BT-Drucksache 16/2553

Individuelle und kollektive Glaubensfreiheit in der Türkei

Vom 7. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2553
16. Wahlperiode 07. 09. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Josef Philip Winkler,
Marieluise Beck (Bremen), Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Individuelle und kollektive Glaubensfreiheit in der Türkei

Religionsfreiheit in der Türkei ist für viele Glaubensgemeinschaften, z. B.
Aleviten, Schiiten, Christen, Juden und Baha’i, nicht vollständig gewährleistet.

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist in Artikel 18 die Reli-
gionsfreiheit verankert. Es heißt dort: „Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedan-
ken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine
Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Reli-
gion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der
Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Voll-
ziehung von Riten zu bekunden.“

Die Sicherung individueller und kollektiver Religionsfreiheit sowie kultureller
und sozialer Integration bilden einen komplexen Zusammenhang, der im Sinne
des sozialen Friedens politische, rechtliche und gesellschaftliche Aufmerksam-
keit (z. B. im Bildungssektor) erfordert. Wird das Religiöse aus dem öffentli-
chen Raum von Staats wegen ausgegrenzt, verstößt dies gegen die Religionsfrei-
heit. Denn die Religionsfreiheit umfasst immer auch das öffentliche Bekenntnis
bzw. das öffentliche Wirken der Religionsgemeinschaften. Die Religionsfreiheit
ist nicht nur ein individuelles, sondern zugleich ein kollektives Freiheitsrecht der
Menschen.

Ihre Verfassung bestimmt die Türkei als laizistischen Staat. Artikel 24 garantiert
die Religionsfreiheit und räumt allen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern unab-
hängig von ihrem religiösen Bekenntnis die gleichen Rechte ein. Gleichzeitig
wird die Tätigkeit der Religionsgemeinschaften staatlicher Kontrolle unterstellt.
Dies erfolgt durch das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten. Durch dieses
erfährt der sunnitische Islam staatliche Förderung im Sinne seiner Stärkung (und
seiner Kontrolle) als eine wichtige Grundlage türkischer nationaler Identität.
Durch das Präsidium erfolgt u. a. die staatliche Besoldung der muslimischen
Geistlichen und die Kontrolle des 1982 wieder eingeführten islamischen Reli-
gionsunterrichts.

Neben der sunnitisch-muslimischen Bevölkerungsmehrheit gibt es in der Türkei

zahlreiche religiöse Minderheiten: geschätzte 15 bis 20 Millionen Aleviten („he-
terodox“-islamisch) sowie eine geringe Zahl von Imamiten (»Zwölferschiiten«);
100 000 bis 150 000 Bürger, die sich zu einer der christlichen Kirchen, vorwie-
gend zu katholischen Ostkirchen und orientalischen Nationalkirchen, bekennen;
zudem etwa 25 000 Juden, 10 000 Baha’i und 5 000 Jeziden. Diesen Religions-
gemeinschaften wird die Gleichberechtigung mit dem sunnitischen Islam ver-
weigert.

Drucksache 16/2553 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit ist nach Kenntnis der Bundesregierung das Recht auf individuelle
Glaubensfreiheit in der Türkei gewährleistet?

Ist die Freiheit des öffentlichen Bekenntnisses gegeben?

2. Ist nach Kenntnis der Bundesregierung das Recht, die Religion zu wechseln,
seitens des türkischen Staates verwirklicht, und, wenn nicht, für welche
Bevölkerungsgruppen nicht?

Inwiefern bestehen zwischen sunnitischem Islam und religiösen Minderhei-
ten Unterschiede in Bezug auf die rechtliche Regelung bezüglich des Mis-
sionierens?

3. Werden nach Kenntnis der Bundesregierung Personen aufgrund ihrer Reli-
gionszugehörigkeit in der Türkei staatlich diskriminiert?

Wenn ja, wie äußert sich das für Angehörige der verschiedenen Religions-
gemeinschaften?

