BT-Drucksache 16/2576

Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur

Vom 31. August 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2576
16. Wahlperiode 31. 08. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Dr. Lothar Bisky, Bodo Ramelow, Frank Spieth, Cornelia Hirsch, Kersten Naumann
und der Fraktion DIE LINKE.

Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur

Es gibt eine Reihe besorgniserregender Vorgänge, bei denen Regierungsver-
treter vor allem das Gedenken an deutsche Opfer von Flucht und Vertreibung in
den Vordergrund gestellt haben. Die abschlägigen Antworten (u. a. Bundestags-
drucksache 16/2423) der Bundesregierung auf alle Anfragen der Fraktion DIE
LINKE. nach Entschädigungen für vergessene Opfer des Faschismus erwecken
den Eindruck, sie wolle einen Schlussstrich unter die Geschichte des Faschismus
ziehen. Gleichzeitig werden die Vertriebenenverbände und ihre Anliegen von
der Bundesregierung wohlwollend gefördert und finanziell unterstützt.

Der stellvertretende Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Hermann
Schäfer, hält anlässlich der Eröffnung des Weimarer Kunstfestes zum Thema
„Gedächtnis Buchenwald“ eine Rede über Flucht und Vertreibung, ohne auf die
Opfer des deutschen Faschismus einzugehen.

Die umstrittene Ausstellung „Erzwungene Wege – Flucht und Vertreibung im
Europa des 20. Jahrhunderts“ in Berlin können die Besucher mit dem Eindruck
verlassen, der Holocaust sei nur eine Schandtat unter vielen gewesen. So kommt
Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, in einer
Betrachtung über die Ausstellung zu dem Schluss: „Mit dieser vermeintlichen
Europäisierung des deutschen Vertreibungsschicksals will sie doch nur eines er-
reichen: die Vertreibung der Deutschen in eine Reihe mit wirklichen Genoziden
zu stellen wie dem an den Armeniern oder gar der Judenvernichtung.“ (Zitiert
nach DIE WELT, 6. August 2006, http://www.wams.de/data/2006/08/06/
987872.html). Dennoch wird die vom Bund der Vertriebenen verantwortete
Ausstellung vom Kulturstaatsminister Bernd Neumann als ein Baustein für ein
öffentliches Zeichen zum Thema Vertreibung bewertet.

Das Bundesministerium des Innern weist die Stiftung des Mahnmals für die
ermordeten Jüdinnen und Juden an, zum Gedenken an die deutschen Vertriebenen
die Nationalflagge zu zeigen. Das Bundesministerium des Innern hatte, wie schon
in den Vorjahren, für den vor allem vom Bund der Vertriebenen veranstalteten
Tag der Heimat die Beflaggung aller Dienstgebäude des Bundes und aller nach-
geordneten Einrichtungen angeordnet. Das zuständige Referat des Kulturstaats-

ministers hatte daraufhin am 16. August 2006 erstmals auch zentrale NS- Gedenk-
stätten aufgefordert, dem nachzukommen, darunter auch die KZ- Gedenkstätten
Buchenwald und Sachsenhausen und das Holocaust-Mahnmal.

Die bisherigen Erklärungen und Entschuldigungen zu diesen Vorgängen über-
zeugen nicht. Nicht nur die Fraktion DIE LINKE. fragt sich, ob mit diesen
Fällen eine geschichtspolitische Wende der Bundesregierung zum Ausdruck ge-
bracht wird, indem nicht länger die Erinnerung an die Opfer von Vernichtungs-

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krieg, Holocaust und faschistischer Gewaltherrschaft im Zentrum deutscher
Erinnerungskultur steht, sondern die Erinnerung an die deutschen Opfer von
Flucht und Vertreibung.

Es fällt schwer, nur an eine unglückliche Verkettung von Zufällen und Irrtümern
zu glauben. Zumal es in den vergangenen Monaten weitere irritierende Ereignis-
se gegeben hat. So hatte der stellvertretende Bundesbeauftragte für Kultur und
Medien, Hermann Schäfer, schon im Mai dieses Jahres das vom Ministerium in
Auftrag gegebene historische Gutachten der Sabrow-Kommission abgewertet
und damit für einen Eklat im Rahmen der Bundespressekonferenz gesorgt.

Aus Sicht der Fragesteller ist es klärungsbedürftig, ob und inwieweit die Bun-
desregierung eine Revision des Geschichtsbildes betreibt und die Schrecken von
Flucht und Vertreibung instrumentalisiert, um damit die Erinnerung an die Nazi-
Verbrechen zu überlagern.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die Rede des stellvertretenden Kultur-
staatsministers Hermann Schäfer zur Eröffnung des Kunstfestes in Weimar?

Teilt sie die Kritik an dieser Rede, die u. a. von der Leiterin des Kunstfestes,
Nike Wagner und dem Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge,
vorgebracht wurde?

2. Welche inhaltlichen und personellen Konsequenzen zieht die Bundesregie-
rung aus den genannten Vorgängen?

3. Will die Bundesregierung eine neue erinnerungspolitische Schwerpunkt-
setzung vornehmen?

Wenn ja, wie soll diese aussehen?

Wenn nein, wie begründet die Bundesregierung den oben dargelegten ver-
stärkten Bezug auf das Thema der deutschen Opfer von Flucht und Vertrei-
bung?

4. Wie will die Bundesregierung das Verhältnis von individueller Opfererfah-
rung und den historischen Gründen für Flucht und Vertreibung der Deutschen
nach dem 8. Mai 1945 bei der Erinnerung an dieses Geschehen gewichten?

Wie bewertet die Bundesregierung dieses Verhältnis in den Ausstellungen
„Flucht, Vertreibung, Integration“ und „Erzwungene Wege“?

5. Sieht die Bundesregierung in der Ausstellung „Erzwungene Wege“ einen
Beitrag zur Verständigung und Aussöhnung mit unseren östlichen Nachbarn
und zur Einigung Europas, und wenn ja, wie bewertet sie in diesem Zusam-
menhang die zahlreichen Proteste und kritischen Reaktionen in Polen und der
Tschechischen Republik?

6. Teilt die Bundesregierung die in der Charta der Heimatvertriebenen – die bis
heute als zentrales Dokument der Vertriebenen angesehen wird – enthaltene
historische Einschätzung, die Heimatvertriebenen seien die „vom Leid dieser
Zeit am schwersten Betroffenen“?

Wenn ja, wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, wenn nein,
warum teilt sie diese nicht und welche Folgerungen zieht die Bundesregierung
hieraus?

Berlin, den 31. August 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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