamerika, die auf Hegemonie und Ausbeu-
tung zielte, endgültig aufzugeben und durch eine neue Politik solidarischer Zu-
sammenarbeit zu ersetzen. In diesem Sinne fordert er die Bundesregierung auf,
darauf hinzuwirken,

1. dass die politischen Diskussionen über eine verstärkte Zusammenarbeit zwi-
schen der Europäischen Union und den Ländern Lateinamerikas zukünftig
offen und öffentlich stattfinden. Die wechselseitigen Angebote und Forde-
rungen aus den kommenden Verhandlungen sind offen zu legen. Die schon in
Kraft befindlichen Abkommen mit Mexiko (1997) und Chile (2002) sind hin-
sichtlich ihrer schichtspezifischen, sozialen, ökologischen, menschenrecht-
lichen, frauenpolitischen und volkswirtschaftlichen Wirkungen in den Part-
nerländern zu evaluieren und die Ergebnisse der Evaluation dem Deutschen
Bundestag schnellstmöglich zur Kenntnis zu geben;

2. dass die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der EU den ge-
genwärtigen Prozess der regionalen Neuordnung Lateinamerikas respektie-

ren, der sich in Abwendung von der Schaffung einer gesamtamerikanischen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/2602

Freihandelszone (ALCA) unter dem Titel ALBA (Alternativa Bolivariana)
vollzieht. Ein solcher Prozess darf nicht durch eine vorherige völkerrecht-
liche Festschreibung neoliberaler Strukturen durch bilaterale Abkommen
zwischen der EU und einzelnen lateinamerikanischen Staatengruppen kon-
terkariert werden;

3. dass die Verhandlungen der Europäischen Kommission mit einzelnen Staaten
und regionalen Zusammenschlüssen Lateinamerikas in Zukunft von uneinge-
schränktem Respekt vor deren Souveränität und Gleichrangigkeit getragen
sein werden. Das gilt besonders für die Verfügung über die eigenen natür-
lichen Reichtümer und für die souveräne Organisation der Daseinsvorsorge
und der öffentlichen Ausschreibungen in den jeweiligen Staaten;

4. dass in den anstehenden Verhandlungen die Interessen der Unternehmen hin-
ter sozialen, ökologischen und menschrechtlichen Standards zurückstehen.
Der Abschluss von Freihandelsabkommen muss von der Agenda der Asso-
ziierungsverhandlungen genommen werden;

5. dass zwischen der Europäischen Union und regionalen Akteuren Lateiname-
rikas eine Regelung zum Abbau der internationalen Schulden der lateiname-
rikanischen Staaten in einer Weise stattfindet, dass von ihnen kein Zwang
mehr zu einem binnenwirtschaftlich, ökologisch und sozial unverträglichen
exzessiven Export ausgeht. Die Bundesregierung ist aufgefordert, in diesem
Sinne für eine gerechte Lösung der Verschuldensproblematik für Lateiname-
rika und darüber hinaus Sorge zu tragen und sich für einen kompletten Schul-
denerlass für die ärmeren und ein Moratorium für die wirtschaftlich stärkeren
Länder Lateinamerikas einzusetzen;

6. dass Verhandlungen über die Handelsaspekte nach dem Gipfel ohne jeden
zeitlichen und politischen Druck fortgeführt werden und dass dabei die nach-
folgend benannten Aspekte beachtet werden, auf deren Umsetzung gegen-
über der Kommission und in den verschiedenen Ratsformationen zu drängen
ist:

a) Die Liberalisierung und Privatisierung der Daseinvorsorge, insbesondere
der Wasserversorgung, der Abwasser- und Abfallentsorgung, der Energie-
versorgung und des öffentlichen Transports dürfen nicht verlangt werden.
Stattdessen sind Angebote zur Unterstützung bei einer effizienteren Ge-
staltung dieser Bereiche zu unterbreiten.