4. Wie ausgeprägt ist nach Kenntnis der Bundesregierung die gesellschaftliche
Diskriminierung religiöser Minderheiten?

Was unternimmt der türkische Staat zum Schutz von Angehörigen betroffe-
ner Minderheiten bzw. der Gruppen als Ganze?

5. Welche Rechte genießen nach Kenntnis der Bundesregierung die minori-
tären Religionsgemeinschaften in der Türkei (Juden, Christen, Aleviten,
Schiiten, Baha’i u. a.) im Vergleich zur sunnitischen Gemeinschaft?

Werden nach Kenntnis der Bundesregierung konkrete Schritte geplant, um
die Rechtslage für minoritäre Religionsgemeinschaften anzugleichen/zu
verbessern?

6. Wird nach Kenntnis der Bundesregierung den minoritären Religions-
gemeinschaften durch den türkischen Staat ein öffentlich-rechtlicher Status
zuerkannt?

Wenn nein, welchen Rechtsstatus haben sie, und wie unterscheidet sich
dieser vom Rechtsstatus des sunnitischen Islam?

7. Haben minoritäre Religionsgemeinschaften in der Türkei mittlerweile das
Recht, Eigentum zu erwerben, zu besitzen und Gotteshäuser zu errichten?

Welchen Religionsgemeinschaften werden nach Kenntnis der Bundesregie-
rung diese Rechte in welchem Ausmaß verweigert?

8. Inwieweit ist es den jeweiligen Religionsgemeinschaften in der Türkei
erlaubt Geistliche auszubilden?

Unter welchen Bedingungen können nach Kenntnis der Bundesregierung
im Ausland ausgebildete Geistliche ihre Funktion für Religionsgemein-
schaften in der Türkei wahrnehmen?

9. Inwieweit ist es den Religionsgemeinschaften erlaubt, eigene Schulen zu
betreiben?

Welchen Religionsgemeinschaften wird das verwehrt?

10. Haben religiöse Minderheiten nach Kenntnis der Bundesregierung in der
Türkei das Recht, ihre religiösen Feste öffentlich zu feiern bzw. allgemein
öffentlich ungehindert auftreten zu können?

11. Wie ist die Einschätzung der Bundesregierung bezüglich der weiteren Ent-
wicklung der Verwirklichung der Glaubensfreiheit in der Türkei, insbe-

sondere für Angehörige religiöser Minderheiten?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2553

12. Inwieweit ist das Tragen des Kopftuchs in der Türkei im öffentlichen Raum
untersagt?

Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für Frauen, die sich für das Tra-
gen des Kopftuches entscheiden?

Wie beurteilt die Bundesregierung diese Sachlage?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung die Rolle der Armee in Bezug auf Re-
formen zur Verbesserung der Verwirklichung der Religionsfreiheit in der
Türkei?

14. Inwiefern wird in den EU-Beitrittsverhandlungen die Frage der individuel-
len und kollektiven Glaubensfreiheit thematisiert?

15. Was tut die Bundesregierung, um auf eine Verbesserung der Verwirklichung
der individuellen und kollektiven Glaubensfreiheit in der Türkei hinzu-
wirken?

Welche Schritte unternimmt die Bundesregierung, um auf die relevanten
Entscheidungsträger in der Türkei einzuwirken, die Verwirklichung dieses
Menschenrechts zu gewährleisten?

Inwiefern wird diese Problematik bei Gesprächen/Konsultationen mit Ver-
tretern von türkischen Institutionen thematisiert?

16. Welche Stellungnahmen islamischer Organisationen in Deutschland sind
der Bundesregierung bekannt, die sich für eine umfassende individuelle und
kollektive Wahrung des Menschenrechts auf Glaubensfreiheit gegenüber
der Türkei einsetzen und die Gleichberechtigung aller Religionsgemein-
schaften anmahnen?

Beurteilt die Bundesregierung diese Aussagen als ausreichend oder hält sie
weitergehende Stellungnahmen für wünschenswert?

Berlin, den 6. September 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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