b) Die Zuständigkeit für Regelungen über den Zugang zu und die Ausübung
von Post-, Telekommunikations- und Finanzdienstleistungen sollte bei
den jeweiligen Ländern bzw. bei den regionalen Gemeinschaften verblei-
ben. Allerdings könnte es beiderseitigen Interessen entsprechen, ein
Gleichbehandlungsgebot im Verhältnis zu Inländern zu regeln, wodurch
bestehende staatliche Monopole jedoch nicht berührt würden.

c) Das Thema des geistigen Eigentums darf nicht Bestandteil der Asso-
ziierungsverhandlungen werden. Stattdessen ist das Thema, entsprechend
der brasilianisch-argentinischen Initiative, nur im Rahmen eines einzu-
richtenden ständigen Patentausschusses bei der WIPO (World Intellectual
Property Organization) zu verhandeln.

d) In den Ländern Lateinamerikas müssen die Möglichkeiten zur Durchfüh-
rung von Maßnahmen der Landreform gewährleistet bleiben. Die EU soll
darauf verzichten, von den Mercosur-Staaten die Streichung des Vorbe-
halts zum Schutz der Agrarreform aus dem Investitionsangebot zu for-
dern.

e) Bei den Verhandlungen über Agrarproduktion und Agrarexporte muss das

Ziel der Ernährungssouveränität Vorrang haben vor einer Überschuss-
produktion und einer Ausweitung der Exporte. Das erfordert den Abbau

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von Subventionen beim Agrarexport auf Seiten der EU. Insoweit sind die
Festlegungen bei den WTO-Verhandlungen vom 13. bis 18. Dezember
2005 in Hongkong zu beachten.

f) Grundsätzlich ist dafür Sorge zu tragen, dass die regionale Versorgung
durch kleine und mittlere Unternehmen und deren wirtschaftliche Exis-
tenz durch großvolumige Importe nicht gefährdet werden. Im Gegenteil
muss gestattet werden, dass diese Bereiche durch Importzölle und interne
Stützungsmaßnahmen stabilisiert werden. Das gilt besonders für die klein-
bäuerliche Produktion von Milch und Milchprodukten im Bereich des
Mercosur.

g) Auch im Bereich des produzierenden Gewerbes muss die Möglichkeit er-
halten oder geschaffen werden, neue Produktionszweige aufzubauen bzw.
im Aufbau befindliche – erforderlichenfalls auch mittels Einfuhrbeschrän-
kungen – abzusichern und damit die binnenwirtschaftliche Erschließung
in Lateinamerika zu stützen.

h) Im Zuge der Verhandlungen mit den karibischen AKP-Staaten (Carifo-
rum) über sog. Wirtschaftspartnerschaftsabkommen im Rahmen des Co-
tonou-Prozesses darf der junge karibische Binnenmarkt nicht durch ex-
terne Liberalisierungsforderungen gefährdet werden. Einkunftsverluste
durch Zollsenkungen dürfen nicht ohne adäquate Kompensation herbeige-
führt werden. Die Kompensations- und Adaptionsprogramme für die ka-
ribischen Staaten zur Abmilderung der Folgen der EU-Marktänderungen
für Zucker und Bananen müssen deutlich aufgestockt werden.

i) Der Anbau der traditionellen Nutzpflanze Koka und ihre herkömmliche
Nutzung dürfen nicht behindert werden. Bemühungen, alternative An-
wendungen in der Pharma- und Lebensmittelindustrie zu etablieren, sollen
unterstützt werden. Die Illegalisierung des Anbaus und Handels von
Koka-Blättern ist aufzuheben, damit der Export von z. B. Koka-Tee er-
möglicht wird. Die Illegalität der Verarbeitung und Verbreitung der Droge
Kokain ist hiervon nicht berührt. Anstrengungen, die bäuerliche Land-
wirtschaft zu diversifizieren und damit die Lebens- und Arbeitsgrundla-
gen der Kleinbauern zu verbreitern, sollen unterstützt werden.

j) Es muss insgesamt gewährleistet werden, dass im Kontext der Asso-
ziierungsverhandlungen die ILO-Kernarbeitsnormen ungeschmälert Be-
rücksichtigung finden. Vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen in der
exportorientierten Produktion ist besonders auf die Einhaltung der Ver-
einigungsfreiheit und auf die Beseitigung der geschlechtsbezogenen Dis-
kriminierung zu achten. Das Gleiche gilt für die ILO-Konvention über
indigene und in Stämmen lebende Völker;

7. dass vertragliche Vereinbarungen über eine verstärkte Entwicklungszusam-
menarbeit mit den einzelnen lateinamerikanischen Staaten, insbesondere mit
den Ländern der Karibik, getroffen werden. Die EU-Mitgliedstaaten und ins-
besondere die Bundesregierung sind aufgefordert, die finanziellen Mittel für
die entsprechenden Ausgaben zu erhöhen, damit bilateral und im Rahmen der
Entwicklungszusammenarbeit der EU die Unterstützung für Lateinamerika
und die Karibik verstärkt werden kann. Qualitativ fordert er eine weitgehende
Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit:

a) In Abkehrung von den alten Leitbildern der 90er Jahre muss in der Ent-
wicklungszusammenarbeit die Stärkung der Handlungsfähigkeit der staat-
lichen Verwaltungen zum wichtigen Entwicklungsziel werden, müssen in
diesem Sinne die Verwaltungen der lateinamerikanischen Staaten darin
unterstützt werden, Leistungen der Daseinsvorsorge in eigener Verantwor-

tung effizienter zu erbringen. Die Privatisierung von Vorsorgeunterneh-
men darf nicht länger gefördert werden. Die Beteiligung privater Unter-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/2602

nehmen im Rahmen der Öffentlich-Privaten-Partnerschaft ist sorgfältig
auf einen wirksamen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung zu überprüfen
und gegebenenfalls einzustellen.

b) Programme und Projekte zur Armutsbekämpfung, zur Förderung von Bil-
dung und zur Verbesserung des Gesundheitswesens müssen darauf ausge-
richtet werden, strukturell benachteiligte Gruppen in die Lage zu verset-
zen, ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen. Dabei sollen
bestehende Strukturen der Selbstorganisation gestärkt werden. Die Betrof-
fenen müssen in allen Phasen der Umsetzung Entscheidungsbefugnisse
und Mitwirkungsrechte haben. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in
diesem Zusammenhang die Misiones (Gemeindeprogramme zur medizi-
nischen Versorgung, Alphabetisierung u. a.) in Venezuela als Modell für
dezentrale, partizipative Entwicklungsarbeit.

c) Maßgeblich muss ein neues ökologisches Leitbild in die Entwicklungszu-
sammenarbeit mit Lateinamerika Eingang finden, das die sozialen und
wirtschaftlichen Ursachen von Rodung und anderen Umweltbelastungen
berücksichtigt. In diesem Sinne sind Wiederaufforstungsprogramme mit
Angeboten für alternative Einkommensquellen für die Bewohner und
Nutzer der Primärwälder zu verbinden. Gefordert ist auch eine neue Aus-
richtung der Energiegewinnung und -nutzung. In der Umstellung auf re-
generative Energien können Europa und Lateinamerika eine nachhaltige
Zusammenarbeit entwickeln, die beiden Partnern hilft, ökologische und
soziale Probleme zu überwinden. Dies wäre auch ein Beitrag zu einer
autonomen Energieversorgung.

d) Die Entwicklungszusammenarbeit der EU mit Lateinamerika muss darauf
ausgerichtet sein, diskriminierungsfreie Zugänge zu Bildung und zu einer
effektiven flächendeckenden Gesundheitsvorsorge herzustellen. Im Sinne
der Armutsbekämpfung sind außerdem Schritte zu einer Landreform zu be-
fördern, um die weithin bestehenden sozialen Probleme der Landlosigkeit
einzudämmen, bäuerliche Landwirtschaft und kleinräumige Versorgungs-
kreisläufe zu stützen. Insoweit muss die Sozialbindung des Eigentums Vor-
rang vor einer bindungslosen Nutzung durch Großgrundbesitzer haben;

8. dass die fragwürdige „Europäische Sicherheitspartnerschaft“ nicht in die
Agenda der Assoziierungsverhandlungen aufgenommen und stattdessen in
den Verhandlungen großes Gewicht darauf gelegt wird, wie friedliche Kon-
fliktlösungsmöglichkeiten befördert und Ansätze zu militärischer Interven-
tion zurückgedrängt werden können. Als Beitrag zu einer Friedenslösung in
Kolumbien muss die EU ihre Unterstützung für den „Plan Colombia“ aufge-
ben. Stattdessen sollen die vielfältigen Friedensansätze kolumbianischer
Menschenrechtsgruppen und indigener Bewegungen unterstützt werden.
Nicht die USA, sondern die subregionalen Organisationen sowie die Verein-
ten Nationen müssen bei der Lösung der Konflikte eine wesentliche Rolle
spielen. Auch deshalb erwartet der Deutsche Bundestag neue Vorschläge zur
Stärkung der Vereinten Nationen. Darin sollten die Länder des Südens, auch
Lateinamerikas, größeren Einfluss erhalten;

9. dass mittelfristig ein Ende der UN-Blauhelmmission in Haiti MINUSTAH
(Mission des Nations Unies pour la Stabilisation en Haïti) herbeigeführt und
die volle Souveränität an die haitianische Regierung zurückgegeben wird. Zi-
vile Programme zur Entwaffnung und Auflösung der Banden müssen entwi-
ckelt, legaler und illegaler Waffenimport unterbunden werden. Die neue Re-
gierung ist aktiv beim Aufbau staatlicher Funktionen zu unterstützen. Dabei
müssen die vielfältigen basisdemokratischen Potenziale der haitianischen
Gesellschaft (z. B. der Bauernorganisationen) aufgegriffen werden. Es darf

kein Druck zur Durchsetzung weiterer Privatisierungen und Liberalisierun-
gen aufgebaut werden;

Drucksache 16/2602 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
10. dass Initiativen zur atomaren Abrüstung in Europa, zum Abbau der europä-
ischen Rüstungsexporte nach Lateinamerika und für eine atomwaffenfreie
Zone in Lateinamerika ergriffen werden;

11. dass staatliche Souveränität und demokratische Willensbildung wichtige
Prinzipien im Rahmen der Gespräche über eine Partnerschaft zwischen La-
teinamerika und der Europäischen Union werden und eine deutliche Distan-
zierung von Versuchen erfolgt, demokratisch gewählte Regierungen mit
Gewalt zu stürzen oder solche Umsturzversuche von innen oder außen zu
unterstützen, wie es bei dem Militärputsch gegen den Präsidenten von Ve-
nezuela, Hugo Chavez, geschah. Des Weiteren ist jeglicher Form von Boy-
kott und Blockade in den Beziehungen zu Kuba oder Venezuela eine deut-
lich formulierte Absage zu erteilen. In Konsequenz der Schlusserklärung
des Wiener Gipfels muss eine neue politische Haltung der EU zu Kuba unter
Aufgabe des Gemeinsamen Standpunkts von 1996 eingenommen werden,
wie es auch der Entwicklungsausschuss des Europäischen Parlaments in sei-
nem Bericht vom 30. Mai 2006 (A6-0183/2005) gefordert hat;

12. dass entsprechend der Abschlusserklärung des Gipfeltreffens EU-Latein-
amerika/Karibik künftig darauf verzichtet wird, den lateinamerikanischen
Partnern die eigenen Vorstellungen von einer demokratischen Staats- und
Gesellschaftsordnung aufzudrängen. Vielmehr sollen die neuen Ansätze
partizipativer Demokratie – wie sie in Venezuela in der Verfassung nieder-
gelegt sind und gegenwärtig in Bolivien unter Einbeziehung indigener Or-
ganisationsformen und in den brasilianischen Beteiligungshaushalten ent-
wickelt und praktiziert werden – zum Anlass für eine Diskussion über mehr
Demokratie in unserer Gesellschaft genommen werden.

Berlin, den 18. September 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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